Thema 3
Erörterung eines Sachtextes
Thema: Hartmut Rosa (* 1965): Vom Wunder narrativer Resonanz (2020) Aufgabenstellung:- Arbeite die Kernaussagen des Textes Vom Wunder narrativer Resonanz von Hartmut Rosa heraus.
- Erörtere davon ausgehend die Aussage, Lesen fiktionaler Literatur sei „nicht ein Ersatz für das Leben“, sondern es sei „seine Erweiterung und Vertiefung“ (Vgl. Z. 13 f.). Beziehe eigene Lektüreerfahrungen ein.
1
Ich kann morgens nicht aufstehen, ohne ein paar Seiten, ein paar Absätze wenigstens, eines
2
Romans, einer Erzählung oder manchmal auch eines Krimis gelesen zu haben. Es geht
3
einfach nicht. Und selbst wenn ich den Wecker so gestellt habe, dass kein zeitlicher Spielraum
4
bleibt bis zum ersten Termin, so dass ich jede dem Lesen geopferte Minute beim Duschen,
5
Frühstücken oder auf dem Weg ins Büro wieder aufholen muss, dass ich also gleich werde
6
rennen müssen, kann ich dem Impuls nicht widerstehen. Und auch abends falle ich nur sehr
7
selten jemals in den Schlaf, ohne vorher mit Hilfe eines Buches woanders gewesen zu sein.
8
Viele Jahre habe ich mich darüber gewundert, dass das so ist, mich gefragt, wieso es so
9
ist, und mich gegrämt, wie sich viele Leser seit der „Erfindung“ des Romanlesens an der
10
Schwelle zum 19. Jahrhundert grämten und grämen, weil dem Lesen der Ruf anhaftet, nur
11
Ersatz für das richtige, das wahre, das wirkliche Leben zu sein. In Romane und Erzählungen
12
und erst recht in Krimis flüchtet sich, wer kein richtiges, intensives eigenes Leben hat. Oder?
13
Inzwischen sehe ich das anders. Ganz anders. Lesen ist nicht ein Ersatz für das Leben, es ist
14
seine Erweiterung und Vertiefung. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Leben und Lesen nur
15
durch einen Buchstaben unterschieden sind. Lesen ist Leben. Ohne Lesen gibt es kein
16
richtiges Leben im Falschen, bin ich versucht, Adorno umzudichten. In den wenigen Minuten
17
morgens und abends verflüssigt sich mein Weltverhältnis, löst sich die Starrheit und
18
Verpanzerung meines alltäglichen, routinierten In-der-Welt-Seins, wird meine Weltbeziehung
19
variabel, vielgestaltig und facettenreich. Im Alltag weiß ich, wer ich bin und wer die anderen
20
sind und wie ich zu ihnen stehe: die Nachbarn, die Kinder aus dem Erdgeschoss, die
21
Studierenden, die Kolleginnen, die Mitarbeiter – ich weiß, wie ich ihnen begegne und
22
begegnen muss, und sie mir. Ich weiß, wie die Welt aussieht, wie sie sich anfühlt, wie es an
23
der Kreuzung klingt und wie es in der Mensa riecht. Und dieses heißt Hund und jenes heißt
24
Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort, heißt es in Rainer Maria Rilkes berühmtem
25
Dinggedicht Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Es ist eine Warnung davor, dass
26
unsere Weltbeziehung starr und stumm werden kann, weil wir zu allem eine immer schon
27
definierte, funktionale Beziehung haben: Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm / Ihr bringt
28
mir alle die Dinge um.
29
Im Lesen aber ändern die Menschen und Dinge plötzlich ihren Charakter. Ich tauche ein in
30
gänzlich andere Weltbeziehungen. Ich bin ein Soldat im Schützengraben hinter meinem
31
Maschinengewehr und fürchte mich vor der feindlichen Artillerie. Ich bin eine Frau in einem
32
fernen Land unter einer fremden Sonne, die einen schweren Korb für ihre Mutter trägt, und
33
ich spüre den Korb und ihre Sorgen auf meinen Schultern. Ich bin ein Junge, der mit bloßen
34
Füßen in einer amerikanischen Turnhalle steht. Ich kann sie fühlen, hören und riechen. Ich
35
bin sogar ein Mörder, der hinter einer Regalwand kauert und hofft, dass er nicht entdeckt wird;
36
mein Herz pocht schnell und laut. Und vielleicht bin ich sogar ein Fuchs im Wald oder ein
37
Stern im Weltall. Jedes Mal bin ich anders auf die Welt bezogen und in die Welt gestellt. Ich
38
erahne ein anderes Verhältnis zum Sand, zum Wind, zum Boden, zur Sonne, zu Vater, Mutter
39
und Kind; anders als das, das ich kenne; und dabei verändert sich auf magische Weise auch
40
mein Selbstverhältnis, mein Selbstgefühl. Es gibt Passagen, in denen und nach denen ich
41
plötzlich meinen Körper anders wahrnehme als vorher, vielleicht anders als jemals zuvor. Ich
42
erlebe eine fortwährende Modulation meiner Weltbeziehung: Es kommen und gehen
43
Empfindungen der Angst, des Begehrens, der Sehnsucht, der Verlassenheit, der Isolation,
44
der Sorge und der Liebe, auch des Hasses und der Wut, in immer neuen Variationen und
45
Kombinationen. Als Mörder hoffe ich, nicht entdeckt zu werden, und zugleich ist da auch noch
46
das Gefühl, dass es nicht richtig ist, ein nicht-entdeckter Mörder zu sein oder ein
47
unbesiegbarer Scharfschütze oder ein rachsüchtiger Pharao. Neulich las ich den
48
Klavierspieler vom Gare du Nord von Gabriel Katz und kam aus dem Staunen über mich selbst
49
nicht mehr heraus: Das ist keine große Kunst, dachte ich die ganze Zeit, das ist nur ordentliche
50
Unterhaltungsliteratur, ziemlich klischeebeladen und reichlich vorhersagbar, und doch, und
51
doch: Ich konnte nicht nur nicht aufhören zu lesen, ich war richtig mitgenommen, mein Herz
52
raste mit dem Auto, in dem der potenzielle Pianist zum entscheidenden Wettbewerb gefahren
53
werden sollte, und ich fühlte den wahnsinnig starken, physischen Impuls: Wenn das jetzt nicht
54
klappt, wenn er da jetzt nicht hingeht, werfe ich das Buch mit Karacho an die Wand! Und ich
55
bin sicher, ich hätte es getan ...
56
Aber es gibt andere Bücher, da ist die Identifikation mit der Handlung nicht so vorbehaltlos
57
einfach. Manchmal hasse ich eines und finde es zutiefst verstörend, so dass ich mich immer
58
wieder frage: Wie kann man so etwas schreiben? Wie kann man so etwas schreiben?! Es
59
bringt Weisen des Bezogenseins auf Menschen, Dinge, Körper zum Ausdruck, die mir fremd
60
und unheimlich sind: physisch, emotional, kognitiv oder moralisch unangenehm. Und doch
61
kann ich nicht aufhören, es zu lesen, es berührt etwas ganz tief in mir und löst dort allerhand
62
irritierende Reaktionen aus. Das ist narrative Resonanz.
63
Leben und Lesen sind nur durch einen Buchstaben unterschieden: Beide sind zuallererst
64
Resonanzphänomene. Ihre Essenz besteht aus einem lebendigen, dynamischen
65
Wechselspiel von Hören und Antworten. Oder Vernehmen und Entgegengehen. Vielleicht ist
66
alles Leben so: Ob etwas lebendig ist, zeigt sich in seiner Berührbarkeit. Man testet, ob ein
67
Objekt lebt, dadurch, dass man es berührt – wenn es mit einer Bewegung antwortet, lebt es.
68
Welche Bewegung es zeigt, ist dabei allerdings oft kaum vorhersagbar und nicht
69
kontrollierbar; sie ist unverfügbar. Es gibt nicht die richtige und die falsche Bewegung. Ein
70
solches Wechselspiel aus Berührtwerden und darauf Antworten in einem ergebnisoffenen
71
Prozess, der die Beteiligten verwandelt: Das nenne ich Resonanz.
72
Resonanz meint dabei nicht eine äußere, mechanische Berührung, auf die eine kausale
73
Reaktion erfolgt – wie etwa in einer Situation, in der mir ein Tannenzapfen auf den Kopf fällt
74
und ich mich gegen die Berührung physisch und psychisch zu verschließen versuche –,
75
sondern ein innerliches Berührtsein, auf das wir mit einer Bewegung des Entgegengehens
76
oder der Öffnung reagieren. Solche Selbst-Welt-Wechselwirkungen können durchaus
77
neuronal verankert sein – etwa in unseren Reaktionen auf ein Streicheln der Haut, auf ein
78
Lächeln, auf die Wärme von Sonnenstrahlen oder auf Bratenduft (sei er nun vegan oder nicht).
Anmerkung zum Autor: Hartmut Rosa (* 1965) ist ein deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler. Aus: Raabe, Katharina und Frank Wegner (Hg.): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 196-201.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Einleitung
- Autor: Hartmut Rosa
- Titel: Vom Wunder narrativer Resonanz
- Erscheinungsjahr: 2020
- Textsorte: Artikel
- Epoche: Gegenwartsliteratur
- Quelle: Aus: Raabe, Katharina und Frank Wegner (Hg.): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 196-201.
- Inhalt: In Rosas Artikel geht es um die Beobachtungen des Protagonisten, aus dessen Alltag der Einbezug regelmäßiger Lektüre nicht mehr wegzudenken ist. Er bezeichnet die Resonanz, die der Konsum täglicher Lektüre in ihm hervorruft als „Selbst-Welt-Wechselwirkungen“ (Z. 76), die als Reaktionen auf das Geschriebene zu verstehen sind.
Hauptteil
Kernaussagen
- Erster Absatz (Z. 1-7): Rosa beschreibt sein ständiges Bedürfnis, zu lesen – ungeachtet dessen, dass er dadurch teils in Zeitprobleme gerät (Vgl. Z. 4 ff.). Er beschreibt seinen Drang zu lesen als „Impuls [...], [dem er] nicht widerstehen“ (Z. 6) kann.
- Zweiter Absatz (Z. 8-12): Der Autor des Artikels stellt die These, dass das Lesen mit einer Wickrlichkeitsflucht gleichzusetzen wäre, infrage.
- Dritter Absatz (Z.13-28): Rosa konstatiert, „Lesen [sei] nicht ein Ersatz für das Leben, es [sei dessen] Erweiterung und Vertiefung“ (Z. 13 f.). Damit schreibt er dem Lesen eine unverwechselbare Bedeutung und Funktion zu, er geht sogar so weit zu sagen, „Lesen ist Leben.“ (Z. 15).
- Vierter Absatz (Z. 29-55): Die Lektüre eines Werks ermöglicht es einem, die Perspektive eines anderen einzunehmen und damit den Blick auf die Welt zu vergrößern. Dadurch entwickelt man nach Rosa auch ein neues Gespür für sich selbst (vgl. Z. 40).
- Fünfter Absatz (Z. 56-62): Das Lesen bringt neben positiven und angenehmen Aspekten auch die dunkle Seite der menschlichen Psyche ans Licht, die jedoch nicht minder bewusstseinserweiternd sein muss. Der Umstand, dass man teils abgestoßen vom Geschriebenen ist, hindert einen nicht daran, weiterzulesen. Dieses Phänomen nennt Rosa „narrative Resonanz“ (Z. 62).
- Sechster Absatz (Z. 63-71): Der Autor weist auf die Gemeinsamkeiten von „Leben und Lesen“ (Z. 63) hin, die in seinen Augen „Resonanphänomene“ (Z. 64) darstellen. Resonanz edfiniert Rosa als ein „Wechselspiel aus Berührtwerden und darauf Antworten in einem ergebnisorientierten Prozess, der die Beteiligten verwandelt“ (Z. 70 f.).
- Siebter Absatz (Z. 72-78): Der Schriftsteller differenziert jedoch zwischen mechanisch und neuronal ausgelöster Resonanz. Seine oben genannte Definition bezieht sich auf ein „innerliches Berührtsein“ (Z. 75), die Resonanz auf neuronaler Ebene.
- Als Kernaussage des Artikels kann die Frage entnommen werden, ob, wenn die Beschleunigung der Welt und Gesellschaft ein Problem ist, Resonanz nicht die Lösung sein könne?
Das Studium fiktionaler Literatur als „Erweiterung und Vertiefung“ (vgl. Z. 13 f.) des eigenen Lebens
Pro-Argumente- Laut Rosa verleiht das Lesen dem Leben buntere Farben & Facetten (Vgl. Z. 19). Das Eintauchen in die Leben anderer Menschen sowie situative Kontexte in Büchern ermöglicht es einem, die eigene Perspektive zu erweitern. Rosa beschreibt, wie festgefahren mitunter „unsere Weltbeziehung“ (Z. 26) ohne neuen Input werden kann und zieht exemplarisch Rainer Maria Rilke hinzu, der in diesem Zuge eines seiner Gedichte „Ich fürchte mich vor der [starren] Menschen Wort“ (Z. 25) betitelte.
- Im Hinblick darauf, dass Lesen eine positive Addition zum realen Leben darstellt, führt der Autor im vierten Paragraphen an, dass man durch den unausweichlichen Perspektivwechsel während eines Leseprozesses, nicht nur Toleranz, Verständnis und Einfühlungsvermögen für seine Mitmenschen, sondern auch für sich selbst entwickelt. Dies stellt in jedem Fall eine Bereicherung und damit vertiefende Wirkung aufs eigene Leben dar.
- Geht man davon aus, dass Rosa die gelesenen Erlebnisse mit den tatsächlich real erlebten Geschehnissen und Lebenserfahrungen gleichsetzt, wird es problematisch.
- So dürfen Leseerlebnisse, doch auch Lernerfahrungen, welche durch den Konsum anderer Medien gesammelt werden, zwar eine wertvolle Attribution zum eigentliche Leben darstellen, doch auf dieselbe Stufe mit der Wirklichkeit, den greifbar erlebten und erlernten Erfahrungen, sollten sie nicht gestellt werden, da sonst die Gefahr bestünde, das Leben nur noch auf fiktionaler Ebene führen zu wollen.
- Zwar weist der Autor daraufhin, dass das Lesen keinen Ersatz zur Wirklichkeit darstellt, doch hier sollte noch stärker differenziert werden zwischen dem Resonanzempfinden realer Erlebnisse und solcher, die man „nur“ in Büchern durchläuft.
Schluss
- Rosas Ansatz, narrativer Resonanz einen hohen Stellenwert zu geben, entfacht in Leser*innen wieder die Lust am Lesen, so verführerisch und bewusstseinserweiternd wie der Autor die Leseerfahrung charakterisiert.
- Da das Lesen geschriebener Lektüre zunehmend abnimmt in der Gesellschaft, würde Rosa, wenn er auch nur wenige Menschen neu dazu inspiriert hat, sich vermehrt wieder dem Lesen zu widmen, einen wichtigen Appell mit seinem Sachtext ausgelöst haben.
- Wenn man das Lesen mit einer Art Reise im Mikroformat vergleicht, stellt es ebenso ohne eine bewusstseinserweiternde und damit einhergehend bildende Erfahrung dar. Sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen und diese überhaupt erst einmal einordnen zu können, kann als einer der wichtigsten Punkte aus dem Sachtext mitgenommen werden, denn darauf kommt es laut Hartmut Rosa am Ende an, wenn es um narrative Resonanz geht. Ums „Berührtwerden und darauf Antworten“ (Vgl. Z. 70).