Thema 1
Gedichtinterpretation mit weiterführendem Vergleich
Thema:- Hermann Hesse (* 1877 - † 1962): Frühling (1907)
- Heinrich Heine (* 1797 - † 1856): Unterm weißen Baume sitzend (1830)
- Interpretiere das Gedicht von Hermann Hesse.
- Vergleiche die Gestaltung des Frühlingsmotivs in den Gedichten von Hermann Hesse und Heinrich Heine.
1
Es fahren leise junge Wolken durchs Blaue,
2
Kinder singen und Blumen lachen im Gras;
3
Meine müden Augen, wohin ich schaue,
4
Wollen vergessen, was ich in Büchern las.
5
Wahrlich alles Schwere, das ich gelesen,
6
Stäubt hinweg und war nur ein Winterwahn,
7
Meine Augen schauen erfrischt und genesen
8
Eine neue, erquellende Schöpfung an.
9
Aber was mir im eigenen Herzen geschrieben
10
Von der Vergänglichkeit aller Schöne steht,
11
Ist von Frühling zu Frühling stehen geblieben,
12
Wird von keinem Winde mehr weggeweht.
Aus: Hesse, Hermann: Die Gedichte 1892 - 1962. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1977, S. 246. Unterm weißen Baume sitzend Heinrich Heine
1
Unterm weißen Baume sitzend,
2
Hörst du fern die Winde schrillen,
3
Siehst, wie oben stumme Wolken
4
Sich in Nebeldecken hüllen:
5
Unterm weißen Baume sitzend,
6
Hörst du fern die Winde schrillen,
7
Siehst, wie oben stumme Wolken
8
Sich in Nebeldecken hüllen:
9
Plötzlich fallen auf dich nieder
10
Weiße Flocken, und verdrossen
11
Meinst du schon, mit Schneegestöber
12
Hab der Baum dich übergossen.
13
Doch es ist kein Schneegestöber,
14
Merkst es bald mit freud’gem Schrecken:
15
Duft’ge Frühlingsblüten sind es,
16
Die dich necken und bedecken.
17
Welch ein schauersüßer Zauber!
18
Winter wandelt sich in Maie,
19
Schnee verwandelt sich in Blüten,
20
Und dein Herz, es liebt aufs neue.
Aus: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar (Hg.): Heines Werke in fünf Bänden. Erster Band. Gedichte. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1964, S. 123 f.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Erste Teilaufgabe
Einleitung
- Das Gedicht Frühling von Hermann Hesse veröffentlicht der Autor im Jahr 1907.
- Epoche: Hermann Hesses Werke lassen sich keine bestimmten Strömung oder Epoche zuordnen, allerdings steht bei Hesse immer der einzelne Mensch als Individuum im Vordergrund wie sich auch im vorliegenden Werk zeigt.
- Thema: Frühling thematisiert das Erwachen der Natur im Frühling und die damit verbundene seelische Erneuerung des lyrischen Ichs. Der Frühling wird hier als Auslöser ambivalenter Empfindungen wie Hoffnung und Sorge charakterisiert.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- In der ersten Strophe des Gedichts wird die Wahrnehmung eines lyrischen Subjekts von der Frische und dem Frohsinn, die mit dem Erwachen des Frühlings einhergehen, dargestellt. Das lyrische Ich drückt den Wunsch aus, sich von den schweren Gedanken und dem in Büchern Erlernten zu lösen, wobei es auch auf eine gewisse geistige Erschöpfung hinweist.
- Im zweiten Abschnitt erlebt das lyrische Ich eine vorübergehende Erfüllung dieses Verlangens: Die Schwere und tiefgründige Betrachtungen weichen angesichts der lebendigen und erblühenden Natur. Es stellt sich ein Gefühl der Erneuerung und Stärkung ein, das durch die Rückkehr des Frühlings hervorgerufen wird.
- Die dritte Strophe reflektiert über die Einsicht des lyrischen Ichs in die Flüchtigkeit solcher glücklichen und hoffnungsvollen Augenblicke. Das Bewusstsein um die Vergänglichkeit aller Schönheit bleibt bestehen und wird als unauslöschlicher Teil der eigenen Lebenserfahrung akzeptiert.
- Die Struktur des Gedichts wird durch die Anordnung in drei Strophen mit jeweils vier Versen geprägt, die eine Atmosphäre von Kontrolle und intellektueller Klarheit vermitteln.
- Letztere Wirkung wird zusätzlich durch das konsequente Muster des Kreuzreims verstärkt. Im Gegensatz dazu reflektiert das freie Metrum die geistige Aktivität und spiegelt den Prozess des Nachdenkens wider.
- Die lyrische Instanz offenbart sich in einer introspektiven Sprechsituation, in der sie im Zwiegespräch mit sich selbst über ihre vielschichtigen Empfindungen beim Betrachten des einsetzenden Frühlings sinniert – ein charakteristisches Merkmal der Gedankenlyrik.
- Der Frühling wird als Symbol eines hoffnungsvollen Neubeginns, als eine „neue, erquellende Schöpfung“ (V. 8) dargestellt, welcher sich kontrastreich vom trübsinnigen „Winterwahn“ (V. 6) abhebt.
- Die poetische Evokation einer positiv besetzten und unbeschwerten Naturszenerie erfolgt durch die Beschreibung von Bewegung („fahren“, V. 1), Unschuld („junge Wolken“, V. 1; „Kinder“, V. 2), Lebensfreude („singen“ und „lachen“, V. 2), sowie der Personifizierung der Natur („junge Wolken“, V. 1; „Blumen lachen“, V. 2).
- Die Personifikationen werden durch akustische sowie visuelle Sinneswahrnehmungen („Kinder singen und Blumen lachen“; V. 2; „durchs Blaue“, V. 1) bereichert und intensivieren das Leseerlebnis der Szenerie.
- In Hermann Hesses Gedicht wird eine tiefgreifende, quasi-religiöse Erfahrung der Natur dargestellt, die sich in der Beschreibung einer „neuen, erquellenden Schöpfung“ (V. 8) manifestiert.
- Die lyrische Sprache ist durchzogen von einer subtilen Farbpalette, die sich in den Erwähnungen von [weißen] Wolken und dem „Blauen“ als Synonym für den Himmel sowie [bunten] Blumen und [grünem] Gras (Vgl. V. 2) widerspiegelt.
- Trotz der verlockenden Leichtigkeit des Frühlings vollzieht das lyrische Ich eine Abgrenzung und hinterfragt die Einmaligkeit dieser Jahreszeit, was am „Aber“ (V. 9) und „von Frühling zu Frühling“ (V. 11) deutlich wird.
- Die Welt des lyrischen Sprechers wird durch abstrakte Umschreibungen aus einem naturfernen Kontext gezeichnet, der auf eine theoretische Aneignung der Welt hindeutet („was ich in Büchern las“, V. 4; „alles Schwere, das ich gelesen“, V. 5; „[…] was mir im eigenen Herzen geschrieben / Von der Vergänglichkeit aller Schöne steht“, V. 9 f.).
- Eine melancholische Wahrnehmung der Welt („Meine müden Augen“, V. 3) erscheint als die vertrautere und beständigere Sphäre des eigenen Lebens („Wird von keinem Winde mehr weggeweht“, V. 12), die trotz ihrer potenziell desillusionierenden Wirkung zumindest Beständigkeit verspricht.
- Das Motiv der Augen als Spiegel innerer Befindlichkeit zeigt sich zunächst in ihrer Müdigkeit vom Lesen (Vgl. V. 3), wandelt sich jedoch später zu einem Zustand der Erfrischung und Genesung (Vgl. V. 7), was auf neue Energie und Aktivität beim Anblick der erwachenden Natur hindeutet.
- Das Herz wird als Ort dargestellt, an dem tiefgreifende Erfahrungen und Erkenntnisse bewahrt werden („was mir im eigenen Herzen geschrieben“, V. 9).
- Das Motiv der Sehnsucht schimmert durch bei der Betrachtung der lebendigen Natur: Das „Blaue“ (V. 1) bleibt als einziges undefiniertes Abstraktum im ansonsten konkret gestalteten Frühlingsbild stehen und könnte somit eine Bedeutungserweiterung erfahren, die Entgrenzung, Hoffnung oder Glauben einschließt.
- Das ambivalente Verhältnis zwischen Hoffnung und Resignation findet seinen Ausdruck im abschließenden Vers, wo das lyrische Ich trotz des Wandels und der Vergänglichkeit des Schönen eine Form von Beständigkeit in den wiederkehrenden Zyklen des Frühlings erkennt.
Schluss
- Der Frühling in Hesses Gedicht fungiert als Metapher für das Verlangen nach einem Dasein, welches frei von Belastungen ist.
- Es besteht eine Entfremdung zwischen dem Menschen und der natürlichen Welt, ein Verlust der Kapazität, sich der erhabenen Ästhetik und der Atmosphäre des Neubeginns, die die Natur bietet, ohne Vorbehalte zu öffnen.
- Diese Haltung spiegelt eine zurückhaltend-melancholische Sicht auf die Welt wider, die aus dem Bewusstsein um die ephemere Natur aller Schönheit resultiert.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Nachdem nun Hermann Hesses Frühling interpretiert wurde, folgt nun ein Vergleich der Gestaltung des Frühlingsmotivs in den Gedichten Frühling Hermann Hesse und Unterm weißen Baume sitzend von Heinrich Heine.
- Letzteres Werk publizierte Heine 1830 und ist damit der Epoche der Romantik zuordnen.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten- Der Frühling dient als Katalysator für eine introspektive Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenzustand. Diese Jahreszeit wird als ein archetypischer Augenblick für Wiedergeburt und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts verstanden.
- In der Gegenüberstellung von Frühling – charakterisiert durch Leichtigkeit, Vitalität und Heiterkeit – und Winter – assoziiert mit Härte, Schwere und Düsternis – manifestieren sich die jahreszeitlichen Archetypen als Allegorien für fundamentale emotionale Zustände des Menschen.
- Die sinnliche Erfassung der Natur sowie ihre Vermenschlichung spielen eine zentrale Rolle in der lyrischen Darstellung. Die Natur wird nicht nur beobachtet, sondern auch gefühlt und in ihrer Lebendigkeit fast als eigenständiges Wesen porträtiert.
- Eine unerwartete gedankliche Volte tritt auf, wenn wehmütige Reflexionen auf das Vergängliche nach einem Moment der Freude entstehen oder wenn eine anfängliche Fehlinterpretation eines Naturphänomens zu überraschender Freude führt. Diese Wendungen unterstreichen die Komplexität emotionaler Reaktionen auf die natürlichen Zyklen und Ereignisse, die uns umgeben.
- Die Natur als Gegenstand der Beobachtung bei Hesse steht der Natur als Ort des Erlebens bei Heine gegenüber.
- Die Natur veranschaulicht in beiden Werken den unverhofften Wandel vom winterlichen Liebesschmerz zur überschwänglichen frühlingshaften Liebesfreude. Jedoch erfolgt die Ablösung einer reflektierten Hochgestimmtheit bei Hesse durch melancholisch durchsetzte Reflexion, während sie bei Heine von einer depressiv-apathischen Grundstimmung in eine ebenso unreflektierte euphorisch-frohlockende Hochstimmung umschlägt.
- Es handelt sich um eine rationale Reflexion des Lebensgefühls im Vergleich zum Empfinden von Emotionalität und Liebe. Die dargestellten Erkenntnisse in Frühling weisen über das eigene Schicksal hinaus und sind allgemeingültig formuliert, während bei Heine das Gedankenspiel in der Du-Form am Ende die persönliche Erfahrung eines Individuums beschreibt.
- Die Darstellung der Gedanken erfolgt authentisch und ernsthaft, ohne inszeniertes Überraschtsein. In Hesses Frühling wird die unerfüllte Sehnsucht thematisiert, die jedoch in Unterm weißen Baume sitzend in unerwarteter Erfüllung mündet.
- In Hesses Gedicht existiert eine Leichtigkeit der vermittelnden Gestaltung durch einen gleichmäßigen Aufbau des Gedichts mit drei Strophen à vier Verse und Kreuzreim, jedoch ohne festes Metrum.
- Wiederum bei Heine findet man eine Gedichtform, die das Gefühl freudiger Erwartung unterstützt und aus fünf Strophen à vier Verse mit durchgängig trochäischem Metrum besteht, wobei teilweise unreine Reime verwendet werden (Vgl. V. 3 und 5).
- Des Weiteren zeigt sich ein Unterschied im Selbstgespräch des lyrischen Sprechers, das in der 1. Person Singular gehalten ist, im Vergleich zu einem Selbstgespräch, das ein deutliches Identifikationsangebot an die Leserschaft durch die Verwendung der 2. Person Singular bietet.
- Auch eine gedankliche Verdichtung und Tiefe wird in Frühling durch die Verbindung von konkreter und abstrakter Bildlichkeit erreicht, während in dem anderen Gedicht konsequent konkrete Naturbilder verwendet werden, um ein zunächst nicht stimmiges Erlebnis zu beschreiben, das auf die Gefühlswelt des lyrischen Sprechers verweist.
Schluss
- Die Unterschiede in der emotionalen Entwicklung, die der Frühling auslöst, sowie die daraus resultierenden Gedankengänge werden in beiden Gedichten deutlich.
- Einerseits wird der Frühling als Auslöser für reflektierte Gedanken eines reifen Sprechers dargestellt, während andererseits ein scheinbar spontanes Erleben eines jugendlich wirkenden Sprechers präsentiert wird.
- Beide Werke zeichnen sich durch ein gekonntes Spiel mit traditionellen Mustern und Topoi aus und überraschen die Leserschaft durch unerwartete Wendungen innerhalb den Schilderungen.