Lektüre – Corpus Delicti

Thema:
Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti (2009)
Aufgabenstellung:
  • Deute die vorliegende Textstelle aus Juli Zehs Roman im Zusammenhang der gesamten Romanhandlung.
  • Setze dich kritisch mit Juli Zehs Interpretation der Zaunreiterin-Metapher auseinander.
Material 1
Corpus Delicti (2009)
Juli Zeh
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„Weißt du, was eine Hexe ist, Mia?"
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Überrascht hebt die Angesprochene den Kopf und muss sich anstrengen, um ihre Kon-
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zentration auf den neuen Begriff zu richten.
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„Eine Hexe, mit Buckel und Besen? Die im Backofen oder auf dem Scheiterhaufen
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endet?"
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„Das Wort kommt von Hagazussa. Die Hexe ist ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf
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Zäunen lebt. Der Besen war ursprünglich eine gegabelte Zaunstange."
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„Was hat das mit mir zu tun?"
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„Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze
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zwischen Zivilisation und Wildnis. Zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod.
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Körper und Geist. Zwischen Ja und Nein, Glaube und Atheismus. Sie weiß nicht, zu
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welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen. Erinnert dich das an jeman-
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den?"
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Darauf erwidert Mia nichts. Sie steigt vom Hometrainer und stellt sich ans Fenster. Ein
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Vogel ist im Blumenkasten gelandet, pickt enttäuscht an den künstlichen Blüten und
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sieht Mia vorwurfsvoll an, bevor er davonfliegt.
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„Wer keine Seite wählt", sagt die ideale Geliebte, ist ein Außensei-
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ter. Und Außenseiter leben gefährlich. Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke
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unter Beweis zu stellen. Besonders, wenn im Inneren der Glaube wackelt. Außenseiter
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eignen sich, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Sie sind Fallobst"
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„Ich bin doch keine Außenseiterin", sagt Mia schwach.
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„Tief in deinem Herzen bist du der Meinung, dass der Umgang mit anderen Menschen
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Zeitverschwendung ist. Mit wenigen Ausnahmen, von denen die eine Hälfte tot und
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die andere dein Todfeind ist. Das reicht fürs Außenseitertum."

Aus: Juli Zeh: Corpus Delicti btb-Verlag. München 2010, S. 143 ff.
Material 2
Fragen zu Corpus Delicti
Juli Zeh
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Es gibt ein Kapitel mit dem Titel „Zaunreiterin“. Was muss man sich darunter
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vorstellen?
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Aus der Sicht der idealen Geliebten ist auch Mia eine solche Grenzgängerin. Sie wan-
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delt zwischen Körper und Geist, zwischen Ja und Nein, zwischen Glaube und Atheis-
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mus. Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen. Damit
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wird sie zu einer Außenseiterin und zu einer gefährdeten Figur. Hier wird ein wichtiges
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Hintergrundthema von Corpus Delicti angerissen. Es geht um eine Frage, die in allen
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meinen Texten eine Rolle spielt: Wie soll sich der moderne Mensch, der sich weitest-
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gehend von Religion und anderen Wahrheitssystemen verabschiedet hat, überhaupt
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noch für etwas entscheiden? Kann man aus sich selbst heraus, aus der Individualität,
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überhaupt Gültigkeiten entwickeln? Oder sind wir als säkularisierte Einzelwesen dazu
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verurteilt, als Zaunreiter zu leben. Nicht zu wissen, wohin wir gehören, Unsicherheit
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zu empfinden und auf diese Weise den gesellschaftlichen Frieden immer weiter zu
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gefährden? [...] Deshalb ist die Hexe in der Funktion als Zaunreiterin eine wichtige
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Figur für mich. Sie steht nicht nur für Mia Holl als potenzielle Staatsfeindin und Opfer
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einer Hexenjagd. Sie steht auch für die geistige Situation des postreligiösen Menschen
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im 21. Jahrhundert.

Aus: Juli Zeh: Corpus Delicti btb-Verlag. München 2010, S. 143 ff.

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