Thema 1
Gedichtinterpretation mit weiterführendem Vergleich
Thema: Theodor Storm (* 1817 - † 1888): Gedenkst du noch? (1857) Hanna Johansen (* 1939): Heimat (2016) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht Gedenkst du noch? von Theodor Storm. (ca. 60 %)
- Vergleiche das Gedicht Gedenkst du noch? von Theodor Storm mit dem Gedicht Heimat von Hanna Johansen. Berücksichtige dabei sowohl inhaltliche als auch sprachliche und formale Aspekte. (ca. 40 %)
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Gedenkst du noch, wenn in der Frühlingsnacht
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Aus unserm Kammerfenster wir hernieder
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Zum Garten schauten, wo geheimnisvoll
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Im Dunkel dufteten Jasmin und Flieder?
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Der Sternenhimmel über uns so weit,
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Und du so jung; – unmerklich geht die Zeit.
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Wie still die Luft! Des Regenpfeifers Schrei
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Scholl klar herüber von dem Meeresstrande;
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Und über unsrer Bäume Wipfel sah'n
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Wir schweigend in die dämmerigen Lande.
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Nun wird es wieder Frühling um uns her;
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Nur eine Heimat haben wir nicht mehr.
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Nun horch ich oft schlaflos in tiefer Nacht,
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Ob nicht der Wind zur Rückfahrt möge wehen.
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Wer in der Heimat erst sein Haus gebaut,
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Der sollte nicht mehr in die Fremde gehen!
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Nach drüben ist sein Auge stets gewandt;
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Doch Eines blieb, – wir gehen Hand in Hand.
Aus: Storm, Theodor. Sämtliche Gedichte in einem Band. Hg. von Dieter Lohmeier.
Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2002, S. 116. Material 2 Heimat Hanna Johansen
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Zuhause hinter unserm alten Baum
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ging abends der Mond auf.
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Er sprach mit mir.
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Er kannte mich
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und kannte meine Freunde.
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Hier fehlt der Baum.
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Der Mond ist noch da,
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er schaut mich an
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und spricht kein Wort.
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Vielleicht ist es ein neuer Mond,
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ein Mond, der mich nicht kennt
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und meine Freunde auch nicht.
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Oder es liegt am Baum.
Aus: Leitner, Anton G. (Hg.): Heimat. Gedichte. Stuttgart: Reclam 2017, S. 69.
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Einleitung
- 1857 wird Gedenkst du noch? veröffentlicht. Storm schreibt dieses Gedicht in Heiligenstadt in Thüringen, wo der Schriftsteller einige Jahre seines Lebens verbringt. Das vorliegende Gedicht lässt sich der Literaturepoche des Realismus zuordnen.
- Gedenkst du noch? von Theodor Storm ist ein melancholisches Werk, das von Erinnerungen und Liebe handelt und demzufolge als Liebesgedicht eingeordnet werden kann.
- Theodor Storm soll als Schreibanlass des Stückes den Geburtstag seiner damals 32-jährigen Frau Constanze genommen haben und ihr das Schriftstück als Geschenk überreicht haben.
- Jedoch liegt dem Gedicht auch noch eine tiefere Bedeutungsebene zugrunde, denn die Liebe, über die im Werk gesprochen wird, gilt nicht einzig und allein einer Person, sondern auch dem Garten selbst, welcher im lyrischen Ich ein Gefühl von Sehnsucht und Nostalgie als romantischer Ort der Vergangenheit hervorruft.
Interpretation
Inhalt- Das Gedicht beginnt mit der Frage „Gedenkst du noch?“ (V. 1) und zeigt damit bereits die zentrale Thematik des Gedichts auf: Das Sich-Erinnern an vergangene Zeiten und die damit verbundene Tendenz, Vergangenes zu romantisieren.
- Das lyrische Ich richtet sich an eine Person oder eine Instanz, mit der es eine gemeinsame Zeit verbindet, und fragt, ob das Gegenüber sich auch noch an die vergangene Zeit zusammen erinnert. Diese Frage impliziert eine gewisse Distanz und Trennung zwischen den beiden Parteien, die in diesem Fall jedoch nicht auf eine tatsächliche Trennung, sondern eher auf den Umstand, dass das Erzählte inzwischen der Vergangenheit angehört, hindeuten kann.
- Denkbar ist, dass das lyrische Ich beim Rückblick an glückliche Zeiten am damaligen Ort der Verliebtheitsphase der beiden Liebenden denkt und den Abschied von diesem.
- Das lyrische Ich gibt gemeinsame Erinnerungen einer Frühlingsnacht wider, in der die Protagonist*innen aus dem Fenster auf den Garten schauen und den Duft von Jasmin und Flieder wahrnehmen. Es wird die Atmosphäre der Nacht und die Stille der Luft beschrieben und das lyrische Ich sinniert über die gemeinsamen Sonnenuntergänge im Garten nach.
- Diese Erinnerungen werden mit einer gewissen Wehmut und Sehnsucht beschrieben, die auf die verlorene gemeinsame Heimat, in diesem Fall den Garten bezogen sind. Diese Nostalgie impliziert, dass das lyrische Ich und seine Geliebte damals eine sehr glückliche Zeit hatten.
- Das lyrische Ich träumt überdies davon, dass sie vom Wind in die Vergangenheit zurückgetragen würde und noch ein letztes Mal Momente des Glücks mit der geliebten erwähnten Person oder Instanz an ihrer Seite erleben könnte.
- Im weiteren Verlauf des Gedichts wird deutlich, dass das lyrische Ich die Hoffnung besitzt, dass die Erinnerungen auch im Gegenüber lebendig sind. Sie hofft, dass es sich ebenfalls an die gemeinsame Zeit erinnert und die gleiche Sehnsucht nach den vergangenen gemeinsamen Zeiten verspürt.
- Es scheint, als ob das lyrische Ich sich wünscht, dass die Erinnerungen und die gemeinsame Vergangenheit eine Verbindung zur Heimat aufrechterhalten könnte, auch wenn die gemeinsame Zeit bereits in der Vergangenheit liegt. Dennoch scheint das Band zwischen den beiden noch nicht zerstört, schließlich „gehen [sie auch jetzt noch] Hand in Hand“ (V. 18). So ist es vielmehr das Zurückerinnern und weniger das Herbeiwünschen wertvoller Zeiten, die inzwischen der Vergangenheit angehören.
- Das Gedicht Gedenkst du noch? von Theodor Storm besteht aus drei Strophen à 18 Versen, was die einzelnen Strophen zu Sextetten macht.
- Das vorliegende Gedicht lässt sich der Gedichtform Ballade zuschreiben und folgt dem Reimschema abcbdd.
- Alliteration: „Im Dunkeln dufteten“ (V. 4) stellt eine der zahlreichen Beispiele alliterarischer Stilmittel im Gedicht dar. Durch die Wiederholung des Anlautes entsteht eine gewisse Melodie oder Musikalität, die den Text angenehm zu lesen oder zu hören macht. Dies trägt dazu bei, dass der Text im Gedächtnis bleibt und eine emotionale Resonanz beim Leser hervorruft.
- Metapher: „Der Sternenhimmel über uns so weit“ (V. 5). Hier wird der Sternenhimmel metaphorisch als etwas Weites und Unerreichbares beschrieben, gleichzeitig steht der Himmel für die scheinbar unerschöpfliche Menge an Möglichkeiten und vermittelt damit auch ein Gefühl von Hoffnung.
- Kontrast: „Der Sternenhimmel über uns so weit, Und du so jung; – unmerklich geht die Zeit.“ – Hier wird der Kontrast zwischen der Weite des Himmels und der Vergänglichkeit der Zeit sowie dem jugendlichen Alter des Gegenübers der Erzählinstanz hervorgehoben. Die offensichtliche Ambivalenz verleiht dem Geschriebenen mehr Nachdruck.
- Symbolik: Der zurückliegende, gemeinsame Frühling (Vgl. „Frühlingsnacht" V. 1) kann im Zusammenhang mit der anderen Person ein Symbol für Liebe, Romantik und Sexualität darstellen. Geht man bspw. davon aus, dass der Autor dieses Liebesgedicht dem Garten widmet, lässt sich die Frühlingssymbolik auch auf die eigene Jugend der erzählenden Instanz beziehen. Handelt es sich um eine Person, kann der Frühling die Anfangszeit der jungen Liebe widerspiegeln.
- Enjambements: In „Des Regenpfeifers Schrei Scholl klar herüber von dem Meeresstrande;“ (V. 7 f.) wird exemplarisch die Wirkung des Stilmittels Enjambement deutlich. Durch den Zeilensprung wird der Lesefluss verstärkt und die Bedeutungsebenen des Gesagten beginnen über mehrere Verse hinweg miteinander zu verschmelzen.
- Parallelismus: In Vers 6 und 18 ist ein paralleler Aufbau zu verzeichnen, was nicht zuletzt an dem Gedankenstrich deutlich wird. Außerdem liegt den beiden Versen die Verwendung des Verbs gehen, welches auf zweierlei Weise konjugiert wird, zugrunde.
- Insgesamt kann man das Gedicht Gedenkst du noch? als Ausdruck von Sehnsucht, Verlust und der Hoffnung auf eine Verbindung durch gemeinsame Erinnerungen interpretieren.
- Das Gedicht betont die Bedeutung von Erinnerungen und wie sie uns helfen, unsere Identität zu formen. Es vergegenwärtigt uns, dass es wichtig ist, die Vergangenheit nicht zu vergessen und die Erinnerungen zu bewahren.
- Aus Gedenkst du noch? von Theodor Storm lässt sich schließen, dass Erinnerungen eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen, dass es wichtig ist, sie zu schätzen und dass sie mitunter die Gegenwart verschönern können, indem man sie sich beispielsweise immer wieder vor Augen führt. Natürlich immer unter der Prämisse, dass man nicht ausschließlich in der Vergangenheit lebt, denn dies könnte die Gegenwart auch negativ beeinflussen.
- Außerdem reflektiert das Gedicht die Vergänglichkeit des Lebens und die Flüchtigkeit von Momenten und Beziehungen. Es erinnert uns daran, dass nichts für immer bleibt und dass wir die Vergangenheit nicht festhalten können.
- Das Rekapitulieren der Vergangenheit gebunden an einen Ort zeigt deutlich auf, welche emotionalen Assoziationen an eine Lokalität gebunden sein können. So sind die Moment des Glücks im Falle des lyrischen Ichs im vorliegenden Gedicht unweigerlich mit dem Ort des Geschehens, in diesem Fall mit dem Garten verbunden.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Ebenso wie in Storms Gedenkst du noch? behandelt auch Hanna Johansens Gedicht Heimat das Thema Erinnerung und Auseinandersetzung mit Vergangenem und dessen Auswirkungen auf die Gegenwart. Obwohl die Werke thematische Parallelen aufweisen, besitzen die Autor*innen unterschiedliche Herangehensweisen, die Sujets jeweils auf ihre Art abzuhandeln.
- In dem Werk Heimat von Hanna Johansen wird eine Situation beschrieben, in der das lyrische Ich an sein Zuhause erinnert, das sich hinter einem alten Baum befindet. Eine bedeutende Rolle in dieser Erinnerung spielt der Mond, der mit dem lyrischen Ich kommuniziert und sowohl es als auch seine Freunde kennt. Jedoch befindet sich das lyrische Ich inzwischen nicht mehr beim Baum und obwohl der Mond das lyrische Ich betrachtet, bleibt er stumm. Der Sprecher spekuliert darüber, ob es sich um einen anderen, neuen Mond handelt, der ihn und seine Freunde nicht kennt, oder ob dies mit dem fehlenden Baum zusammenhängt.
Vergleich
- Heimat von Hanna Johansen und Gedenkst du noch? von Theodor Storm sind zwei literarische Werke, die sich mit dem Konzept der Heimat auseinandersetzen. Im Hinblick auf ihren zeitlichen und historischen Kontext sowie ihre erzählerischen Strukturen weisen sie sowohl Gemeinsamkeiten als auch Differenzen auf.
- Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Werken liegt in ihrer zeitlichen Verortung und historischen Einbettung. Gedenkst du noch? entstand im 19. Jahrhundert und spielt in einer ländlichen Umgebung, während Heimat in der Gegenwart angesiedelt ist und sich mit den Erfahrungen von Flucht und Migration auseinandersetzt. Infolgedessen spiegelt Storms Gedicht die romantische Vorstellung von Heimat wider, während Johansens Stück eine realistischere und zeitgenössische Perspektive einnimmt.
- Ein weiterer Unterschied betrifft die Erzählstruktur der beiden Werke. Gedenkst du noch? ist ein lyrisches Gedicht, das in poetischer Form die Erinnerungen an die Heimat des lyrischen Ichs beschreibt. Es zeichnet sich durch eine nostalgische und melancholische Sprache aus. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Heimat um ein Gedicht, das die Geschichte einer Familie erzählt, die aus ihrer Heimat fliehen musste und sich in einem neuen Land zurechtfinden muss. Die Erzählung erfolgt in Prosa und bietet eine detaillierte Darstellung der Charaktere und ihrer Erfahrungen.
- Sprachlich betrachtet verwendet Storm in Gedenkst du noch? eine eher traditionelle und klassische Sprache. Die Verse sind in einem regelmäßigen Rhythmus und Reimschema gehalten, was dem Gedicht eine gewisse Harmonie verleiht. Die Sprache ist eher schlicht und direkt, was die Melancholie und die Sehnsucht des Sprechers betont. Johansen hingegen verwendet in Heimat eine modernere und experimentellere Sprache. Die Verse sind nicht in einem festen Reimschema gehalten und die Sprache ist oft metaphorisch und symbolisch. Dadurch entsteht eine gewisse Unruhe und Unbestimmtheit, die die Thematik der Heimatlosigkeit widerspiegelt.
- Trotz dieser Unterschiede gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Werken. Beide behandeln das Thema Heimat und die damit verbundenen Gefühle von Verlust, Sehnsucht und Identitätssuche. Sowohl Gedenkst du noch? als auch Heimat thematisieren die Bedeutung von Heimat für das individuelle und kollektive Bewusstsein.
- Heimat stellt die Frage, welche Bedeutungsebene Heimat zuzuschreiben ist und wie man sie finden kann. Es reflektiert die Erfahrungen von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden müssen. Es drückt die Notwendigkeit aus, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und einen Ort zu finden, an dem man authentisch man selbst sein kann.
- Johansens Stück lädt den Leser ein, über die Bedeutung von Heimat nachzudenken und die universelle Sehnsucht nach einem Ort der Zugehörigkeit zu erkennen. Theodor Storm hingegen bewirkt in Gedenkst du noch?, dass sich Leser*innen zum einen jugendliche Erinnerungen an die Herkunft und Heimat vergegenwärtigen und auch den Wert in Vertrautem, Altbekannten erkennen.
- In beiden Werken spielt die Natur eine wichtige Rolle bei der Darstellung der Gefühle und Emotionen der Protagonisten. Während in Gedenkst du noch? die Natur als Ort der Erinnerung und des Trostes dient, wird sie in Heimat als Ort der Herausforderung und des Wachstums dargestellt. Die unterschiedlichen Darstellungen der Natur in den beiden Werken veranschaulichen die unterschiedlichen Themen und Stimmungen, die in den Texten behandelt werden.
Fazit
- Beide Gedichte thematisieren die Veränderung und den Verlust der Heimat, jedoch auf unterschiedliche Weise. Gedenkst du noch? von Theodor Storm betont die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat und die Verbundenheit zwischen den Protagonist*innen, während Heimat von Hanna Johansen die Unsicherheit und das Gefühl des Fremdseins in einer veränderten Umgebung thematisiert.
- Während Storm in seinem Gedicht nostalgisch und melancholisch auf vergangene Zeiten zurückblickt, beschreibt Johansen in dem ihrigen die Suche nach einer neuen Heimat und Identität.