Thema 1
Gedichtinterpretation
Thema: Georg Heym (* 1887 - † 1912): Gefangenen II (1910) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht Die Gefangenen II von Georg Heym. (ca. 80%)
- Erläutere, inwiefern das Gedicht als beispielhaft für den Umbruch in der Literatur um 1900 gelten kann. (ca. 20%)
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Sie trampeln um den Hof im engen Kreis.
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Ihr Blick schweift hin und her im kahlen Raum.
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Er sucht nach einem Feld, nach einem Baum,
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Und prallt zurück von kahler Mauern Weiß.
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Wie in den Mühlen dreht der Rädergang,
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So dreht sich ihrer Schritte schwarze Spur.
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Und wie ein Schädel mit der Mönchstonsur,
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So liegt des Hofes Mitte kahl und blank.
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Es regnet dünn auf ihren kurzen Rock.
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Sie schaun betrübt die graue Wand empor,
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Wo kleine Fenster sind, mit Kasten vor,
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Wie schwarze Waben in dem Bienenstock.
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Man treibt sie ein, wie Schafe zu der Schur.
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Die grauen Rücken drängen in den Stall.
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Und klappernd schallt heraus der Widerhall
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Der Holzpantoffeln auf dem Treppenflur.
Aus: Heym, Georg: Werke. Hg. von Gunter Martens. Stuttgart: Reclam 2006, S. 13 f.
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Einleitung
- Das 1910 verfasste Gedicht Die Gefangenen II von Georg Heym thematisiert das monotone und entmenschlichte Dasein von Häftlingen in einem Gefängnishof. Es ist ein eindringliches Beispiel für die expressionistische Lyrik der frühen Moderne, die mit drastischer Bildsprache und gesellschaftskritischem Ton den Zerfall der modernen Welt und die existenzielle Vereinsamung des Menschen auslotet.
Hauptteil
- Bereits die erste Strophe schildert eindrucksvoll die Ausweglosigkeit und Monotonie des Gefängnisalltags. Die Gefangenen „trampeln um den Hof im engen Kreis“ (V. 1), ein Bild für stumpfe Wiederholung und räumliche wie geistige Begrenztheit. Die Bewegung im Kreis symbolisiert dabei nicht nur physische Eingeschlossenheit, sondern auch eine existentielle Sackgasse. Die „Blick[e]“ (V. 2) der Häftlinge „schweif[en] hin und her“ (V. 2), doch alles, worauf er trifft, ist der „kahle Raum“ (V. 2). Der Wunsch nach Natur – nach einem „Feld“ (V. 3) oder „Baum“ (V. 3) – scheitert an der Unmöglichkeit des Entkommens: Der Blick „prallt zurück von kahler Mauern Weiß“ (V. 4). Die Mauer wird hier nicht nur als physische Begrenzung, sondern als Symbol für das Scheitern menschlicher Sehnsucht nach Freiheit inszeniert.
- Die zweite Strophe intensiviert das Bild der Entmenschlichung und mechanisierten Existenz. Die „schwarze Spur“ (V. 6) der Schritte erinnert an einen „Rädergang“ (V. 5) in „Mühlen“ (V. 5), also an einen unaufhörlich rotierenden Mechanismus, in dem der Mensch zum Teil eines Systems wird. Das Individuum geht in der Masse unter, wird anonym und austauschbar. Besonders eindrucksvoll ist das Bild des Gefängnishofs als „Schädel mit der Mönchstonsur“ (V. 7), das durch die kahlgelassene Mitte des Hofs suggeriert wird (Vgl. V. 8). Dieses Bild erzeugt nicht nur eine Assoziation zu Tod und Schädeln, sondern evoziert auch religiöse Assoziationen – als sei das Gefängnis ein Ort leerer, ritueller Buße, jedoch ohne spirituelle Erlösung.
- In der dritten Strophe tritt das Leiden der Gefangenen stärker in den Vordergrund. Der Regen auf dem „kurzen Rock“ (V. 9) verweist auf ihre bloßgelegte, schutzlose Körperlichkeit. Ihre Blicke richten sich „betrübt“ (V. 10) an der grauen Wand entlang nach oben, in der Hoffnung auf einen Ausblick oder einen Lichtstrahl – doch auch hier ist die Aussicht versperrt: Die Fenster sind klein und durch Gitter „mit Kasten vor“ (V. 11) versperrt. Der Vergleich mit „schwarze[n] Waben in dem Bienenstock“ (V. 12) zeigt eine doppelbödige Metaphorik: Die Gefangenen sind Teil eines kollektiven Systems wie Arbeitsbienen, jedoch ohne produktiven Sinn. Ihre Existenz ist funktionalisiert, standardisiert – jede Zelle gleich, jeder Mensch reduziert auf einen Platz im Raster.
- Die letzte Strophe spitzt die Dehumanisierung zu. Die Gefangenen werden „wie Schafe zu der Schur“ (V. 13) in den Bau getrieben – ein Bild für die völlige Entmündigung, das sie nicht als denkende Individuen, sondern als wehrlose Tiere zeichnet. Die „grauen Rücken“ (V. 14) betonen erneut die Uniformität und Anonymität der Häftlinge. Das Bild des „Stalls“ verweist auf Tierhaltung – die Gefangenen verlieren ihren Status als Menschen. Der Schlussvers verstärkt diesen Eindruck auditiv: „klappernd schallt heraus der Widerhall / Der Holzpantoffeln auf dem Treppenflur“ (V. 15 f.). Die Menschheit reduziert sich auf das mechanische Geräusch der Schuhe – keine Stimmen, keine Namen, nur dumpfes Echo in einem trostlosen Gebäude.
Fazit
- Heyms Gedicht zeigt eine absolute Entfremdung des Menschen. Die Häftlinge sind körperlich wie geistig eingesperrt, ihrer Identität beraubt, und in einem System gefangen, das sie entmenschlicht. Die durchgängige Bildsprache – vom Mühlenräderwerk über den kahlen Schädelhof bis zum Bienenstock – verstärkt die Vorstellung einer automatisierten Welt ohne individuelle Bedeutung.
- Die existenzielle Einsamkeit, die Sehnsucht nach Leben und Natur, die Versperrung des Blicks und der Identitätsverlust machen das Gedicht zu einem zentralen Ausdruck moderner, expressionistischer Lyrik.
Teilaufgabe 2
- Georg Heyms Die Gefangenen II lässt sich exemplarisch in die literarischen Umbrüche um 1900 einordnen, insbesondere in den Kontext des frühen Expressionismus. Diese literarische Strömung entwickelte sich als Reaktion auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch Industrialisierung, Urbanisierung und politische Desillusionierung im Kaiserreich.
- Ein zentrales Merkmal des Expressionismus ist die Darstellung innerer Zustände in extremen, teils grotesken Bildern – auch bei Heym deutlich zu erkennen. Die Darstellung der Gefangenen als stumpfe Schafe (Vgl. V. 13), als Maschinenbestandteile (Vgl. V. 5) oder als anonymisierte Bienen im Stock (Vgl. V. 12) folgt der expressionistischen Strategie, die Entfremdung und Identitätskrise des modernen Menschen radikal zu überzeichnen.
- Zugleich steht das Gedicht in scharfem Kontrast zur noch im 19. Jahrhundert dominierenden Ästhetik des Realismus oder Naturalismus. Wo jene auf genaue Außenbeschreibung und soziale Typisierung setzten, bricht Heym mit traditionellen Formen und setzt auf symbolhafte und emotionale Verdichtung.
- Auch die Kritik an Institutionen – in diesem Fall dem Gefängnis als Metapher für die Gesellschaft – ist typisch für die Literatur um 1900. Das Gefängnis fungiert hier als pars pro toto für eine Welt, in der der Mensch nicht mehr Subjekt, sondern Objekt eines entfremdeten Systems ist. Die Bewegung im „Kreis“ (V. 1) kann als Sinnbild für eine Gesellschaft ohne Ausweg gelesen werden, in der kein Fortschritt, sondern nur Wiederholung möglich ist.
- Zudem verweist das Gedicht mit seiner düsteren, trostlosen Atmosphäre auf die wachsende Zivilisationskritik der Zeit. Die Moderne wird nicht mehr als Fortschritt gefeiert, sondern als Ursache für Vereinzelung, Entfremdung und seelischen Verfall dargestellt. In dieser Hinsicht ist Heyms Gedicht ein Vorläufer der Katastrophenvisionen späterer Expressionisten und damit ein zentrales Zeugnis des literarischen Umbruchs.