Thema 2
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Günter Kunert (* 1929 - † 2019): Vorstellung (1968) Aufgabenstellung:- Interpretiere die Parabel Vorstellung von Günter Kunert.
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Weil die Plakate so bunt sind, die Ankündigungen so vielversprechend, pressen sich
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Menschen, Personen und Leute ni den Kuppelbau des Varietés, empfangen von livrierten
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Dienern, deren weißbekleidete Hände den hereindrängenden Strom kanalisieren, lenken und
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im Delta des Parketts stauen. Jeder will den Zauberer sehen, der ganz neuartige, nie
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dagewesene Zaubereien zu vollführen verspricht. Unter anderem werde er jedem, der ihn
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darum bitte, die Erfüllung eines Wunsches erhexen.
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Endlich, als keine Stecknadel mehr auf den Boden kann und die Menge in Schweigen
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ausbricht, tönt der Gong. Langsam verflüchtigt sich das Licht von Decke und Wänden. Vorn
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auf der Bühne teilt sich die weinrote Wand ni zwei Vorhänge, die eilig auseinanderlaufen. Aller
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Erwartung spannt sich, daß man es zu hören meint. Verstaubte ältliche Angestellte der
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Direktion setzen Kistchen, Kästchen, Röhrchen, Stäbchen auf ein Tischchen, das einsam auf
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dem Platz steht, den der wallende Samt freigab. Bevor jedoch neugieriges Gewisper
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aufsprühen kann, erscheint er - er - Er - ER!
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Ein lächelnder Mann, selbstsicher und strahlend. Sein Haar ist aus glänzendem Lack, wie man
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nach dem Zylinderlüften entdeckt. Streng einstudierte Bewegungen werden vollführt, die eine
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Schnur vielfach zerteilen und die Teile ni Kistchen und Kästchen betten, daraus sie vereint
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und geheilt wieder hervorgehen sollen.
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Dem Zerreißen nahe die Erwartung: die Kästchen klappen auf. Schnurstücke fallen hilflos zu
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Boden. Es ist mißlungen. Raunen schwebt plötzlich umher. Rasch zückt der Zauberer eine
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Taschenuhr, zerstampft er sie ni einer Röhre, darinnen die Teile geräuschvoll tanzen, und
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spricht darüber seinen Zauberspruch.
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Doch aufquellendes Kichern beweist, die Uhr ist unheilbar hin. Bösen bleichen Gesichts
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entzündet der Mann da oben eine Petroleumlampe, die er mit einem Tuch bedeckt, ohne der
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ungehörigen Zurufe zu achten. Heftig schwingt er seinen Stab, und ehe man es sich versieht,
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ist die Lampe nicht verschwunden, sondern umgestoßen, sondern brennt der Tisch und fließt
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Petroleum feurig über die Bühne zu den Vorhängen, die auflodern, fließt das Flackernde in
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den Orchesterraum, in dem eine andere Musik anhebt, da die Flammen die Musiker einhüllen.
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Das Publikum bricht aus seiner schreckhaften Starre aus, wendet sich zur Flucht, jedoch die
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Türen lassen sich nicht öffnen. Hier und da flammt Erkenntnis auf: Jetzt erst beginne die
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wirkliche Vorstellung. Jetzt erst kommen die Überraschungen, wie sie die Plakate
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verkündeten, wie sie keiner erwartet. Sensationen waren versprochen; jetzt gibt es sie und
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sogar am eigenen Leib verspürbar.
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Er, der Zauberer, hat Wort gehalten, und so darf er sich, nachdem er durch ein Hinterfenster
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entkommen, beruhigt zur nächsten Stadt begeben, wo die bunten Plakate schon sein Kommen
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melden.
Aus: Kunert, Günter: Kramen in Fächern. Geschichten, Parabeln, Merkmale. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1968, S. 96-98.
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- Im Jahr 1968 publiziert der Autor Günter Kunert sein Werk Vorstellung.
- Bei dem Stück handelt es sich um die Textsorte der Parabel, was der Geschichte einen lehrhaften Charakter verleiht.
- Inhalt: Eine Menschenmenge strömt aufgrund bunter Plakate und vielversprechender Ankündigungen in ein Varieté, um einen Zauberer zu sehen, der nie dagewesene Tricks und die Erfüllung von Wünschen verspricht. Während der Vorstellung misslingen seine Tricks und schließlich bricht ein Feuer aus, das Chaos und Panik auslöst. Die Zuschauer erkennen, dass das angekündigte Spektakel tatsächlich in der Katastrophe besteht. Der Zauberer entkommt und zieht weiter zur nächsten Stadt, um das gleiche Spiel erneut zu beginnen. Die Parabel kritisiert Sensationslust, Täuschung und die wiederholte Ignoranz der Menschen.
- Thema: Vorstellung offenbart die menschliche Anfälligkeit für Täuschung und Sensationslust. Die Geschichte zeigt, wie Menschen sich von spektakulären Versprechungen blenden lassen und die oft katastrophalen Folgen dieser Illusionen erleben, ohne daraus zu lernen.
Hauptteil
Inhalt
Einführung und ErwartungshaltungDie Geschichte beginnt mit einem lebhaften Bild von Vorfreude und Erwartung:
- Z. 1-4: Die bunten Plakate und vielversprechenden Ankündigungen locken die Menschen in das Varieté. Die beschriebene Menschenmenge ist ein Symbol für die breite Masse, die leicht durch auffällige Werbung und Versprechungen angezogen wird.
- Z. 5-6: Der Zauberer verspricht, nie dagewesene Zaubereien zu zeigen und jedem einen Wunsch zu erfüllen. Dies weckt hohe Erwartungen und symbolisiert die menschliche Neigung, an einfache Lösungen und Wunder zu glauben.
Die Spannung steigt, als die Vorstellung beginnt:
- Z. 7-13: Der Gong, das Verlöschen des Lichts und das Öffnen der Vorhänge erhöhen die Erwartungshaltung der Zuschauer. Die Atmosphäre ist voller Spannung und Erwartung, was die Vorfreude der Menschen auf das außergewöhnliche Ereignis widerspiegelt.
- Z. 14-17: Der Zauberer tritt auf, selbstsicher und strahlend. Seine Erscheinung und die sorgfältig einstudierten Bewegungen symbolisieren das Image und die Inszenierung, die oft mehr zählen als die tatsächlichen Fähigkeiten oder die Wahrheit.
Die eigentliche Darbietung verläuft anders als erwartet:
- Z. 18-22: Die Zaubertricks des Magiers misslingen, was Enttäuschung und Unsicherheit im Publikum auslöst. Dies könnte die Unzulänglichkeit von Versprechungen und das Scheitern von hochtrabenden Erwartungen darstellen.
- Z. 23-27: Der Zauberer greift zu drastischeren Mitteln, um die Vorstellung zu retten, aber die Situation gerät außer Kontrolle. Das Feuer breitet sich aus und gefährdet das Publikum. Dies kann als Symbol für die gefährlichen Folgen von überzogenen Versprechungen und Manipulationen interpretiert werden.
Die Reaktionen des Publikums und das Finale der Parabel sind von großer Bedeutung:
- Z. 28-32: Das Publikum erkennt allmählich, dass das Chaos die eigentliche Vorstellung ist. Die anfängliche Starre weicht Panik, als die Menschen erkennen, dass sie tatsächlich Teil der versprochenen „Sensationen“ sind. Dies reflektiert die Erkenntnis, dass die Realität oft schockierender und gefährlicher sein kann als jede Illusion oder Vorstellung.
- Z. 33-35: Der Zauberer entkommt und begibt sich zur nächsten Stadt, wo bereits neue Plakate sein Kommen ankündigen. Dies zeigt die Zyklen von Täuschung und Erwartung, die sich immer wiederholen, und die Unfähigkeit der Menschen, aus ihren Erfahrungen zu lernen.
Interpretation
- Kritik an der Sensationslust und Oberflächlichkeit: Die Parabel beginnt damit, dass Menschen durch bunte Plakate und vielversprechende Ankündigungen in das Varieté gelockt werden. Dies stellt die menschliche Neigung dar, sich von äußeren Reizen und spektakulären Versprechungen anziehen zu lassen, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Die Plakate symbolisieren oberflächliche Attraktionen, die tiefere Inhalte und Wahrheiten verschleiern.
- Die Illusion des Zaubers: Der Zauberer verkörpert die Figur, die mit Selbstsicherheit und strahlendem Auftreten das Publikum täuscht. Er repräsentiert jene, die durch Manipulation und Inszenierung die Erwartungen der Menschen manipulieren. Seine Tricks, die misslingen, sind ein Sinnbild für die Enttäuschung, die folgt, wenn die Realität den hochgesteckten Erwartungen nicht entspricht. Dies kann auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche angewendet werden, wie Politik, Medien oder Konsumkultur.
- Scheitern und Enthüllung: Als die Tricks des Zauberers scheitern, zeigt sich die Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Das Misslingen der Zaubertricks symbolisiert das Versagen von falschen Versprechungen und die Unvermeidlichkeit der Wahrheit, die ans Licht kommt. Die hilflos zu Boden fallenden Schnurstücke und die unheilbare Uhr verdeutlichen die Ohnmacht und das Scheitern der Täuschung.
- Katastrophe als eigentliche Sensation: Das Feuer, das ausbricht, als der Zauberer die Kontrolle verliert, steht für die unvorhergesehenen und oft zerstörerischen Konsequenzen, wenn Täuschungen auffliegen. Die Katastrophe, die das Publikum in Panik versetzt, stellt die tatsächliche „Vorstellung“ dar, die Sensationen, die am eigenen Leib verspürt werden. Diese Wendung der Ereignisse führt zu einer bitteren Ironie: Die wirkliche Sensation ist die Gefahr und das Leiden, das die Menschen nun erleben.
- Erkenntnis und Ignoranz: Während einige Zuschauer erkennen, dass die Katastrophe die wahre „Vorstellung“ ist, bleibt diese Erkenntnis für die Mehrheit ohne Konsequenz. Die Flucht des Zauberers und sein beruhigtes Weiterziehen zur nächsten Stadt zeigt, dass die Täuschung und der Zyklus der Sensationslust weitergehen werden. Dies spiegelt die menschliche Neigung wider, trotz schmerzlicher Erfahrungen nicht aus Fehlern zu lernen und weiterhin auf ähnliche Täuschungen hereinzufallen.
- Gesellschaftliche und politische Parallelen: Die Parabel lässt sich auch als Kritik an politischen und gesellschaftlichen Führern interpretieren, die durch charismatische Auftritte und großartige Versprechungen die Massen manipulieren. Wenn ihre Versprechen scheitern, leiden die Menschen unter den Konsequenzen, während die Verantwortlichen oft ungeschoren davonkommen und ihre Täuschungen an anderer Stelle fortsetzen.
- Moral und Botschaft: Die Parabel „Vorstellung“ trägt eine klare moralische Botschaft: Sie warnt vor der Anfälligkeit für oberflächliche Reize und falsche Versprechungen und fordert zu kritischer Reflexion und Skepsis auf. Sie zeigt die Notwendigkeit, hinter die Fassade zu blicken und die wahre Natur von Versprechungen und Inszenierungen zu erkennen, um den schmerzlichen Konsequenzen von Täuschung und Manipulation zu entgehen.
Schluss
- Das vorliegende Werk von Günter Kunert lässt sich vielschichtig interpretieren und bietet eine scharfsinnige Kritik an verschiedenen gesellschaftlichen Phänomenen wie menschlichen Schwächen, die Macht der Täuschung und der oft schockierenden Realität hinter scheinbar harmlosen Versprechungen.
- Der Zauberer, der durch seine gescheiterten Tricks und das entstehende Chaos die wahre „Vorstellung“ präsentiert, steht symbolisch für jene, die durch Manipulation und Inszenierung die Erwartungen der Menschen kontrollieren und enttäuschen.
- Die Tatsache, dass der Zauberer ungeschoren davonkommt und zur nächsten Stadt weiterzieht, unterstreicht die Wiederholung dieser Täuschungen und die mangelnde Lernbereitschaft der Menschen.
- Die Parabel ermahnt ihre Leser*innen, aus Erfahrungen zu lernen und nicht immer wieder denselben Täuschungen zu erliegen. Insgesamt ist die Parabel eine zeitlose Warnung vor den Gefahren von Manipulation und Oberflächlichkeit und ein Plädoyer für eine tiefere Auseinandersetzung mit der Realität.