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Basiswissen

Thema 3

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Eugen Ruge (* 1954): Versuch über eine aussterbende Sprache. Dresdner Rede (2018)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Auszug aus der Rede zur Entwicklung der deutschen Sprache von Eugen Ruge. Berücksichtige auch sprachlich-gestalterische Mittel.
  • Erörtere ausgewählte Kernaussagen des Autors. Beziehe eigene Erfahrungen im Umgang mit der deutschen Sprache ein.
Der Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf der Erörterung.
Material
Versuch über eine aussterbende Sprache. Dresdner Rede
Eugen Ruge
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Yimas ist eine Sprache in Papua-Neuguinea. Sie wird noch von etwa dreihundert Personen
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in einem Seitental des Karawari gesprochen. Die Gemeinschaft der Yimas Sprechenden hat
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irgendwann beschlossen, ihren Kindern nicht mehr ihre Sprache weiterzugeben, sondern sie
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von Anfang an das melanesische Pidgin zu lehren, eine reduzierte Behelfssprache, in der
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die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den Nachbarvölkern abgewickelt werden. Ihre
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Sprecher lassen die Sprache bewußt sterben, weil sie – vermutlich zu Recht – davon
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ausgehen, dadurch die Chancen der nachfolgenden Generation im ökonomischen
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Wettbewerb zu erhöhen. [...]

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An dem Morgen, nachdem ich die E-Mail mit der Einladung zu dieser Rede bekommen
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hatte, hörte ich [...] im Radio die erstaunliche Meldung, daß die deutsche Sprache in
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zweihundert bis dreihundert Jahren aussterben wird. [...]

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Hatte ich etwas mißverstanden? Oder war ich wirklich dabei, einen Text zu verfassen in
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einer Sprache, die es in zweihundert oder dreihundert Jahren nicht mehr geben wird? Die
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Frage kann man mir als Eitelkeit auslegen. Erwarte ich etwa, daß ich in zweihundert oder
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dreihundert Jahren noch gelesen werde? Falls man in zweihundert oder dreihundert Jahren
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noch liest.

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Ich habe, schrecklicher Verstoß gegen die mir selbst auferlegte Arbeitsdisziplin, rasch im
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Netz nachgesehen: Büchner wurde vor zweihundertvier Jahren geboren. Schiller schrieb
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seine „Räuber“ vor zweihundertsiebenunddreißig Jahren, Goethe seinen „Werther“ vor
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zweihundertvierundvierzig. Wir lesen sie noch alle, und ich kann nicht sagen, daß sie auf
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mich besonders fern wirken. Sollte es möglich sein, fragte ich mich an diesem Morgen, daß
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die deutsche Literatur, einschließlich meines bescheidenen Werks, in zweihundert bis
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dreihundert Jahren als tote Bibliothek in den lichtgeschützten Kellern irgendeines Instituts
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herumstehen und, wie die Sprache der Yimas, nur noch für einzelne Experten entzifferbar
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sein würde?

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Mir fiel ein, daß meine Romane immerhin ins Englische übersetzt sind. Es bestand also die
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Hoffnung, daß auch der, an dem ich gerade arbeitete, irgendwann auf englisch verfügbar
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sein würde. Das hätte mich motivieren sollen, aber statt dessen ertappte ich mich dabei, wie
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ich einzelne deutsche Ausdrücke aus meinem Text, der übrigens von meiner Großmutter
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handelt, in das Online-Wörterbuch Linguee eingab:
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Das schöne Wort „Zubrot“: extra income.
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Die leicht empathische Wendung „in etwas aufgehen“: to merge into something.
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Der Anzug, den man so lange trägt, bis er „abgetragen“ ist: worn out suit.
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Damit keine Mißverständnisse entstehen: Ich will die deutsche Sprache vor keine andere
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stellen. Und gewiß finden kluge Übersetzer treffendere Ausdrücke als ein Online-Wörter-
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buch. Dennoch glaube ich aus meiner eigenen Erfahrung als Übersetzer sagen zu können,
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daß der Reichtum jeder Sprache gerade in ihren Absonderlichkeiten, ihren Abweichungen,
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ihren unnachahmlichen Konstruktionen und Wendungen besteht; gerade in dem also, was
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sich schwer, mitunter auch nicht übersetzen läßt. [...]

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Die Nachricht vom bevorstehenden Untergang der deutschen Sprache hatte sich, ohne daß
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ich darüber nachgedacht hätte, verbunden mit dem Unbehagen am Überhandnehmen des
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Englischen in unserem Sprachraum. Natürlich kenne ich dieses Unbehagen seit langem. Oft
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habe ich mich schon über Anglizismen mokiert. Allerdings kamen mir meine Beschwerden
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manchmal auch ein wenig altbacken vor. Ich verdächtigte mich insgeheim der Befangenheit,
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denn natürlich habe ich immer das Gefühl, nicht gut genug Englisch zu sprechen. Natürlich
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bin ich ein bißchen neidisch auf die jungen Leute, die ihr Englisch irgendwie im Schlaf zu
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lernen scheinen. [...]

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Deutsche Großunternehmen führen Englisch längst als Verkehrssprache ein; selbst der
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Geschäftsführer einer Kuchen- und Keksfabrik berichtete mir kürzlich, daß man anfängt,
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interne Veranstaltungen auf englisch durchzuführen. Die Belegschaften kleinerer, neu-
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gegründeter Unternehmen, die um die Mittagszeit in kleinen Grüppchen durch Prenzlauer
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Berg ziehen, sprechen untereinander fast immer Englisch. Selbst deutsche Germanisten
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beginnen inzwischen, Texte über die deutsche Sprache auf englisch zu verfassen: „for the
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sake of competitiveness“.

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Bei technischen Neuerungen wird schon seit langem nicht mehr versucht, deutsche
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Ausdrücke zu finden, im Gegenteil, das Englische wird gesucht. Der Airbag ist eine
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Erfindung von Daimler. [...]

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Sprachen ändern sich. Sprachen bereichern einander. Schon immer, seit ihrem Bestehen,
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war die deutsche Sprache dem Einfluß anderer Sprachen ausgesetzt. Ich würde noch weiter
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gehen: Sie ist im Grunde entstanden aus dem Zusammenfließen, ja aus dem Zusammen-
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prall des Lateinischen mit den großen germanischen Dialekten. [...]

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Nur spreche ich hier nicht vom Wandel, sondern vom Aussterben – ein Phänomen, das
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allerdings ebenso real ist wie der Wandel. Achtzig Prozent aller – noch – existierenden
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Sprachen sind bedroht, sagen die Linguisten. Und etwa jede Woche stirbt eine. [...]

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Gibt es eine Tendenz bei den Deutschen, ihre Sprache als weniger nützlich anzusehen? Als
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ökonomisch weniger brauchbar? Als weniger geeignet für den globalen Wettbewerb? [...]

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Schon heute sind Englischkenntnisse ein Distinktionsmerkmal. Schon heute kann kein
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Akademiker ohne Englisch auskommen – und Akademiker gibt es, wie wir wissen, immer
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mehr. Schon heute ist Englisch eine Tür zum Arbeitsmarkt, eine Eintrittskarte in die
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Gesellschaft. Wer kein Englisch kann, ist mit einem Makel behaftet; er ist, wenn nicht heute,
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dann morgen, ein Sonderling mit Tendenz zum geistigen Prekariat – was übrigens einer von
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vielen Gründen dafür sein mag, daß viele Ostdeutsche sich abgehängt oder ausgeschlossen
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fühlen, auch wenn sie materiell nicht prekär gestellt sind: Sie sprechen nicht – oder nicht
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ausreichend – Englisch.

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Und je wichtiger das Englische wird, desto mehr gerät das Deutsche unter Druck, und desto
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mächtiger wird wiederum das Englische. Es ist ein Prozeß, der sich selbst beschleunigt, eine
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Kettenreaktion. Wenn Sie in einer staatlichen Institution anweisen, daß alle E-Mails in zwei
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Sprachen geschrieben werden, werden sie selbstverständlich bald nur noch in Englisch
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geschrieben. Wenn wir heute Englischunterricht ab der ersten Klasse einführen, dann
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werden ehrgeizige Eltern ihre Kinder schon im Kindergarten Englisch lernen lassen. Und
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Kinder von Eltern, die selbst schon im Kindergarten Englisch gelernt haben, werden
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anfangen, mit ihren Kindern zu Hause Englisch zu sprechen, um die Chancen der
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nachfolgenden Generation im ökonomischen Wettbewerb zu erhöhen.

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Glauben Sie wirklich, daß es noch dreihundert Jahre dauern wird, bis das Deutsche
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ausstirbt? [...]

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Ich habe nicht gewußt, wie diese Rede endet. Als ich sie, irritiert durch eine Radiomeldung,
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zu schreiben begann, war ich, zugegeben, ein bißchen darauf aus, Sie zu erschrecken. Jetzt
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bin ich selbst erschrocken. Je länger ich über die Chancen der deutschen Sprache in Zeiten
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der Globalisierung und Digitalisierung nachdenke, desto mehr komme ich zu der Über-
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zeugung, daß sie untergehen wird.

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Alles spricht gegen sie: das unerbittliche Gesetz des Nutzens, man kann es Kapitalismus
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nennen; unsere blinde Verehrung für die US-amerikanische Kultur; die Katastrophe des
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Nazismus, der diese Sprache entstellt und verwundet hat und nicht aufhört, sie zu entstellen
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und sie zu verwunden; das Internet mit seinen Reinigungsphantasien und Schmutzkam-
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pagnen; und nicht zuletzt die mangelnde Zuneigung ihrer Sprecher. [...]

Aus: Ruge, Eugen: Versuch über eine aussterbende Sprache. Dresdner Rede. In: Sinn und Form.
Beiträge zur Literatur. Hg. von der Akademie der Künste, 70. Jahr, 2018, 3. Heft, Mai/Juni, S. 356 - 372.

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