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Thema 4

Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes (Kommentar)

Thema: Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft
Aufgabenstellung:
  • An deiner Schule findet ein fächerübergreifendes Projekt zum Thema „Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft" statt. Dein Deutschkurs wird um Beiträge zum Thema der Teilhabe an der Kommunikation in politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen gebeten. Die Beiträge sollen auf der Schulhomepage veröffentlicht werden.
  • Verfasse deshalb einen Kommentar zu der Frage, ob und inwiefern die Verwendung Leichter Sprache eine umfassende Teilhabe an der Kommunikation im öffentlichen Raum ermöglicht.
  • Nutzen dazu die folgenden Materialien 1 bis 6 und beziehe unterrichtliches Wissen und eigene Erfahrungen ein.
  • Formuliere eine geeignete Überschrift.
  • Verweise auf die Materialien erfolgen unter Angabe des Namens der Autorin bzw. des Autors und ggf. des Titels.
  • Dein Kommentar sollte etwa 800 Wörter umfassen.
Material 1
Vielfalt zum Ausdruck bringen! Ein Leitfaden für Mitarbeitende der Berliner Verwaltung (2020)
1
Leichte Sprache
2
[...] Leichte Sprache rückt in Deutschland zunehmend ins öffentliche Bewusstsein. Leichte
3
Sprache im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat das Ziel, Menschen,
4
die schriftliche sowie mündliche Schwierigkeiten haben, abstrakte Dinge zu verstehen, die
5
Teilhabe an Gesellschaft und Politik zu ermöglichen. Sie folgt bestimmten Regeln, die unter
6
maßgeblicher Mitwirkung des Vereins Mensch zuerst entwickelt wurden, und zeichnet sich
7
unter anderem durch kurze Hauptsätze und den weitgehenden Verzicht auf Nebensätze und
8
die Verwendung von bekannten Wörtern aus. Schwierige Worte werden erklärt. Das Schriftbild
9
ist klar, ohne Schnörkel (Serifen) und ausreichend groß. Nach jedem Satzzeichen sowie bei
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sinnvollen Satzabschnitten folgt ein Absatz. Die Optik von Bild und Schrift muss übersichtlich
11
sein. Farben sind eher sparsam einzusetzen. Einfache Illustrationen werden bei der Leichten
12
Sprache Fotos vorgezogen, auf denen zu viele Details zu sehen sind.
13
Einfache Sprache
14
Anders als bei der Leichten Sprache gibt es für die Einfache Sprache kein Regelwerk. Sie ist
15
durch einen komplexeren Sprachstil gekennzeichnet als die Leichte Sprache. Die Sätze sind
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länger, Nebensätze sind zulässig und sämtliche im Alltag gebräuchlichen Begriffe werden als
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bekannt vorausgesetzt. Fremdworte sollten allerdings auch hier nach Möglichkeit vermieden
18
werden, ansonsten sind sie zu erklären. Nach Satzzeichen und Satzabschnitten muss nicht
19
zwingend ein Absatz folgen, solange der Text überschaubar bleibt. Auch das optische
20
Erscheinungsbild von Schrift und Bild ist weniger streng geregelt. Texte in Einfacher Sprache
21
sind für viele Menschen hilfreich, etwa für Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche,
22
hörbehinderte Menschen mit geringerer Lautsprachkompetenz, Menschen mit geringen
23
Deutschkenntnissen oder auch Personen, die in Berlin Urlaub machen. [...]

Aus: Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung (2020): Vielfalt zum Ausdruck bringen! Ein Leitfaden für Mitarbeitende der Berliner Verwaltung. Abschnitte 2.4.1. Leichte Sprache und 2.4.2. Einfache Sprache, letzter Zugriff am 23.07.2024.
Material 2
Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.: Für wen ist Leichte Sprache? (2022)
Für wen ist Leichte Sprache?
Menschen mit geistiger Behinderung
haben Leichte Sprache gefordert.
Darum ist Leichte Sprache
besonders für diese Menschen.
Leichte Sprache hilft auch Menschen,
die Probleme beim Lernen haben.
Leichte Sprache ist auch gut für viele andere Menschen.
Zum Beispiel:
  • Menschen mit Problemen beim Lesen und Schreiben.
  • Menschen, die gerade Deutsch lernen.
  • Alte Menschen.
  • Menschen, die Gebarden-Sprache brauchen.
  • Jugendliche.

  • Aus: Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Bremen e. V. (2022): Für wen ist Leichte Sprache?, letzter Zugriff am 14.12.2022.
    Material 3
    Nicola Pridik: 7 Dinge, die Sie über Leichte Sprache wissen sollten (2017)
    1
    1. Leichte Sprache ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe
    2
    [...] Große Teile der Bevölkerung sind nicht in der Lage, standardsprachliche Texte zu lesen
    3
    und zu verstehen. So gibt es in Deutschland allein rund 7,5 Mio. funktionale Analphabeten
    4
    (vgl. LEO-Studie 2011). Hinzu kommen Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit
    5
    Lernschwierigkeiten (z. B. aufgrund einer Legasthenie), an Demenz Erkrankte, Menschen mit
    6
    Aphasien (Sprachstörungen), prälingual Gehörlose und Personen mit geringen
    7
    Deutschkenntnissen. Viele dieser Menschen müssen dauerhaft mit ihrer Leseeinschränkung
    8
    leben. Das gilt z. B. für Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit Demenz oder
    9
    Aphasien. Andere sind potenziell in der Lage, durch entsprechendes Training und/oder
    10
    Förderangebote das Lesen standardsprachlicher Texte zu lernen. Selbst wenn ein Lernerfolg
    11
    möglich ist, vergeht jedoch regelmäßig viel Zeit, bis die Betroffenen ihr Ziel erreichen.
    12
    Alle genannten Personengruppen haben vorübergehend oder sogar dauerhaft keine
    13
    Chance, selbstbestimmt Informationen über Texte aufzunehmen. Sie sind deshalb aus
    14
    der Gesellschaft ausgeschlossen, denn in vielen Bereichen des Lebens sind wir auf schriftliche
    15
    Informationen und die Beherrschung der Schriftsprache angewiesen. [...] Leichte Sprache
    16
    hilft, die ausgrenzende Sprachbarriere zu überwinden. Denjenigen, die ihr Sprachniveau
    17
    verbessern können, baut sie darüber hinaus eine Brücke zur Standardsprache. [...]
    18
    2. Es geht nicht um „schöne“ Sprache
    19
    [...] Wer Texte in Standardsprache lesen und verstehen kann, empfindet Leichte-Sprache-
    20
    Texte zwangsläufig als befremdlich, weil die sprachlichen Möglichkeiten hier erheblich
    21
    eingeschränkt sind. Das zeigen bereits folgende Regeln auf Satzebene:
    22
    • Nur Hauptsätze sind erlaubt, keine Nebensätze.
    23
    • Es gibt keinen Genitiv.
    24
    • Es gibt kein Imperfekt und kein Futur.
    25
    • Es gibt keinen Konjunktiv.
    26
    • Es gibt kein Passiv.
    27
    Der Punkt ist: Es hat Gründe, warum diese Regeln existieren. Wer selbst nicht betroffen ist,
    28
    kann es sich zwar nur schwer vorstellen, aber es gibt Menschen, die können tatsächlich nur
    29
    eine Information pro Satz aufnehmen, einen Genitiv nicht verarbeiten oder haben Mühe,
    30
    Formulierungen im Passiv zu verstehen. Nicht jeder hat mit allen Facetten der Sprache
    31
    Probleme, aber in der Leichten Sprache werden alle berücksichtigt, um Informationen einer
    32
    möglichst breiten, sehr heterogenen Leserschaft zugänglich zu machen. Den Luxus
    33
    „schöner“ Sprache kann sich im Kontext von Leichter Sprache niemand leisten. Es geht
    34
    vielmehr darum, ob Menschen Informationen aufnehmen und verstehen können oder
    35
    nicht. [...]
    36
    3. Nicht jeder Text in Leichter Sprache ist ein guter Text:
    37
    Die ersten wissenschaftlich fundierten Regeln für Leichte Sprache wurden erst 2015 von der
    38
    Forschungsstelle Leichte Sprache (Universität Hildesheim) veröffentlicht. [...] Davor gab es
    39
    nur sehr allgemein gehaltene Regeln, die zwar wichtige Vorgaben machten, die Leichte-
    40
    Sprache-Übersetzerinnen und -Übersetzer aber zugleich mit vielen Fragen zurückließen. [...]
    41
    Diese Regeln wurden von der Forschungsstelle konkretisiert und sprachwissenschaftlich
    42
    unterfüttert, teilweise aber auch verändert.
    43
    Leichte Sprache ist also noch ein sehr junges Sprachkonzept, das erst seit kurzem
    44
    professionelle Formen annimmt. [...] Als Maßstab der Qualität und Verständlichkeit zählte
    45
    [früher] allein die „Prüfung“ der Texte durch Vertreter der Zielgruppe(n). Heute existieren
    46
    wissenschaftliche Regeln (deren empirische Überprüfung noch aussteht) und Prüfgruppen
    47
    nebeneinander. Mithilfe der wissenschaftlichen Regeln werden die Leichte-SpracheÜbersetzungen
    48
    besser und die Prüfgruppen sind wichtig, weil sie die Zielgruppen in die
    49
    Entwicklung der Leichten Sprache einbeziehen.
    50
    4. Leichte Sprache ist kein falsches Deutsch
    51
    Zuweilen wundert man sich über sehr abenteuerliche Schreibweisen von wörtern in Leichte-
    52
    Sprache-Texten [...]. Die Forschungsstelle sagt ganz klar: Alle Texte in Leichter Sprache
    53
    müssen grammatikalisch und orthografisch richtig sein. Das ist schon deshalb wichtig,
    54
    weil es fatal wäre, Menschen falsches Deutsch zu vermitteln, denen die Leichte Sprache nur
    55
    den Zugang zur Standardsprache ermöglichen soll. [...]

    Anmerkung zur Autorin:
    Nicola Pridik (* 1970) ist Juristin und Inhaberin des Büros für klare Rechtskommunikation in Berlin.
    Aus: Pridik, Nicola (04.04.2017): 7 Dinge, die Sie über Leichte Sprache wissen sollten, letzter Zugriff am 23.07.2024.
    Material 4
    Bettina M. Bock: Was macht Sätze leicht verständlich? (2018)
    1
    [...] Was Sätze leicht oder schwer verständlich macht, ist nicht nur die Struktur - also die
    2
    Syntax. Ganz wesentlich ist, wie schon bei den Wörtern, die Bedeutungsebene - also die
    3
    Semantik. Es geht auf Satzebene also nicht nur um Phänomene wie Nebensätze und
    4
    Satzkomplexität, sondern z. B. auch um die Reihenfolge von Informationen em>(Der Mann betritt
    5
    em>den Raum. – Den Raum betritt der Mann.) oder die Vereindeutigung möglicher Lesarten eines
    6
    Satzes (Sie probierte das Kleid im Schaufenster an.). Einen Einfluss auf die Verständlichkeit
    7
    hat auch, ob eine Formulierung in einem bestimmten Zusammenhang besonders erwartbar
    8
    oder der Leserschaft besonders vertraut ist. [...] Es ist selten möglich, einzelne grammatische
    9
    Phänomene isoliert als generell (zu) schwierig einzustufen. Viel hängt vom sprachlichen
    10
    Kontext ab, also den umgebenden Sätzen, ebenso viel vom außersprachlichen Kontext, also
    11
    dem Verwendungszusammenhang. [...]
    12
    In [...] Regellisten [...] werden [...] auf Satzebene folgende Verstehenshürden immer wieder
    13
    genannt:
    14
    • Satzschachtelungen mit mehreren Nebensätzen
    15
    • Satzklammer, z. B. bei unfesten Verbzusammensetzungen (z. B. Sie spricht den Kollegen aus
    16
    der Werkstatt an.)
    17
    • ungewöhnliche Wortstellung
    18
    • Nominalisierung (statt Die Forderung nach. z. B. Auflösung in einen Nebensatz wie: Sie
    19
    fordern, dass ...)
    20
    • lange Sätze
    21
    Manches, wie Schachtelsätze und Nominalisierung, lässt sich relativ leicht vermeiden. Sie
    22
    bereiten in der Regel zweifellos unnötige Verstehensschwierigkeiten. Nebensätze sind
    23
    unseren Tests zufolge allerdings nicht grundsätzlich schwer verständlich. Die Frage der
    24
    Satzlänge ist schwierig verallgemeinernd zu beantworten. Manchmal findet man in der
    25
    Forschung die Angabe, dass ein Satz bei nicht-beeinträchtigten Lesern nicht mehr als 7-8
    26
    Wörter haben solle. Solche Angaben orientieren sich an der Spanne des
    27
    Kurzzeitgedächtnisses, die bei den Adressatenkreisen „Leichter Sprache“ natürlich sehr
    28
    unterschiedlich sein kann.
    29
    In den Regelwerken wird außerdem empfohlen: Ein Gedanke pro Satz. In der Praxis wird das
    30
    oftmals so interpretiert, dass Sätze rein grafisch „zerlegt“, aber ansonsten unverändert
    31
    gelassen werden (wie in „Dafür wollen wir einen Plan machen. Und uns für Bildung stark
    32
    machen.“). Solche elliptischen, also unvollständigen Sätze werden dann in der Öffentlichkeit
    33
    immer wieder kritisiert. Tatsächlich ist sehr fraglich, inwiefern solch eine rein grafische
    34
    „Satzzerlegung“ verständniserleichternd wirkt. Die Empfehlung „ein Gedanke pro Satz“ sollte
    35
    anders verstanden werden: Es geht vor allem um die Bedeutungsebene, genauer: die
    36
    Informationsdichte. Ein Satz wie
    37
    Ich habe ein gut lesbares Buch für Peter, in dem es um Vogelarten in den Alpen geht.
    38
    weist eine hohe Informationsdichte auf. Um den Satz inhaltlich zu „entzerren“, könnte man ihn
    39
    in mehrere Sätze auflösen und so den Inhalt völlig neu formulieren und darstellen:
    40
    Peter mag Vögel (= Kontext). Ich habe ein Buch für ihn. Im Buch geht es um Vogel-Arten in den
    41
    Alpen. Das Buch ist gut lesbar. [...]

    Anmerkung zur Autorin:
    Bettina M. Bock (* 1982) ist als Sprachwissenschaftlerin an der Universität zu Köln tätig.
    Aus: Bock, Bettina M. (2018): „Leichte Sprache“ - Kein Regelwerk. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse und Praxisempfehlungen aus dem LeiSA-Projekt, Leipzig: Qucosa, S. 86f., letzter Zugriff am 03.02.2023.
    Material 5
    Adrian Lobe: Leichte Sprache: Nachrichten im Kinderbuch-Stil (2017)
    1
    [...] Die Frage ist, ob man Rezipienten mit Leseschwächen erreicht, indem man Nachrichten
    2
    künstlich boulevardisiert und im vermeintlichen Kinderbuch-Stil erzählt. Gibt es eine Grenze
    3
    für Komplexitätsreduktion? Ist dem Zielpublikum gedient, wenn man Inhalte über Gebühr
    4
    simplifiziert? Wäre es nicht besser, die Lesekompetenz zu stärken, statt komplexe Texte zu
    5
    demontieren?
    6
    Die „Augsburger Allgemeine“ schreibt in Leichter Sprache über die Waldbrände in Portugal:
    7
    „In dem Land Portugal ist etwas Schlimmes passiert. Portugal ist in Europa. Es brennt in den
    8
    Wäldern von Portugal. Warum brennt es: In Portugal ist gerade Sommer. Überall ist es sehr
    9
    heiß. In den Wäldern von Portugal ist alles sehr trocken. Zum Beispiel die Bäume und Wiesen.
    10
    Es gab ein Gewitter ohne Regen. Der Blitz hat eingeschlagen. So fing es in den Wäldern an
    11
    zu brennen."
    12
    Dies ist ein Beispiel dafür, wie Leichte Sprache nicht funktionieren sollte:
    13
    Kausalzusammenhänge werden konstruiert, Erklärungen komplexer Phänomene verzerrt. Die
    14
    Gleichung Sommer gleich Hitze gleich Gewitter gleich Waldbrand ist stark verkürzt. Dass die
    15
    Eukalyptus-Monokultur die Hauptursache für die Brände ist, kommt in dem Artikel gar nicht
    16
    vor. Dem Leser werden wesentliche Informationen vorenthalten. Das kann nicht das Ziel
    17
    Leichter Sprache sein.
    18
    Was an dem Vorhaben vor allem stört, ist, dass Sprache als ein Störfaktor desavouiert wird,
    19
    der Menschen daran hindere, Nachrichten zu erfassen. Dabei ist doch Sprache wesentlich für
    20
    die Qualität und Güte eines Textes. Komplexe, vermeintlich „schwere“ Sprache erlaubt präzise
    21
    Unterscheidungen, die von einer simplifizierten Satzstruktur geschleift werden. Traut man der
    22
    Leserschaft nichts mehr zu?
    23
    Der Internetkritiker Hossein Derakhshan schrieb in einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche
    24
    Zeitung“: „Selbstverständlich wird Text nie aussterben, aber die Fähigkeit, über das Alphabet
    25
    zu kommunizieren, wird in vielen Gesellschaften langsam zum Privileg einer kleinen Elite. Das
    26
    erinnert an das Mittelalter, als nur Mächtige und Mönche sich mit geschriebenen Worten
    27
    verständigten. Die restlichen Menschen werden die Analphabeten des 21. Jahrhunderts sein,
    28
    die hauptsächlich über Bilder und Videos kommunizieren – und natürlich über Emojis.“ Mit
    29
    Leichter Sprache erweist man jenen Menschen einen Bärendienst, die man eigentlich an die
    30
    komplexe Sprachwelt heranführen und mit einem breiten Wortschatz ermächtigen muss.

    Anmerkung zum Autor:
    Adrian Lobe (* 1988) ist Buchautor und Journalist.
    Aus: Lobe, Adrian (28.07.2017): Leichte Sprache: Nachrichten im Kinderbuch-Stil, letzter Zugriff am 23.07.2024.
    Material 6
    Bettina Zurstrassen: Inklusion durch Leichte Sprache? Eine kritische Einschätzung (2015)
    1
    [...] Durch die Bereitstellung verständlicher Texte kann in der Tat der Zugang zu
    2
    gesellschaftlichen und politischen Informationen niederschwelliger ermöglicht werden.
    3
    Dennoch sind auch Zweifel angebracht:
    4
  • Sprachwissenschaftlich und soziolinguistisch muss untersucht werden, ob Leichte
  • 5
    Sprache mit ihrem eigenen Regelwerk nicht sogar die Ausgrenzung von Menschen mit
    6
    Lernschwierigkeiten fördern kann, wenn diese auf den zunehmend normierten Schreibund
    7
    Sprachstil der „Leichten Sprache" hin sozialisiert werden.
    8
  • Des Weiteren muss die Forschung prüfen, ob Leichte Sprache im Vergleich zu Einfacher
  • 9
    Sprache aufgrund ihres begrenzenden Regelwerks (z. B. die Regel, Fremdwörter zu
    10
    vermeiden) die Zielgruppe in ihren sprachlichen und kognitiven Entwicklungschancen
    11
    nicht sogar einschränkt. Aus politikdidaktischer Perspektive ist Einfache Sprache zu
    12
    bevorzugen, weil Fremdwörter zwar verwendet, aber erläutert werden und sie daher
    13
    einen stärker aufklärenden Anspruch hat. [...]
    14
  • Die Einbindung von „Expertinnen und Experten aus der Zielgruppe" bei der Übersetzung
  • 15
    in Leichte Sprache wird vom Netzwerk Leichte Sprache zum Gütekriterium erklärt und
    16
    bei der Zertifizierung eines übersetzten Textes mit einem Gütesiegel vorausgesetzt. Die
    17
    Problematik des „positiven Rassismus“, die hinter dieser gutgemeinten Praxis steht, wird
    18
    nicht reflektiert. Die Zielgruppe wird als einzig legitimer Experte ihrer Lebenswelt definiert
    19
    und ihr exkludierender Sonderstatus damit verfestigt.
    20
    Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Zuge der Inklusionsdebatte eine eigene
    21
    Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt wird. [...]
    22
    Es gehört in diesem Zusammenhang zur politischen Dramaturgie von Interessengruppen, die
    23
    Gruppe der „Betroffenen“ möglichst weit zu definieren, um mit dem Verweis auf die
    24
    gesellschaftliche Relevanz der eigenen Forderung Nachdruck zu verleihen. [...]
    25
    Im [...] Ratgeber des Ministeriums für Arbeit und Soziales heißt es, dass bei der Übersetzung
    26
    Teile von Texten weggelassen und Beispiele eingefügt werden können, wobei die Expertinnen
    27
    und Experten aus der Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten entscheiden, welche
    28
    Textpassagen gestrichen werden können. Kriterien, die die Entscheidungsprozesse
    29
    transparent machen, werden jedoch nicht ausgeführt. Problematisch ist zudem, dass ni den ni 30
    30
    Leichter Sprache verfassten Dokumenten oft nicht deutlich gemacht wird, dass es sich bei
    31
    ihnen um eine interpretative Übersetzung handelt, ni die immer auch normative Deutungen
    32
    des/der Übersetzenden bzw. der Prüfenden einfließen. [...] Damit birgt Leichte Sprache die
    33
    Gefahr der politischen Überwältigung, zumal dann, wenn die Rezipienten nicht zu einer
    34
    textkritisch-distanzierten Haltung sozialisiert werden. [...]

    Anmerkungen zur Autorin:
    Bettina Zurstrassen ist Professorin für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld.
    Aus: Zurstrassen, Bettina (26.11.2015): Inklusion durch Leichte Sprache? Eine kritische Einschätzung, letzter Zugriff am 23.07.2024.
    Weitere Anmerkungen:
    Sprachliche Fehler und die Verwendung von Sonderzeichen zur Kennzeichnung geschlechtergerechter Sprache in Textvorlagen wurden entsprechend der geltenden Norm korrigiert. Hervorhebungen entsprechen dem Erscheinungsbild im Originaltext.

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