Thema 2
Gedichtinterpretation mit weiterführendem Vergleich
Thema: Eva Strittmatter (* 1930 – † 2011): An meinen achtzehnjährigen Sohn (1975) Christoph Hein (* 1944): In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht An meinen achtzehnjährigen Sohn von Eva Strittmatter.
- Setze Christoph Heins Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten mit Eva Strittmatters Gedicht unter dem Aspekt des Mutter-Kind-Verhältnisses in Beziehung. Nutze dafür auch den Textauszug.
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Du glaubst gar nicht, wie traurig ich bin,
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Mein Sohn, wenn ich dich sehe.
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Und schon nehm ich als endgültig hin,
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Daß ich dich nicht verstehe.
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Und helfen kann ich dir auch nicht,
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Und helfen kann dir keiner.
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Und einmal liebte ich dein Gesicht,
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Und einmal warst du mein Kleiner,
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Mein Junge, Land Unbekannt
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Und sicherste Utopie.
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Und damals war ich es, die dich erfand
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Und bestimmte das Was und Wie
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Für dich über all diese Zeit.
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Und ich glaubte, ich könnte dich schützen
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Vor Lebenslüge und Lebensleid
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Und könnte dir lebenslang nützen.
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Nun habe ich dich aus der Sorge entlassen,
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Und du gehst erleichtert fort
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Und verstehst doch nicht, dich der Welt einzupassen
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Und flüchtest von Ort zu Ort.
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Du rauchst Zigaretten und bildest dir ein,
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Dadurch erwachsen zu scheinen,
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Und in Wirklichkeit bist du noch schrecklich klein
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Und ich möchte sehr um dich weinen.
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Theoretisch weiß ich: das Leben ist gut.
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Und die Guten gehn nicht verloren.
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Doch bei dir fehlt mir zum Gleichmut der Mut:
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Ich habe dich einmal geboren.
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Doch diese eine Geburt reicht nicht
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Für immer und alle Zeiten.
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Auch du verfällst der irdischen Pflicht,
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Gegen dich und für dich zu streiten.
Aus: Strittmatter, Eva: Mondschnee liegt auf den Wiesen. Gedichte. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2001, S. 123 f. S. 71-74. In seiner frühen Kindheit ein Garten Christoph Hein
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[...] „Es ist alles so schrecklich, Christin.“
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„Ja, Mutter. Und das Fürchterlichste ist, es war alles vorhersehbar. Ganz genau so. Und das
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hatte ich Oliver gesagt, als wir uns in Hannover zum letzten Mal gesehen haben. Ich habe ihm
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gesagt, du ermordest nicht nur die Vertreter eines Schweinesystems, wie du sagst, sondern
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du bringst auch deine Eltern damit um.“
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„Christin! Oliver ist tot.“
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„Mama, ich bitte dich. Hattest du denn wirklich etwas anderes erwartet? Seit fünf Jahren, seit
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er untergetaucht ist, habt ihr da nicht jeden Tag an ihn gedacht und euch gefragt, wie er seinen
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hirnrissigen Einfall, in diesem Land als Illegaler zu leben, überstehen kann? Wenn du ehrlich
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bist, so musst du dir eingestehen, es war dir ebenso klar wie mir, dass das Ende seines Weges
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nur Gefängnis heißen kann oder Tod. Die Terroristen werden seit Jahren gejagt, es gibt
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Einheiten der Polizei und des Grenzschutzes, die sich ausschließlich mit den Terroristen in
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diesem Land befassen. Wieso sollte da ausgerechnet mein Bruder nicht gefasst werden?
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Wieso sollte ausgerechnet Herr Oliver Zurek von den Eliteeinheiten nicht aufgespürt werden?
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Mutter, er hatte den ganzen Staat gegen sich, das konnte er nicht überleben. Und das wusstet
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ihr so gut wie ich. Ich wusste seit fünf Jahren, dass er umkommen wird. Fünf Jahre habe ich
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daran denken müssen, fünf lange Jahre. Ich habe es vorausgesehen, ich habe mich davor
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gefürchtet. Ich habe um ihn gezittert, und ich habe sogar für ihn gebetet, obwohl ich nicht allzu
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gläubig bin. Ich bin nachts wach geworden, weil ich ihn tot sah, erschossen oder im Gefängnis.
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Und manchmal habe ich geheult, Mama. Und Oliver wusste auch ganz genau, was ihm
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bevorsteht, das habe ich bei unserem letzten Gespräch gemerkt.“
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„Ja, Christin, ja, wir wussten es wohl alle.“
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„Irgendwie ist es jetzt für mich einfacher. Jetzt, wo er tot ist, ist meine Angst weg. Nun muss
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ich mich davor nicht mehr fürchten. Ich weiß nicht, wie es dir geht, Mama, aber jetzt schlafe
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ich wieder ohne Alpträume. Ich werde nicht mehr mitten in der Nacht wach. Diese lähmende,
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fürchterliche Angst ist weg. Jetzt ist da alles ganz leer. Jetzt haben wir es überstanden, Mama.
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So schlimm es für uns auch ist, nun ist es vorbei. Für Oliver, und auch für dich und mich,
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Mama, und für Papa.“
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„Ich weiß nicht, Christin ...“
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„Doch, Mama, glaube mir. Es ist schlimm, und für euch beide noch viel schlimmer als für mich.
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Es muss fürchterlich sein, ein Kind zu verlieren. Doch trotzdem, diese quälende Unruhe ist
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weg. Jetzt ist da nur noch dieser Schmerz. Der wird nicht weggehen, der wird bleiben, aber
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mit der Zeit wird er stiller werden, gnädiger, er wird sich beruhigen. Und vielleicht wird der
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Schmerz eines Tages einfach einschlafen. Ich hoffe es, Mama, ich hoffe es für dich und Papa.
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Und auch für mich.“
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„Ach, Christin, so weit kann ich gar nicht denken. Ich bekomme einfach meinen Kopf nicht
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klar.“ [...]
Aus: Hein, Christoph: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2006, S. 101-103.
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Erste Teilaufgabe
Einleitung
- Das Gedicht mit dem Titel An meinen achtzenjährigen Sohn wurde von Eva Strittmatter verfasst und im Jahr 1975 veröffentlicht.
- Epoche: Zeitlich gesehen lässt sich festhalten, dass das Werk der Epoche der „neuen Subjektivität“ zugeschrieben werden kann. Hierbei handelt es sich um die verstärkte Orientierung und Zuwendung auf eigene Gefühle, Perspektiven und Befindlichkeiten.
- Thema: Das Gedicht handelt von einer Mutter, die an ihren achtzehnjährigen Sohn schreibt, wie man bereits aus dem Titel erfährt. Der junge Mann bereitet seiner Mutter in seinen Lebensentscheidungen- und Weisen Sorge, sie muss jedoch auch einsehen, dass die Zeit gekommen ist, ihren Sohn loszulassen und ihn seine eigenen Fehler machen zu lassen und Erfahrungen zu sammeln.
Hauptteil
Formale Analyse- Zwei unterschiedlich lange Strophen mit insgesamt 32 Versen
- die Reimform ist im Kreuzreim gehalten und folgt damit dem Muster abab
- Anapher: Wiederholungen der Satzanfänge (V. 5-6, 18-20, 23-24), die dazu führen, dass ein Text rhythmisch strukturiert und außerdem durch die Wiederholung das Geschriebene betont wird
- Oxymoron: „sicherste Utopie“ (V. 10) stellt zwei Begriffe miteinander gepaart dar, die sich gegenseitig abstoßen. So kann eine Utopie niemals realistisch und demzufolge auch nicht sicher sein. Indem es die Gegensätze miteinander vereint, kann das Oxymoron die Mehrdeutigkeit, oder im vorliegenden Fall auch die Aussichtlosigkeit einer Situation aufzeigen
- Neologismus: als „Land Unbekannt“ (V. 9) bezeichnet Strittmatters lyrisches Ich ihren Sohn, wobei es sich bei diesem „Namen“ um eine Wortneuschöpfung handelt. Letztere bewirkt wiederum, dass der Formulierung eine neue Bedeutung verliehen wird. Aufgrund der Wortneuschöpfung wird die Aufmerksamkeit des Lesers verstärkt auf den Begriff gelenkt, denn „Land Unbekannt“ ist keine herkömmliche Bezeichnung für einen Sohn
- Parenthese: „Nun habe ich dich aus der Sorge entlassen, Und du gehst erleichtert fort Und verstehst doch nicht, dich der Welt einzupassen Und flüchtest von Ort zu Ort.“ (V. 17 ff.), der Hauptsatz wird von einem eingeschobenen Nebensatz unterbrochen. Dieser Einschub führt dazu, die Situation noch besser im Detail widerzuspiegeln führt außerdem zur Betonung der Situation
- Zunächst beklagt das lyrische Ich, dass es den eigenen Sohn nicht mehr versteht, gleichzeitig jedoch auch im Angesicht dieser Tatsache resigniert (V. 1 ff.)
- Die Einsicht darüber, dass niemand dem achtzehnjährigen Sohn helfen kann, außer er selbst, scheint beim lyrischen Ich zwar zu Schmerz zu führen, wird jedoch so akzeptiert (V. 5 f.)
- Weiterhin wird die Liebe und Zuneigung beschrieben, die die Mutter für ihren Sohn empfand (V. 6 ff.). Dass jedoch in der Vergangenheitsform Präteritum geschrieben wird, verleiht dem Liebesgeständnis einen bitteren Beigeschmack.
- Das lyrische Ich konstatiert, den eigenen Sohn nicht nur gezeugt, sondern auch erfunden zu haben, was zum einen indiskutabel ist und zum anderen ein gewisses vorhandenes Maß an Kontrolle gegenüber der Mutter dem Sohn vermuten lässt (Vgl. V. 11 ff.)
- Die Hoffnung der Mutter, das eigene Kind auf Lebenszeit vor den Gefahren der Welt schützen zu können, verlaufen sich im Nichts und dass der Sohn „erleichtert fort[geht]“ (V. 18), deutet darauf hin, dass es für ihn eine Art positive Loslösung ist, während die Mutter unter dem Flüggewerden ihres Kindes leidet
- Das lyrische Ich äußert die Sorge und Meinung darüber, dass der Sohn sich nicht „einzupassen“ (V. 19) wüsste, sich nicht zurechtfinden würde ohne sie. Außerdem bemängelt sie seine Lebensweise (siehe dem Rauchen gegenüber Vgl. V. 21 f.). Damit verdeutlicht sich abermals, dass die Mutter mit dem Umstand, dass ihr Sohn ihr aus den Finger zu gleiten scheint, nicht umgehen zu vermag und sie abermals nicht die gewünschte Kontrolle über die Situation erlangen kann
- Allerdings ist auch wahrnehmbar, dass sich die Mutter ernsthafte Sorgen um ihr Kind macht, indem sie sehr emotional wird und „sehr [...] weinen “(V. 23 f.) muss
- Auch wenn das lyrische Ich grundsätzlich zuversichtlich dem Leben gegenüber ist, gerät sie mit ihrem üblichen Optimismus bei ihrem eigenen Kind an ihre Grenzen: Denn die Emotionen, die sie an das Wohl ihres Sohnes knüpft sind stärker als jegliche rationale Denkmuster (V. 25 ff.)
- In der zweiten, weitaus kürzer gehaltenen Strophe des Gedichts (V. 29-32) zieht das lyrische Ich eine Art Resümee darüber, dass obwohl ihr Kind immer ihr Kind bleiben mag, es auch eines Tages erwachsen werden wird und sich dann mit den Herausforderungen des eigenen Lebens, der eigenen Familie befassen muss.
Schluss
- Das lyrische Ich wird in diesem Gedicht als Mutter gedeutet, nicht zuletzt, da auch die Autorin selbst eine Frau ist. Nichtsdestotrotz stellt diese Interpretation nur einen möglichen Deutungsansatz dar.
- Im Gedicht An meinen achtzehnjährigen Sohn findet die Reflexion einer Mutter statt, die realisiert und bemerkt, dass ihr Kind nicht länger auf ihren Schutz angewiesen ist und sich nun auf kurz oder lang selbstständig machen wird.
- Strittmater beschreibt die innere Zerissenheit einer Mutter, auf der einen Seite die unumgängliche Notwendigkeit des Loslassens zu akzeptieren und gleichzeitig emotional stark an den eigenen Sohn gebunden zu sein – sich Sorgen machen auf Lebenszeit – da man ein Leben lang Mutter sei und es dafür kein Ablaufdatum gäbe.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Nachdem Strittmatters Gedicht An meinen achtzenjährigen Sohn interpretiert wurde, wird nun Christoph Heins Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten mit Eva Strittmatters Gedicht unter dem Aspekt des Mutter-Kind-Verhältnisses in Beziehung gesetzt.
Hauptteil
- In Heins In seiner frühen Kindheit ein Garten ist Friederike Zurek, Mutter des ermordeten Olivers, eine sensible Frau, die der Tod ihres Sohnes enorm mitnimmt. Allerdings leidet sie im Stillen, von ihren Emotionen lässt sie sich meist in der nächtlichen Dunkelheit überwältigen.
- Friederike erinnert sich gerne an die Zeiten, in denen noch alles in Ordnung war, lange bevor ihr Sohn den Kontakt abbrach und schließlich ums Leben kam. So erinnert sie sich im Kreise der Familie beispielsweise am Vorabend der Beerdigung Olivers zurück an die Kindertage Olivers.
- Frau Zureks voller Fokus liegt auf ihrer Familie, genauer gesagt, auf ihren Kindern. Da sie selbst wenig eigene soziale Kontakte besitzt, sind ihre Tochter sowie ihre zwei Söhne ihr Lebensinhalt. Besonders im Hinblick darauf, dass ihre Ehe währenddessen eine untergeordnete Rolle spielt, über die Jahrre hinweg vernächlässigt wird.
- Nachdem Friederike eine harmonische Kindheit mit Oliver verbrachte, distanziert sich der Heranwachsende, der beginnt, zu radikalen Treffen zu gehen und dort einen Weg sucht, gegen die herrschende soziale Ungerechtigkeit vorzugehen. Dieser Bruch nimmt die Mutter sehr mit, jedoch findet sie keine Antworten auf ihre Fragen und muss sich in stiller Ohnmacht mit dem Umstand abgeben, dass Oliver nicht länger in ihrem Leben ist.
- Ebenso wie Friederike leidet auch das lyrische Ich in An meinen achtzehnjährigen Sohn unter der Distanz, dem Verlust des Kindes (Vgl. V. 1). Auch rührt die Mutter in Strittmatters Gedicht wie Frau Zurek die Situation mit ihrem Sohn zu Tränen (Vgl. V. 24)
- Der Sohn als kleiner Junge: Während indiskutabel ist, dass eine Mutter ihr Kind ein Leben als solches wahrnehmen wird, auch wenn es bereits längst erwachsen sein wird, ist auffällig, wie sehr beide Mutterfiguren in den Vergleichswerken sich auf ihre jeweiligen Söhne im Kindesalter beziehen. Während die Mutter bei Strittmatter ihren Sohn „mein Kleiner“ (V. 8) nennt, lebt auch für Friederike ihr Sohn besonders als kleiner Junge aus Kindertagen weiter.
- Die Sorge jeder Eltern bewahrheitet sich in beiden Fällen: Oliver Zurek schließt sich einer RAF-Gruppe an und auch wenn der Sohn in Strittmatters Gedicht „nur“ „Zigaretten [raucht]“ (V. 21), so stellt auch dieses Merkmal einen Schritt dar, der Distanz zwischen ihn und seine Mutter bringt. Dass das einst so unschuldige Kind sich ganz bewusst auf „gefährliches Terrain“ begibt, lässt beide Mütter hilflos zurück.
- Während es nicht klar ersichtlich ist, ob die Mutter in An meinen achtzehnjährigen Sohn ihr Kind weiterhin noch sieht (Vgl. 2) und nur eine emotionale Distanzierung stattgefunden hat, muss Friederike mit dem kompletten Kontaktabbruch ihres Sohnes umgehen.
- In den Worten des lyrischen Ichs im vorliegenden Gedicht schwingt eine gewisse Vorwurfshaltung sowie die Intention, Kontrolle über die Situation behalten zu wollen, (Vgl. V. 11 ff., V. 19) mit. Wiederum Friederike Zurek zeigt keine Anzeichen diesbezüglich. Stattdessen ist sie von einer tiefen Traurigkeit erfüllt, die gepaart mit dem Gefühl von Schuld und Scham im Bezug auf den Tod ihres Sohnes ist.
- Während das lyrische Ich im Gedicht über Endgültigkeit spricht (Vgl. V. 3 f.) im Bezug darauf, das eigene Kind „nicht [mehr] verstehe[n]“ (V. 4) zu können, gibt Friederike solange sie weiß, dass ihr Sohn noch am Leben ist, nicht die Hoffnung auf, dass er sich eine Tages wieder melden wird. Von einem fehlenden Verständnis ihrerseits ist außerdem keine Rede, auch wenn man interpretieren könnte, dass dies mit dem Kontaktabbruch und der daraus resultierenden Distanz impliziert wird.
Schluss
- Sich das eigene Kind als frühkindliche Version im Gedächtnis zu behalten, bewirkt, dass man die Erinnerung an den Sohn oder die Tochter in Verbindung mit den „guten, alten Zeiten“ bringt und sich somit vor den zwar kürzer zurückliegenderen, jedoch schmerzhafteren Erinnerungen schützt.
- In beiden Mutterfiguren wird eine Ohnmacht sichtbar, die der der Erkenntnis folgt, ihr Kind nicht länger vor den Schattenseiten des Lebens schützen zu können, da es seine eigenen Erfahrungen sammeln muss.