Lektüre – Leben des Galilei
Thema: Bertolt Brecht (* 1898 - † 1956): Leben des Galilei (1943) Aufgabenstellung:
- Gib eine kurze Inhaltsangabe des Textauszugs.
- Erkläre die Bedeutung der Eingangsszene und stelle einen Zusammenhang zur Schlussszene des Stücks her.
- Beschreibe, wie sich das Verhältnis zwischen Galilei und Andrea im Verlauf des Stücks verändert.
1
Galileo Galilei, Lehrer der Mathematik zu Padua, will das neue kopernikanische Welt-
2
system beweisen.
3
In dem Jahr sechzehnhunderteinsundneun
4
Schien das Licht des Wissens hell
5
Zu Padua aus einem kleinen Haus.
6
Galileo Galilei rechnete aus:
7
Die Sonn steht still, die Erd kommt von der Stell.
8
Das ärmliche Studierzimmer des Galilei in Padua. Es ist morgens. Ein Knabe, Andrea,
9
der Sohn der Haushälterin, bringt ein Glas Milch und einen Wecken.
10
GALILEI: sich den Oberkörper waschend, prustend und fröhlich: Stell die Milch auf
11
den Tisch, aber klapp kein Buch zu.
12
ANDREA: Mutter sagt, wir müssen den Milchmann bezahlen. Sonst macht er bald einen
13
Kreis um unser Haus, Herr Galilei.
14
GALILEI: Es heißt: er beschreibt einen Kreis, Andrea.
15
ANDREA: Wie Sie wollen. Wenn wir nicht bezahlen, dann beschreibt er einen Kreis um
16
uns, Herr Galilei.
17
GALILEI: Während der Gerichtsvollzieher, Herr Cambione, schnurgerade auf uns zu-
18
kommt, indem er was für eine Strecke zwischen zwei Punkten wählt?
19
ANDREA: (grinsend) Die kürzeste.
20
GALILEI: Gut. Ich habe was für dich. Sieh hinter den Sterntafeln nach.
21
Andrea fischt hinter den Sterntafeln ein großes hölzernes Modell des ptolemäischen
22
Systems hervor.
23
ANDREA: Was ist das?
24
GALILEI: Das ist ein Astrolab; das Ding zeigt, wie sich die Gestirne um die Erde bewegen, nach Ansicht der Alten.
25
bewegen, nach Ansicht der Alten.
26
ANDREA: Wie?
27
GALILEI: Untersuchen wir es. Zuerst das erste: Beschreibung.
28
ANDREA: In der Mitte ist ein kleiner Stein.
29
GALILEI: Das ist die Erde.
30
ANDREA: Drum herum sind, immer übereinander, Schalen.
31
GALILEI: Wie viele?
32
ANDREA: Acht.
33
GALILEI: Das sind die kristallnen Sphären.
34
ANDREA: Auf den Schalen sind Kugeln angemacht ...
35
GALILEI: Die Gestirne.
36
ANDREA: Da sind Bänder, auf die sind Wörter gemalt.
37
GALILEI: Was für Wörter?
38
ANDREA: Sternnamen.
39
GALILEI: Als wie?
40
ANDREA: Die unterste Kugel ist der Mond, steht drauf. Und darüber ist die Sonne.
41
GALILEI: Und jetzt laß die Sonne laufen.
42
[...]
Aus: Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. Text und Kommentar. Suhrkamp 1998, S 9 f.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?
Hier geht's zur Lektürehilfe Leben des Galilei
Teilaufgabe 1
- Der Textauszug aus Leben des Galilei von Bertolt Brecht zeigt eine Alltagsszene zwischen Galileo Galilei und Andrea, dem Sohn seiner Haushälterin. Die Szene spielt in Galileis bescheidenem Studierzimmer in Padua im Jahr 1609, das als Schauplatz sowohl seine finanzielle Notlage als auch seine Hingabe an die Wissenschaft verdeutlicht. Die Szene beginnt damit, dass Andrea ein Glas Milch und einen Wecken bringt (Vgl. Z. 8–9), während Galilei humorvoll eine Diskussion mit ihm über Wissenschaft und Sprache führt. Ein Beispiel dafür ist die Korrektur, dass der Milchmann einen Kreis „beschreibt“ (Z. 15) und nicht einfach macht.
- Galilei zeigt Andrea ein Modell des ptolemäischen Weltbilds, das die damals verbreitete Auffassung darstellt, dass sich alle Himmelskörper um die Erde bewegen (Vgl. Z. 20–24). Andrea untersucht das Modell und beschreibt die Erde als kleinen Stein in der Mitte sowie die umgebenden „Schalen“ (Z. 30) und „Gestirne“ (Z. 35). Dabei erläutert Galilei anschaulich die alten Vorstellungen von der Himmelsmechanik. Die Szene endet mit der Aufforderung, die Bewegung der Sonne im Modell zu demonstrieren (Vgl. Z. 40–41).
- Der Textauszug zeigt Galileis Begeisterung für die Wissenschaft und seine Fähigkeit, Andrea für astronomische Themen zu gewinnen. Die dialogische Struktur (Vgl. Z. 17 f., 31, 37, 39) betont die Beziehung zwischen Galilei und Andrea. Galilei wird als ein Lehrer dargestellt, der nicht autoritär Wissen vermittelt, sondern auf Dialog und Verständnis setzt. Andrea hingegen wird als neugieriger und lernbereiter Schüler charakterisiert, der durch die Konfrontation mit neuen Ideen geistig herausgefordert wird.
Teilaufgabe 2
- Die Eingangsszene hat eine zentrale Funktion, da sie die Grundzüge von Galileis Charakter und die Thematik des Stückes einführt. Galilei wird als optimistischer, humorvoller und lehrender Wissenschaftler dargestellt, der sich der Wahrheitssuche verschrieben hat. Er vermittelt Andrea Wissen mit spielerischer Leichtigkeit und Begeisterung. Die Darstellung des ptolemäischen Weltbilds symbolisiert den veralteten Zustand der Wissenschaft, den Galilei durch seine Forschung überwinden möchte (Vgl. Z. 20–24). Galilei wird hier als ein Vertreter der „neuen Zeit“ dargestellt, der die alten, kirchlich geprägten Vorstellungen infrage stellt und Andrea anleitet, sich ebenfalls kritisch mit etablierten Theorien auseinanderzusetzen.
- Im Kontrast dazu steht die Schlussszene, in der Galilei unter dem Druck der Inquisition gezwungen wurde, seine Erkenntnisse öffentlich zu widerrufen. Die Hoffnung und der Optimismus der Eingangsszene weichen Resignation und innerem Konflikt. Andrea, der einst begeisterte Schüler, ist von Galileis Widerruf enttäuscht, wie deutlich wird, wenn er Galilei als Verräter an der Wissenschaft sieht. Dennoch erkennt Andrea später, dass Galileis heimlich weitergegebene Manuskripte ein Akt des Widerstands waren, wodurch seine Lehren doch verbreitet werden können.
- Die Verbindung zwischen der Eingangsszene und der Schlussszene liegt in der zentralen Frage des Stücks: Wie kann wissenschaftliche Wahrheit in einer von Macht und Unterdrückung bestimmten Welt bestehen? Während die Eingangsszene die Hoffnung auf Wissen und Fortschritt betont, zeigt die Schlussszene die Opfer, die dafür gebracht werden müssen.
- Ein zentrales Motiv, das die erste und letzte Szene verbindet, ist das „Sehen“ als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis. In der ersten Szene betont Galilei, dass Wissenschaft vom Glauben dadurch unterscheidbar ist, dass sie auf Beobachtung und Zweifel basiert: „Denn wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel. Alle Welt sagt: ja, das steht in den Büchern, aber laßt uns jetzt selbst sehn“ (S. 11). Dieses Motiv greift Andrea in der letzten Szene auf, als er das Publikum und die Jungen auffordert, „die Augen aufzumachen“ (S. 133).
- Andreas Schlussworte – „Wir stehen wirklich erst am Beginn“ (S. 133) – verdeutlichen die unabschließbare Natur des Erkenntnisprozesses. Damit schließt Brecht das Drama mit einer Lehre für das Publikum: Wissenschaftlicher Fortschritt ist ein kontinuierlicher, niemals abgeschlossener Prozess, der die aktive Auseinandersetzung mit neuen Erkenntnissen erfordert.
Teilaufgabe 3
- Das Verhältnis von Galilei und Andrea entwickelt sich im Laufe des Stückes deutlich weiter und spiegelt zugleich zentrale Konflikte und Entwicklungen wider.
- Lehrer-Schüler-Verhältnis (Eingangsszene): Zu Beginn des Dramas ist Andrea ein wissbegieriger Junge, der Galilei bewundert. Galilei nimmt die Rolle eines Mentors ein und vermittelt Andrea die Prinzipien der Wissenschaft. In der ersten Szene erklärt er Andrea das heliozentrische Weltbild, wobei er seine pädagogischen Fähigkeiten unter Beweis stellt (Vgl. Z. 20-28). Galilei bringt Andrea spielerisch, aber fundiert die Grundlagen der Astronomie nahe. Dabei betont er die Bedeutung des „Sehens“ als Instrument der Erkenntnis, was Andrea tief beeindruckt und in ihm den Wunsch weckt, selbst Physiker zu werden.
- Partnerschaftliche Zusammenarbeit: Im Verlauf des Stücks wird Andrea zu einem engeren Vertrauten und Assistenten Galileis. In der 4. Szene zeigt sich, dass Andrea beginnt, Galileis Lehren selbstständig anzuwenden: Er erklärt dem neunjährigen Großherzog Cosmo die Vorzüge des neuen Weltbilds gegenüber dem alten ptolemäischen (Vgl. S. 43). Dabei verwendet er Galileis Worte und Methoden, allerdings ohne Erfolg. Trotz dieses Misserfolgs demonstriert Andrea, wie stark er von Galileis Unterricht profitiert hat. Ihre Verbundenheit wird in der 5. Szene besonders deutlich, als sie gemeinsam den Gefahren der Pest trotzen, um die wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. Andrea hat sich in dieser Zeit zu einem kompetenten Assistenten entwickelt, der Galileis Methoden praktisch anwendet. In der 9. Szene wird er als einer von Galileis drei „Schülern“ gezeigt, neben Federzoni und dem kleinen Mönch. Er beherrscht die Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit und demonstriert dies bei den Experimenten.
- Enttäuschung durch Galileis Widerruf: Ein entscheidender Wendepunkt in der Beziehung ist Galileis Widerruf seiner Lehren in der 13. Szene. Andrea, der bis dahin ein treuer und bewundernder Schüler war, zeigt sich emotional tief enttäuscht und empfindet Galileis Handeln als Verrat an der Wissenschaft und an den gemeinsamen Idealen (Vgl. S. 111, S. 115). In dieser Szene wird Andreas Konsequenz als Anhänger der Wissenschaft deutlich, da er fest daran glaubt, dass Galilei niemals widerrufen würde.
- Neubewertung und Übernahme der Verantwortung (Schlussszene) In der vorletzten Szene begegnen sich Galilei und Andrea ein letztes Mal. Andrea entschuldigt Galileis Verhalten als „menschliche Schwäche“ und relativiert dessen Bedeutung für die Wissenschaft (Vgl. S. 126). Galilei hingegen verurteilt sich selbst scharf und bezeichnet sich als Verräter an der Wissenschaft: „Ich habe meinen Beruf verraten“ (S. 128). Er sieht seine Handlung als unentschuldbar und glaubt, dass ein Wissenschaftler, der so handelt wie er, nicht mehr Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft sein kann. In der Schlussszene wird Andrea jedoch zum Nachfolger Galileis. Er schmuggelt die Discorsi über die Grenze und übernimmt damit nicht nur die Rolle des Verbreiters, sondern auch die Verantwortung, Galileis wissenschaftliches Werk weiterzuführen. Obwohl er Galileis Widerruf zunächst verurteilte, erkennt Andrea später die Bedeutung der Discorsi und erklärt: „Dies ändert alles. Alles.“ (S. 124). Diese Einschätzung zeigt, dass Andrea Galilei trotz seiner Selbstkritik wieder als Vorbild sehen kann.
- Bedeutung für das Drama: Das Verhältnis zwischen Galilei und Andrea bildet einen Spannungsbogen, der zentrale Themen des Dramas aufgreift: den Konflikt zwischen wissenschaftlichem Fortschritt, persönlicher Verantwortung und den Zwängen der Macht. Die Eingangsszene und die Schlussszene betonen die Entwicklung von Andrea vom Schüler zum unabhängigen Denker. Gleichzeitig bleibt Galilei eine ambivalente Figur – einerseits Lehrer und inspirierendes Vorbild, andererseits ein Mensch, der unter Druck seine Ideale verrät. Andrea wächst im Verlauf des Stücks über die Enttäuschung hinaus und erkennt schließlich, dass Galileis wissenschaftliches Vermächtnis von größerer Bedeutung ist als dessen persönliches Versagen. Damit schließt das Stück mit einer Botschaft über die Bedeutung kontinuierlicher Entwicklung und die Verantwortung, wissenschaftliche Erkenntnisse für die Gesellschaft weiterzutragen.
Fazit
- Das Verhältnis zwischen Galilei und Andrea durchläuft im Verlauf des Dramas eine tiefgreifende Veränderung. Zu Beginn wird Galilei als positiv gezeichneter Wissenschaftler dargestellt, der Andrea als wissbegierigen Schüler inspiriert. Im Laufe der Handlung entwickelt sich jedoch ein ambivalentes Bild: Am Ende wird Galilei von Brecht kritisch als verantwortungslos und als Verräter an der Wissenschaft dargestellt (Vgl. S. 128).
- Diese Einschätzung von Galileis Verhalten am Ende des Stücks gewinnt an Gewicht, wenn man sie mit seiner Handlungsmaxime aus der 8. Szene vergleicht. Im Gespräch mit dem Kleinen Mönch betont Galilei dort die Notwendigkeit, für neue wissenschaftliche Einsichten zu kämpfen, selbst gegen Widerstände wie die Vorstellungen der Kirche (Vgl. S. 80).
- Andrea hingegen interpretiert Galileis wissenschaftliche Leistung anders: Für ihn ist die Fertigstellung der Discorsi von entscheidender Bedeutung, da sie den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht. Andrea sieht darin die Grundlage für seine eigene Arbeit als Physiker, mit der er Galileis Erkenntnisse fortführt und zu Veränderungen im gesellschaftlichen Leben beiträgt.
- Durch diese Gegenüberstellung von Galileis Selbstverurteilung und Andreas Perspektive thematisiert Brecht die komplexe Verantwortung der Wissenschaft und zeigt, wie unterschiedliche Positionen zur Bewertung von Galileis Handeln führen können.