Thema 2
Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag
Thema: Christoph Hein (* 1944): In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) Peter Mohr (* 1960): Gerechtigkeit um jeden Preis (2005) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Schluss des Romans In seiner frühen Kindheit ein Garten von Christoph Hein. (ca. 70 %)
- Überprüfe auf der Grundlage deiner Lektüreerfahrungen mit Christoph Heins Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten die Gültigkeit des Rezensenten Peter Mohr. (ca. 30 %)
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[...] Zurek machte sich auf den Weg nach Hause, am Markt kehrte er um und ging zum
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Mariannenplatz. Er betrat den Blumenladen und sah sich um, Susanne Parlitzke war nicht zu
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erblicken.
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„Was wünschen Sie?“, fragte ihn Frau Gerlach, eine vierzigjährige Frau, die zusammen mit
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ihrem Mann die Blumenhandlung besaß.
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„Rosen“, sagte Zurek, „ich brauche zweiundvierzig Rosen. Haben Sie so viele?“
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„Aber gewiss. Wie groß und welche Farbe?“
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Susanne Parlitzke kam aus dem angrenzenden Nebenraum herein.
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„Ich habe dich gleich an der Stimme erkannt, Richard. Lass mich ihn bedienen, Chefin, er ist
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mein Vorzugskunde. Zweiundvierzig Rosen, hat deine Frau Geburtstag? Nein, ihr habt
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Hochzeitstag, stimmt's?“
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„Nicht ganz, Suse. Heute hat mein Sohn Geburtstag. Und früher, als die Kinder noch daheim
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waren, bekam meine Frau immer zu den Geburtstagen einen Blumenstrauß von mir. In den
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letzten Jahren hatte ich es allerdings vergessen.“
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„So sind Männer. Dann komm mal mit. Ich zeige dir, was wir Schönes haben. Soll ich dir die
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Rosen ins Haus liefern lassen? Der Kleine von der Chefin kann sie dir bringen, sie werden
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noch vor dir bei euch sein. Gehört zum Service.“
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„Das wäre sehr schön, Suse.“
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Nachdem er die Rosen ausgesucht und bezahlt hatte, ging er zum alten Bahnhofsgebäude
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und betrat die Gaststätte. Der Wirt, sein Schulfreund Fred Plöger, begrüßte ihn herzlich. Zurek
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sagte, er wolle am Abend mit seiner Frau zu ihm essen kommen, und fragte, was er Gutes
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anzubieten habe. Plöger empfahl ihm einen Zander, Zurek war damit einverstanden und sagte,
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er brauche auch einen guten Wein dazu, einen sehr guten Wein.
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„Kein Problem“, sagte Plöger, „feine Weine habe ich ausreichend. Und für dich mache ich
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sogar einen Vorzugspreis.“
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„Das nehme ich gern an. Danke. Irgendwie ist das Geld immer zu knapp.“
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„Rede keinen Unsinn, Richard. Ihr Beamten habt alle eine sichere Pension. Du kannst dein
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Leben genießen, ich dagegen muss heute noch arbeiten.“
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„Was ist heutzutage schon sicher, Fred? Also bis nachher. Ich denke, wir werden gegen sieben
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bei dir sein.“
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Sie verabschiedeten sich mit Handschlag. Plöger brachte seinen Schulfreund bis zur Tür.
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Richard Zurek ging nach Hause. Die ihm entgegenkommenden Bekannten grüßte er
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freundlich. Er fühlte sich unternehmungslustig. Als seine Frau ihm die Tür öffnete, begrüßte
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sie ihn mit der Mitteilung, dass sie soeben fünfzig Rosen erhalten habe, wundervolle Rosen,
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jedoch der Blumenbote habe ihr nicht sagen können, von wem sie seien.
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„Du hast dich verzählt, Rike. Natürlich sind es zweiundvierzig Rosen.“
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Sie strahlte ihn an und küsste ihn gerührt. Als sie sich erkundigte, wie es in der Schule
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gegangen sei, sagte er zu ihr: „Heute habe ich keinen Tag verloren, Rike. Zieh dich um,
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Mädchen, wir gehen im Bahnhof essen.“
Aus: Hein, Christoph: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 269-271. Material 2 Gerechtigkeit um jeden Preis Peter Mohr
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[...] Christoph Hein hat die Figur des Richard Zurek allzu sehr vereinnahmt und ihr dadurch
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jegliche Eigendynamik geraubt. Der Vater als Gerechtigkeitsfanatiker, der in Nibelungentreue
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an die Unschuld seines Sohnes glaubt, den er zehn Jahre lang nur durch Fahndungsfotos zu
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sehen bekam? Man hätte sich von Christoph Hein [...] ein wenig mehr Ambivalenz in den
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Figuren gewünscht.
Aus: Mohr, Peter (2005): Gerechtigkeit um jeden Preis.
Letzter Zugriff am 15.03.2022. Peter Mohr ist ein deutscher Journalist.
Figurenverzeichnis
Figur | Funktion |
---|---|
Dr. Richard Zurek | ehemaliger Schuldirektor |
Friederike Zurek | Ehefrau |
Christin, Oliver, Heiner | Kinder des Ehepaares Zurek |
Feuchtenberger | Anwalt der Familie Zurek |
Katharina Blumenschläger | Olivers Freundin |
Lutz Immenfeld | Schulfreund von Richard Zurek |
Kobelius | Schuldirektor, Nachfolger von Richard Zurek |
Susanne Parlitzke | Verkäuferin im Blumengeschäft, ehemalige Geliebte von Richard Zurek |
Fred Plöger | Gastwirt, Schulfreund von Richard Zurek |
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Teilaufgabe 1
Einleitung
- Vorliegender Textausschnitt aus dem Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten wurde von Christoph Hein geschrieben und 2005 in Frankfurt a. M. im Suhrkamp-Verlag publiziert.
- Kontextuelle Einbettung: Christoph Hein beschäftigt sich in seinem Werk mit dem RAF-Terrorismus, indem er den Protagonisten Oliver Zurek als RAF-Terroristen agieren lässt. Oliver nimmt sich allerdings das Leben und im Folgenden wird über die Länge der Handlung hinweg der nun darauffolgende Kampf der Eltern Friederike und Richard mit der Justiz beschrieben. Dass Richard selbst als damals amtierender Schuldirektor ein Staatsdiener ist, verkompliziert den Sachverhalt sowohl in juristischer als auch in emotionaler Hinsicht.
- Thema: Die abgebildete Szene stellt das Ende Christoph Heins Romans dar. Es wird beschrieben, wie Richard Zurek seiner Frau Friederike einen Strauß Rosen im Blumengeschäft kauft und sie außerdem für den Abend zum Dinner ausführen wird.
- Deutung: In der Schlussszene im Werk In seiner frühen Kindheit ein Garten geht es um das Wiederaufleben des Ehelebens der Zureks und in Anbetracht der emotionalen Dürreperiode, durch welche ihre Partnerschaft aufgrund des Verlusts ihres geliebten Sohnes Oliver gehen musste, ist dies als ein sehr wichtiger und positiver Schritt nach vorne zu sehen, welcher dem Werk eine Art Happy Ending verleiht.
Interpretation
- Dem vorliegenden Textausschnitt geht voraus, dass Richard Zurek in seiner ehemaligen Schule eine Abschlussrede hält, welche er damit schließt, dass er sich seiner Verpflichtung und damit dem Eid gegenüber dem Staat entbindet. Mit dieser Entscheidung ist Richard Zurek sehr zufrieden und er scheint das Schulgebäude losgelöster zu verlassen, als er es betreten hat.
- Eingangs kauft Richard Zurek für seine Frau Friederike in einer „Blumenhandlung“ (Z. 5) einen Strauß mit „zweiundvierzig Rosen“ (Z. 6), was eine in Vergessenheit geratene Tradition des Ehemannes gegenüber seiner Frau darstellt. Dies ist als Hinweis darauf zu verstehen, dass die über die Jahre so in Mitleidenschaft gezogene Partnerschaft nun wieder zunehmend priorisiert wird von den Zureks.
- Besonders an der Szene ist auch, dass Zurek die Rosen bei Susanne Parlitzke kauft, seiner ehemaligen Geliebten. Dass er dies direkt nach seiner Entscheidung, von nun an sein Eheleben zu priorisieren, auf Susanne trifft, verstärkt auch nochmal die Endgültigkeit seiner Entscheidung. Denn die Bumen, die er bei seiner einstigen Geliebten kauft, sind für seine Frau Friederike und damit setzt er ein Exempel für die zukünftige Treue zu seiner Frau.
- Anlässlich der Geburtstage ihrer beider Kinder überreichte Richard seiner Frau früher immer einen Strauß Rosen. Der heutige Tag ist Olivers Geburtstag, und auch wenn sein Sohn inzwischen verstorben ist, möchte Zurek den Brauch mit seiner Frau wieder aufleben lassen. Dass Richard Zurek sich trotz des nach wie vor bestehenden Schmerzes über den Verlust des Sohnes dazu entscheidet, die alte Tradition wieder einzuführen, zeigt auch, dass der Heilungsprozess begonnen hat.
- Anschließend begibt sich Richard auf den Weg in das Restaurant im „alten Bahnhofsgebäude“ (Z. 19) und reserviert dort einen Tisch für sich und seine Frau für denselbigen Abend.
- Zu Hause erwartet ihn schon seine vor Freude strahlende Frau, die soeben die Lieferung an Rosen erhalten hat. Zurek weist sie darauf hin, dass es sich nicht um fünfzig, sondern genau zweiundvierzig Rosen handelt und kündigt Friederike das bevorstehende gemeinsame Abendessen „im Bahnhof“ (Z. 39) an.
- Die spezifische Anzahl der zweiundvierzig Rosen stammt daher, dass Friedrikes und Richards Sohn Oliver inzwischen 42 Jahre alt wäre.
- Anhand des glücklichen Ausdrucks in Friederikes Gesicht ist zu erkennen, wie sehr sie die Geste ihres Mannes zu schätzen weiß. Es wirkt so, als ob die Schwere der vergangenen Wochen und Monate nun etwas Leichtigkeit weichen würde. Dies lässt sich unter anderem daran festmachen, dass Richard seine Frau etwa „Mädchen“ (Z. 39) nennt.
- Die vorliegende Szene am Ende des Romans repräsentiert auch noch einmal den Charakter Richard Zureks, welcher sich durch den Roman hinweg als einfühlsamer Ehemann gegenüber seiner Frau Friederike erweist. So bewahrt er Friederike während des Prozesses etwa vor Zeitungsartikeln, die ihre Gefühle verletzen könnten. Das Ehepaar leistet sich gegenseitig Beistand und Unterstützung nach dem Tod ihres Sohnes, dies zeigt sich auch in der Schlussszene des Romans.
- In seiner frühen Kindheit ein Garten ist ein Werk, indem es um Politik, aber auch um das Verarbeiten und dem Umgang mit dem Verlust geliebter Menschen und Angehöriger geht.
- Während sich das Ehepaar Zurek im Laufe des Romans immer weiter voneinander entfremdet, da sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit dem Verlust ihres Sohnes und dem anschließenden gerichtlichen Prozedere umgehen, wirkt die finale Szene in In seiner frühen Kindheit ein Garten wie ein hoffnungsvoller Lichtstreif am Horizont für das Eheleben von Friederike und Richard.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Heins Werk In seiner frühen Kindheit ein Garten erfuhr neben Nominierungen für die Bestsellerliste und den Deutschen Buchpreis auch scharfe Kritik.
- Um im Rahmen dieser Aufgabe eine umfassende Analyse zu gewährleisten, wird nun im Folgenden die Position des Rezensenten Peter Mohr zur Figur Richard Zurek im Gesamtkontext des Werks von Christoph Hein beleuchtet und überprüft.
Hauptteil
- Mohr hängt Christoph Hein „Vereinnahmung“ (Vgl. Z. 1) und „Gerechtigkeitsfanatismus“ (Vgl. Z. 2) in der Ausarbeitung Richard Zureks Figur als Vater und Ehemann an. Laut des Rezensenten bewegt sich Hein damit in einem sehr eindimensionalen Spektrum und die Charakterisierung des Protagonisten in In seiner Kindheit ein Garten büßt damit enorm an Komplexität ein.
- Was der Rezensent als „mangelnde Ambivalenz“ (Vgl. Z. 4) bezeichnet, kann auch als eine in sich stimmige Zuschreibung von Eigenschaften in Richard Zurek gesehen werden. Ohne Frage fällt der Familienvater, Schuldirektor und Ehemann Friederike Zureks selten, um nicht zu sagen, nie aus seiner Rolle – doch muss er dies? Nur, um einem angeblichen Authentizitätsanspruch gerecht zu werden?
- Was, wenn die Figur Richard Zurek keine ambivalente Figur ist? Oder ihre möglicherweise existente innere Zerrissenheit nicht nach außen tragen möchte, da es sie sonst zugrunde richten würde?
- Insbesondere die finale Szene im Roman bietet jedoch auch ausreichend Beweise, dass Olivers Vater als Charakter nicht stagniert, sondern kurz vor Ende noch einmal all das infrage stellt, woran er sein Leben lang als treuer Diener des Staates geglaubt hat. Davon trennt sich Richard Zurek und kehrt ganz bewusst seiner Tätigkeit als Staatsträger den Rücken zu, bevor er zu seiner Frau heimkehrt.
Schluss
- Hein einen zu oberflächlichen Ansatz in der Charakterfindung seiner Protagonisten vorzuwerfen, scheint mir zu kurz gedacht. Womöglich ist es eben jene, beinahe stoisch anmutende Gradlinigkeit, welche Mohr aufzustoßen scheint, die Hein beabsichtigt und dazu veranlasst, Zurek genau so zu charakterisieren.
- Gleichzeitig versucht Christoph Hein nicht krampfhaft, Richard Zurek als Gutmenschen zu porträtieren – warum sonst hätte er ihn beispielsweise eine Affäre mit Susanne Parlitzke haben lassen? Dieser Umstand steht exemplarisch dafür, dass Zurek zwar sein Bestes gibt, um die Menschen um ihn herum mit Fürsorge zu behandeln, jedoch auch nur ein Mensch ist, der Fehler macht und mit den Konsequenzen dieser leben muss.
- Mohrs Meinung über eine angeblich zu eindimensionale Charakterisierung der Figur des Richard Zurek ist erklärbar, findet jedoch keine eindeutige Rechtfertigung, wenn man den Protagonisten im Gesamtkontext des Werkes sieht.