Lektüre – Das Marmorbild

Thema:
Joseph von Eichendorff (* 1788 - † 1973): Das Marmorbild (1857)
Aufgabenstellung:
  • Beschreibe die beiden Darstellungen der Venus.
  • Interpretiere die vorliegende Textstelle und erläutere, welche Rolle die Figur der Venus im weiteren Verlauf der Handlung für den Protagonisten Florio spielt.
Material 1, 2
Zwei Darstellungen der Venus
Material 3
Das Marmorbild (1818)
Joseph von Eichendorff
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[...] Er mußte über sich selber lachen, da er am Ende nicht wußte, wem er das Ständchen
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brachte. Denn die reizende Kleine mit dem Blumenkranze war es lange nicht mehr, die
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er eigentlich meinte. Die Musik bei den Zelten, den Traum auf seinem Zimmer und
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sein, die Klänge und den Traum und die zierliche Erscheinung des Mädchens nach-
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räumendes Herz hatte ihr Bild unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel
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schöneres, größeres und herrlicheres, wie er es noch nirgend gesehen.
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So in Gedanken schritt er noch lange fort, als er unerwartet bei einem großen, von
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hohen Bäumen rings umgebenen Weiher anlangte. Der Mond, der eben über die Wipfel
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trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem
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Steine stand, als wäre die Göttin soeben erst aus den Wellen aufgetaucht, und betrachte
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nun, selber verzaubert, das Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene Wasserspiegel
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zwischen den leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte. Einige
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Schwäne beschrieben still ihre einförmigen Kreise um das Bild, ein leises Rauschen
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ging durch die Bäume ringsumher.
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Florio stand wie eingewurzelt im Schauen, denn ihm kam jenes Bild wie eine langge-
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suchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlings-
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dämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. Je län-
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ger er hinsah, je mehr schien es ihm, als schlüge es die seelenvollen Augen langsam
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auf, als wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein lieblicher
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Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf. Er hielt die Augen lange ge-
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schlossen vor Blendung, Wehmut und Entzücken. –
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Als er wieder aufblickte, schien auf einmal alles wie verwandelt. Der Mond sah seltsam
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zwischen Wolken hervor, ein stärkerer Wind kräuselte den Weiher in trübe Wellen, das
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Venusbild, so fürchterlich weiß und regungslos, sah ihn fast schreckhalt mit den stei-
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nernen Augenhöhlen aus der grenzenlosen Stille an. Ein nie gefühltes Grausen überfiel
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da den Jüngling. Er verließ schnell den Ort, und immer schneller und Ohne auszuruhen
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eilte er durch die Gärten und Weinberge wieder fort, der ruhigen Stadt zu; denn auch
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das Rauschen der Bäume kam ihm nun wie ein verständiges vernehmliches Geflüster
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vor, und die langen gespenstischen Pappeln schienen mit ihren weitgestreckten Schat-
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ten hinter ihm dreinzulangen.
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So kam er sichtbar verstört in der Herberge an. Da lag der Schlafende noch auf der
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Schwelle und fuhr erschrocken auf, als Florio an ihm vorüberstreifte. Florio aber
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schlug schnell die Türe hinter sich zu und atmete erst tief auf, als er oben sein Zimmer
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betrat. Hier ging er noch lange auf und nieder, ehe er sich beruhigte. Dann warf er sich
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aufs Bett und schlummerte endlich unter den seltsamsten Träumen ein. [...]

Aus: Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, Reclam 1987 (Universalbibliothek 2365), S. 16-18.

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