Kurzprosa – Zirkuswesen
Thema: Günter Kunert (* 1974): Zirkuswesen (1965) Aufgabenstellung:
- Gib eine kurze Inhaltsangabe der Erzählung.
- Untersuche, wie sich die Handlung entwickelt und welche Figuren beteiligt sind. Achte dabei besonders auf die Sprache und deren Wirkung.
- Deute das Textgeschehen im gesellschaftspolitischen Kontext.
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Kaum hatte die Vorstellung begonnen, ertönte ein einstimmiger Entsetzensschrei des
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Publikums: Der Dompteur war über seinen schönsten Königstiger hergefallen und
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hatte sich in dessen Nacken verbissen. Als sich die Besucher hastig aus dem Zelt dräng-
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ten, gab das Tier schon kein Lebenszeichen mehr von sich. Die anderen Gefleckten,
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Gestreiften und Geringelten preßten sich mit eingezogenen Schwänzen ans Gitter und
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heulten auf, als sich der Dompteur erhob, um sich auf die Tür des Käfigs zu stürzen,
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in der er seine Attraktion vorführte.
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Die metallenen Stäbe flogen auseinander, und er stürmte ins Freie. Unaufhaltsam
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stampfte er in seinen hohen, schwarzen Stiefeln sporrenklirrend auf die Straße und
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durch sie.
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„Der Dompteur ist los! Der Dompteur ist los!“ ächzte es von Haus zu Haus; er selber
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aber schrie und dröhnte und donnerte durch die Gassen, knallte mit der Peitsche und
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schnalzte mit den Fingern, daß niemand davon verschont ward. Seinen Weg säumten
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auf Händen stehende Straßenbahnschaffnerinnen, auf Wäscheleinen balancierende
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Hauswarte, oder in strammer Haltung gelähmte Feuerwehrleute, die erst seinetwegen
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und dann vor ihm ausgerückt waren.
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Bei jedem Peitschenknall sprangen Großväter in ihren Stuben keuchend auf den Tisch
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oder auf den Ofen, wo sie mit angewinkelten Armen hocken blieben.
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„Der Dompteur ist los! Der Dompteur ist los!“ Angst und Schrecken und erstaunliche,
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eilfertig ausgeführte Dressurleistungen griffen immer weiter um sich. Auf ihren Stüh-
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len in ihren Wohnungen kauerten die Bewohner der Stadt, auf den Peitschenknall
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lauernd, der ihnen erlaubte, zu Boden zu springen und knurrend und murrend in die
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Küche oder ins Bett zu schleichen.
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Endlich, drei Abende später, gelang es, den Dompteur einzufangen und zum Bür-
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ermeister zu machen; seitdem herrscht in der Stadt wieder Ruhe und Ordnung. Und
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ein ganz unglaublicher Aufschwung des Zirkuswesens läßt sich nicht länger leugnen.
Aus: Fritz Pratz: Neue deutsche Kurzprosa. Diesterweg, Frankfurt 1976, S. 94 ff.
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- In der Erzählung Zirkuswesen von Günter Kunert aus dem Jahr 1965 werden die Rollen von Täter und Opfer vertauscht.
- Ein Dompteur beißt im Zirkus seinen Königstiger tot. Nachdem der Dompteur flieht, versetzt er die Stadtbewohner in Angst und Schrecken. Der Dompteur bringt die Menschen dazu, sich seltsam zu verhalten und in ungewöhnliche Körperhaltungen zu gehen. Peitschenschläge und Drohgebärden führen dazu, dass die Menschen seltsame, zirkusreife Kunststücke zeigen.
- Als der Dompteur schließlich nach drei Abenden gefangen wird, wird er jedoch nicht wie erwartet eingesperrt, sondern er wird zum Bürgermeister gemacht. Der Dompteur wirft der Gesellschaft vor, sich freiwillig der Gewalt des Täters zu unterwerfen. In der Stadt herrschen fortan „Ruhe und Ordnung“ (Z. 25), und das Zirkuswesen, das Gewalt und Kontrolle symbolisiert, hat sich erfolgreich verbreitet.
Teilaufgabe 2
- Der Text von Günter Kunert ist eine Parabel, die den Zirkus, den Dompteur und die Tiere als Symbol für gesellschaftliche Elemente darstellt. Auf der Sachebene wird eine Gesellschaft beschrieben, die solches Verhalten ermöglicht und zulässt, was später im konkreten Handlungsverlauf verdeutlicht wird.
- Die Handlung beginnt mit einer scheinbar unterlegenen, schwächeren Person, die den gefährlichen Tiger überwältigt, indem sie dessen Tötungsmethode – den Nackenbiss – anwendet (Vgl. Z. 2–4). Es handelt sich um eine geplante, nicht heimliche Tat, die der Dompteur zu Beginn der Zirkusvorstellung öffentlich vollzieht. Die Zuschauer sind erschrocken und fliehen, während die anderen Tiere im Käfig spüren, dass es sich um eine außergewöhnliche Situation handelt. Die Tiere drängen sich an das Gitter und werden als „gefleckt“ (Z. 4), „gestreift“ (Z. 5) und „geringelt“ (Z. 5) beschrieben, wodurch sie als eine Gruppe erscheinen (Vgl. Z. 4–5).
- Der Dompteur, der diese Lebewesen bereits unterworfen hat, kümmert sich nicht weiter um sie. Er verlässt den Käfig, wobei die „metallenen Stäbe“ (Z. 8) auseinanderfliegen und der Dompteur mit „hohen, schwarzen Stiefeln“ l(Z. 9) aut polternd durch die Stadt stampft (Vgl. Z. 9). Diese Details verdeutlichen das militärische Auftreten des Dompteurs und die laute, bedrohliche Atmosphäre, die durch Alliterationen verstärkt wird (Vgl. Z. 9–12). Diese lauten, zischenden S-Laute und die Geräusche, die der Dompteur macht, erzeugen eine bedrohliche Stimmung und verstärken die Vorstellung von Gewalt und Kontrolle.
- Die Figuren im Text, vor allem die Menschen, werden nicht als Individuen dargestellt, sondern als eine anonyme Masse oder Gruppe. Sie verhalten sich wie dressierte Zirkustiere und gehorchen den Befehlen des Dompteurs ohne Widerstand. Die Menschen in der Stadt werden als „Bewohner“ (Z. 21) bezeichnet , und ihre Reaktionen sind mehr von Angst und Gehorsam geprägt als von persönlicher Entscheidung oder Eigenständigkeit. Der Dompteur hat durch seine Machtausübung die Kontrolle über die Bewohner erlangt, und ihre Reaktionen spiegeln diese neue Ordnung wider (Vgl. Z. 21 ff.).
- Die Feuerwehrleute, die sich unter dem Einfluss des Dompteurs in einer „stramme[n] Haltung“ (Z. 15) bewegen, zeigen ebenfalls, wie stark der Dompteur seine Macht auf die Menschen ausübt. Das Bild der „gehorsamen Soldaten“ verstärkt den Eindruck einer militärischen Disziplin, die in der Gesellschaft vorherrscht. Sie erscheinen nicht mehr als eigenständige Individuen, sondern als Marionetten, die sich dem Willen des Dompteurs fügen.
- Die Sprache in Kunerts Erzählung ist von einer Vielzahl an lautmalerischen Elementen geprägt, die die angespannte Atmosphäre verstärken. Der Erzähler verwendet eine sachliche, beinahe humorvolle Erzählweise, die die skurrilen und grotesken Elemente der Geschichte verstärkt. Besonders auffällig ist der ironische Unterton des Erzählers, der das Geschehen kommentiert. Der Erzähler beschreibt die Vorfälle mit einer Mischung aus Staunen und Ironie, was dazu beiträgt, die absurde Situation noch weiter zu verdeutlichen. Die ironische Haltung des Erzählers wird besonders durch die Beschreibung des Dompteurs verdeutlicht, der als eine Art militärischer Führer durch die Straßen marschiert (Vgl. Z. 9–12).
- Am Ende des Textes gibt es eine überraschende Wendung: Die Bürger, die endlich die Kontrolle über den Dompteur erlangt haben, geben diese Macht sofort wieder ab. Statt den Dompteur zu verhaften, unterstützen sie die Verbreitung des Zirkuswesens, was eine ironische und tiefgründige Reflexion über Macht und Kontrolle darstellt. Die Bewohner tragen zur Stabilisierung der neuen Machthierarchie bei, was das Zirkuswesen weiter verstärkt (Z. 25 f.). Der „Aufschwung des Zirkuswesens“ zeigt, dass die Gesellschaft unter der Oberfläche bereits an diese neue Ordnung gewöhnt ist, und damit stellt sich eine neue Form der Stabilität ein, die das alte Machtgefüge ersetzt (Vgl. Z. 25 f.).
Teilaufgabe 3
- Das zentrale Thema der Parabel ist Macht. Es genügt einer Person offensichtlich nicht mehr, über bereits unterdrückte Menschen zu herrschen. Konkrete Gründe für ihr Handeln werden nicht genannt. Dieser Mensch ergreift die Kontrolle über eine gesamte Stadt – und die unterdrückten Menschen können ihm nicht entgegentreten. Am Ende unterstützen sie ihn sogar bereitwillig auf seinem Weg zur Macht.
- Auf der Bildebene der Parabel geht es um Tiere und einen Zirkus. Auf der Ebene der Sache steht der Dompteur für eine Person, die ihre Machtbasis erweitern möchte. Der Tiger könnte eine Person oder Gruppe symbolisieren, die stärker ist als der Dompteur und eine potenzielle Gefahr für ihn darstellt. Daher muss dieser Konkurrent entfernt werden (Vgl. Z. 6–10).
- Die Art, wie der Dompteur sich durchsetzt, entspricht dem Muster von Putschversuchen oder Machtergreifungen, die zu Diktaturen führen. Der Akteur nutzt einen Überraschungseffekt, der zu diktatorischer Gewalt führt, um seine Ziele zu erreichen. Mit dem „Käfig“ (Z. 6) zerstört er die Hindernisse, die ihn bisher in Schranken gehalten haben, beispielsweise politische Gegner oder die staatliche Verfassung (Vgl. Z. 9–10). Das Publikum – und damit ein weiteres mögliches Kontrollorgan – ist zunächst aus Panik und Entsetzen betroffen (Vgl. Z. 11 ff.). Nur ein paar Zeugen in Form der anderen Tiere bleiben zurück, aber sie haben wohl zu viel Angst davor, dass sie dasselbe Schicksal ereilen würde wie der Königstiger. Deshalb greifen sie nicht ein, obwohl sie als Gruppe wahrscheinlich stark genug dafür gewesen wären. Die Einschüchterungstaktik des Dompteurs hat also funktioniert (Vgl. Z. 10–12).
- Der Moment, in dem die Feuerwehr aufgibt und sich auf die Seite des Dompteurs stellt (Vgl. Z. 15f.), markiert einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Macht. Denn mit der Feuerwehr ist ein Teil der staatlichen Ordnung zum Dompteur übergetreten. Trotzdem scheint es gelungen zu sein, den Gewalttäter zu fangen (Vgl. Z. 24). Doch anstatt ihn zu verhaften, überlassen die Bewohner ihm freiwillig die Macht.
- Über die Gründe dafür lässt sich als Leser nur spekulieren: Vielleicht sind die Bewohner froh, nicht mehr selbstständig denken zu müssen, sondern klare Anweisungen zu erhalten. Die Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen und „Ruhe und Ordnung“ (Z. 25) scheint stärker zu sein als das Verlangen nach individueller Freiheit. Gewalt und Demütigungen werden akzeptiert, und die Folgen einer solchen Unterwerfung werden möglicherweise unterschätzt (Vgl. Z. 25–26).
- Die „Machtergreifung von Adolf Hitler“ kann als konkretes historisches Beispiel für dieses Vorgehen dienen. Dies entspricht dem Auftreten des Dompteurs und seiner militärischen Merkmale, wie etwa seinen hohen schwarzen Stiefeln (Vgl. Z. 9), die oft von Soldaten, insbesondere auch von Nationalsozialisten, getragen wurden. Gewalt und Einschüchterung waren schon immer Teil der Strategie der Nationalsozialisten, die schließlich auch legitim an die Macht kamen – eine auffällige Parallele zu dem Dompteur, der schließlich zum „Bürgermeister“ (Z. 24 f.) gemacht wird.
- Das Aufblühen des Zirkuswesens könnte auch als Symbol für die Ausbreitung radikaler Religionen oder Sekten stehen. Der blinde Gehorsam, das Verehren eines religiösen Führers, das Auslöschen von selbstständigem Denken und die Vertreibung von „Ungläubigen“ sind Merkmale, die für fanatische Extremisten typisch sind.
- Die Parabel Zirkuswesen zeigt, wie eine Diktatur die Menschen beeinflusst – bis hin zu ihrer Körpersprache, Gestik, ihrer Sprache und ihrem Privatleben. Sie malt ein düsteres, hoffnungsloses Bild einer unmündigen Gesellschaft, die sich nicht oder nicht rechtzeitig wehrt und sich letztlich sogar freiwillig unterwirft.