Thema 1
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Zoë Jenny (* 1974): Der Flug des Kondors (2013) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Text Der Flug des Kondors von Zoë Jenny. Berücksichtige dabei besonders, wie das Verhältnis der Figuren zueinander erzählerisch dargestellt wird.
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Den ganzen Tag hatte es geregnet. Erst in den letzten Nachmittagsstunden war die Sonne
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durch die Wolkenmassen gebrochen und stand jetzt leuchtend in einem kleinen blauen Hof
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am Himmel. Der Käfig stand im Schatten von vier Kastanienbäumen; mit der Zeit war das
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Gitter rostig geworden, und der Käfig wirkte verwahrlost und wie ein Fremdkörper am Rande
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des Waldes. Der beißende Geruch schlecht gehaltener Tiere, der vom Käfig ausging,
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vermischte sich im Sommer mit dem Geruch von Raps und warmer Erde.
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Seit Stunden schlief der Kondor in der gedeckten Ecke des Käfigs, während die Papageien, in
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Gruppen versammelt, lauernd auf den Astbäumen hockten, als warteten sie auf ein Signal.
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Sobald sich der Kondor aufrichtete, flatterten sie auf und flogen, eine rotgrüngelbe Wolke, laut
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kreischend durch das Gehege. Einige Papageien verloren dabei Federn, die sich im Gitter
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verfingen oder auf den Boden segelten. Ruckartig, mit einem hinkenden Bein, steuerte der
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Kondor den Rest des Kadavers an, der ihm wie jeden Tag von einem Wärter in den Käfig
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geworfen worden war. Mit dem Schnabel zupfte und riss er daran, bis sein Kopf im offenen
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rohen Fleisch versank. Nachdem er die Beute verzehrt hatte, erreichte er, mit nur einem
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Flügelschlag, wieder seinen Ast, und die Papageien rückten gurrend und sich aufplusternd zur
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Seite. Der Kondor begann sein Gefieder zu putzen, indem er Feder für Feder durch den
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Schnabel zog; und als er fertig war, blieb er auf dem Ast sitzen, reglos wie träumend.
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Der Feldweg, der vom angrenzenden Wald zum Käfig führte, war vom Regen aufgeweicht,
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und das Paar suchte, den Blick auf den Boden gerichtet, nach trockenen Stellen.
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„Warum mussten wir nur herkommen?“, sagte die junge Frau und sprang hinter ihm über eine
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Wasserlache.
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„Wenn ich mich schon von ihm nicht verabschieden kann, will ich wenigstens unseren Ort noch
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einmal sehen, den Ort, an dem wir uns jahrelang getroffen haben, Elena.“
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Das Paar setzte sich auf eine Bank vor dem Gehege. Elena wandte sich vom Käfig ab und
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blickte, den Kopf auf seine Schulter gelehnt, auf den schmalen Waldstrich zurück, aus dem
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sie gekommen waren. Hinter den Baumwipfeln ragten die Kamine und Hochhäuser der Stadt
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empor.
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„Hier war unser Versteck“, sagte er und hielt inne. Er fühlte die Last ihres Kopfes auf seiner
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Schulter und richtete den Blick auf den Kondor, als brauche er zum Reden jemanden, den er
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ansehen konnte. „Hierher flüchteten wir uns nach der Schule. Wir haben über den Kondor
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gelacht, weil er immerzu gegen das Gitter flog und von den Papageien angegriffen wurde.
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Wenn der Kondor schlief, war er unsere Zielscheibe, und wir haben Steinchen nach ihm
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geworfen. Irgendwann rechneten wir zum Spaß aus, wie viele Quadratmeter Flugraum dem
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Vogel eigentlich zur Verfügung stehen. Aber er nahm es plötzlich ernst und fand, es sei tödlich
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wenig. Dann kam er auf die Idee, den Vogel freizulassen. Mit einer Drahtschere wollte er das
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Gitter aufschneiden. Er war wie besessen davon, den Kondor zu befreien. Erst als er dann
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dich kennengelernt hat ...“
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Sie winkte harsch ab. „Phil, wenn wir schon unbedingt hierherkommen mussten, kannst du
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nicht wenigstens aufhören, von ihm zu reden? Ich habe mit ihm abgeschlossen", sagte Elena,
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blickte in Richtung Stadt, sah, wie die Rauchsäulen aus den Kaminen aufstiegen und für
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Sekunden Schatten an die Hochhäuser warfen, bis der Rauch sich auflöste.
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„Wo hast du den Abschiedsbrief eigentlich ...“
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„... gut sichtbar auf den Küchentisch gelegt“, fiel sie ihm ins Wort. Dann schwiegen sie, nur
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die Papageien stießen von Zeit zu Zeit ihre kurzen schrillen Schreie aus.
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„Er wird diesen Brief wochenlang mit sich herumtragen und ihn noch lesen, wenn wir schon
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längst fort sind. Er wird es nie begreifen können, dass ich mit dir weggegangen bin“, sagte Phil
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nach einer Weile und zog eine Zigarette aus der Brusttasche.
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In Gedanken sah Elena den vom vielen Lesen verknitterten, schmutzig gewordenen
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Briefbogen. „Er wird uns verachten“, erwiderte Elena kühl, „und den Brief überall
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herumzeigen.“
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Phil beobachtete, wie oben auf dem Ast der alte Kondor seinen Kopf unter den Flügel schob.
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Niemand wird je kommen, den Kondor freizulassen. Er wird hier in diesem Käfig sterben,
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dachte Phil. Die Klarheit dieser Tatsache erschreckte ihn.
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„Ich glaube, er hat es geahnt“, sagte Elena plötzlich und sah die Sonne hinter den Wolken
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verschwinden wie ein sich langsam schließendes Auge.
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„Nein. Wie kannst du so etwas sagen. Er hätte nie erwartet, dass du ihn verlassen könntest.
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Schon gar nicht mit mir“, erwiderte Phil aufgebracht, „außerdem wart ihr so gut wie verheiratet.“
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Elenas Kopf fühlte sich plötzlich schwer an auf seiner Schulter, und er wünschte, sie würde
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ihn hochheben.
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„Bereust du es?“, fragte er schließlich und schnippte mit Daumen und Zeigefinger den
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glühenden Zigarettenstummel wie ein Geschoss ins nahe Gebüsch.
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Im Käfig pickte ein Papagei mit seinem harten Schnabel auf den zerrupften Kondor ein, der es
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nicht zu bemerken schien. „Morgen, wenn wir im Flugzeug sind, werde ich glücklich sein“,
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sagte sie entschlossen, hob den Kopf von seiner Schulter und wandte sich dem Käfig zu.
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In der Dämmerung bildete das Paar vor dem Gitter eine kleine dunkle Silhouette. Elena sah
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erschreckt den großen schwarzen Vogel an, dessen Anwesenheit sie erst jetzt bemerkte. Er
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hatte inzwischen die Schwingen, zwei riesige Arme, ausgebreitet, und an den Flügelspitzen
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zitterten die Federn wie angespannte gespreizte Finger. Der Kondor streckte seinen dünnen,
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verletzlich wirkenden Hals in die Höhe. Für Sekunden streifte Elena seinen kahlen, fast
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menschlichen Blick. Sie fuhr auf, und wie um sich vor einem Angriff zu schützen, machte sie
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einen Schritt zurück, als der Kondor zu seinem Flug gegen das Gitter startete.
Aus: Jenny, Zoë: Spätestens morgen. Erzählungen. Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2013, S. 71-74.
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- Vorliegende Kurzgeschichte Der Flug des Kondors wurde von Zoë Jenny geschrieben und 2013 in Jennys Werk Spätestens morgen. Erzählungen. in Frankfurt a. M. in der Frankfurter Verlagsanstalt publiziert.
- Thema: Die Autorin wirft einen Blick auf die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Die Frau verließt, wie wir im Laufe des Textes erfahren, ihren Verlobten verlassen und ist inzwischen mit einem anderen Mann zusammen. Die Figur des Vogels in Form eines Kondors, der in einen Käfig gesperrt ist, ist in dem Text sehr zentral. Ursprünglich hatte der Verlobte früher vor, diesen Kondor zu befreien. Der Kondor versucht am Ende aus dem Käfig zu entkommen, es bleibt jedoch ungeklärt, ob er es noch schafft, den Fängen der Papageien zu entkommen, oder ob er in dem Käfig stirbt.
Interpretation
- Einleitend beschreibt Jenny die Wetterlage des respektiven Tages, welche von einem grauen, trostlosen Regentag (vgl. Z. 1) zu einem freundlicheren sonnigen wird, als die Wolken von der Sonne vertrieben werden (Vgl. Z. 1).
- Daraufhin folgt eine Beschreibung des Käfigs (Z. 3 ff.), dessen „rostig[es]“ (Z. 4) Äußeres darauf hinweist, dass er dort schon sehr lange stehen muss. Auch der Umstand, dass der Gegenstand „verwahrlost“ (Z. 4) und sich „wie ein Fremdkörper am Rande des Waldes“ (Z. 4 f.) befindet, lässt Rückschlüsse darauf zu, dass die Gefangenschaft der ihm innewohnenden Tiere bereits seit einer ganzen Weile andauert.
- Indem Jenny den Vergleich eines Fremdkörpers zieht, wird noch einmal verdetulicht, wie künstlich und tierfeindlich die Haltung in Käfigen ist. Besonders, wenn außerhalb des Käfigs Vögel in freier Wildbahn umherfliegen können, wirkt das Eingesperrtsein der Vögel im Käfig umso abstruser.
- vom Käfig geht außerdem ein „beißender Geruch“ (Z. 5) aus, was wiederum dafür steht, dass die Tiere sich selbst überlassen werden und bereits erwähnte Verwahrlosung bereits seit einiger Zeit besteht.
- Im Käfig halten sich zwei verschiedene Vogelspezies auf. Zum einen ein Kondor und zum anderen eine Reihe Papageien. Sie unterscheiden sich enorm in ihrer Charakteristik und der Art und Weise, sich mit dem Schicksal des Käfiggefängnisses abgefunden zu haben.
- Der Kondor verbringt einen Großteil des Tages schlafend (Vgl. Z. 7) und verlässt nur zum Vertilgen des ihm hingeworfenen Kadavers seinen Eckplatz im Käfig (Vgl. Z. 7). Er scheint außerdem körperlich eingeschränkt, da er ein „hinkendes Bein“ (Z. 11) besitzt, welches zum einen auf die mangelnden hygienischen Bedingungen und zum anderen auf den augenscheinlichen Bewegungsmangel des großen Vogels zurückzuführen ist.
- Dass es sich bei dem Käfig um einen sehr begrenzten Raum handelt, erfährt man als Leser*in spätestens, als beschrieben wird, dass der Kondor „mit nur einem Flügelschlag“ (Z. 14 f.) wieder seinen Eckplatz erreicht hat.
- Der Kondor wird als „träumend“ (Z. 17) und sorgfältig beschrieben, wobei sich letztere Eigenschaft etwa darin zeigt, wie akribisch und genau er seine Federn putzt (Z. 16 f.).
- Wiederum die Papageien sitzen „lauernd“ (Z. 8) auf ihren Ästen und warten auf „das Signal“ (Z. 8), wobei zu anfangs nicht eindeutig ist, um welches Signal es sich genau handelt.
- Bereits in der Anzahl sind die Papageien dem Kondor überlegen, es handelt sich um mehrere, die, sobald sie auffliegen, zu einer „rotgrüngelbe[n] Wolke“ (Z. 9) werden, die sich „kreischend“ (Z. 10) bemerkbar macht.
- Nach der ausführlichen Beschreibung des Innenlebens des heruntergekommenen Käfigs tauchen die beiden Menschen Elena und Phil auf, die sich anscheinend auf einem Ausflug zu „ihrem [ehemaligen] Versteck“ (Z. 28) befinden. Sie scheinen diesen Ort bereits lange als Zufluchtsort zu nutzen, da sie bereits früher „nach der Schule“ (Z. 30) schon immer hier her kamen.
- Als sich die beiden unweit des Käfigs niederlassen, erfährt man im Zuge des Gesprächs, dass Elena bis vor kurzem noch verlobt war und denjenigen für ihren Phil verlassen hat. Hierbei bleibt zu bemerken, dass Elena selbst nicht das Thema über ihren Verflossenen beginnt, es sogar ablehnt, über ihn zu sprechen, da sie „mit ihm abgeschlossen“ (Z. 39) hat, doch Phil beginnt immer wieder aufs Neue von dem anderen Mann.
- Indem Jenny schreibt, Phil empfände „die Last ihres [Elenas] Kopfes auf seiner Schulter“ (Z. 28 f.), kann man davon ausgehen, dass zwischen den beiden eine körperliche Nähe besteht, die zunächst einfach auf Vertrautheit hindeutet. Als die Autorin jedoch ein zweites Mal wiederholt, dass Elenas Kopf sich „schwer an auf seiner Schulter“ (Z. 58) anfühlt, schwingt eine negative Konnotation darin mit.
- Obwohl sich die beiden Liebenden offensichtlich einvernehmlich dazu entschieden haben, dass sich Elena von ihrem Verlobten mit einem „Abschiedsbrief“ (Z. 42) trennt, scheint das Thema eine Schwere und Anspannung bei dem Paar hervorzurufen. Letzteres zeigt sich bspw. an Elenas „harschen“ (Z. 38) Tonfall und auch am oben erwähnten Schweregefühl Elenas Kopfes auf Phils Schulter.
- Während der Konversation der beiden Menschen, zieht es Phils Blick immer wieder zum Kondor, der ohne Zweifel das Schicksal besitzt, auf immer und ewig in dem Käfig gefangenzubleiben, so wie bereits eh und jeh. Diese Einsicht nimmt Phil erstaunlich mit, jedoch macht er keine Anstalten, den Vogel deshalb zu befreien.
- Wiederum Elena scheint die Präsenz des „großen schwarzen Vogel[s]“ (Z. 66) erst zu bemerken, als sich dieser aus den Fängen der Papageien windet, sie inzwischen begonnen haben, ihn zu zerrupfen (Vgl. Z. 62), und zum Flug ansetzt. Alleine in dieser subtilen, aber dennoch nicht von der Hand zu weisenden Tatsache zeigt sich, dass Elena und Phil beide voneinander abweichende Wahrnehmungen besitzen.
- Die Figur des Kondor ist insofern zu interpetieren, als dass er für Freiheit, Unsterblichkeit und Hoffnung steht. Außerdem existiert eine offensichtliche Verbindung zwischen dem ehemaligen Verlobten Elenas und dem Kondor. Nicht umsonst wollte dieser den armen, einegsperrten Vogel immer befreien, wie Phil sich erinnert (Vgl. 35 ff.).
- Wenn man also davon ausgeht, dass der Kondor Elenas Verflossenen widerspiegelt, verwundert es wenig, dass sie den Vogel soweit verdrängt, dass sie ihn erst am Ende erkennt. Ebenso wenig möchte sie von ihrem Verlobten hören, als Phil anfängt, über ihn zu sprechen. Fraglich ist nun, ob, wenn es sich bei dem Kondor um den Verlobten handelt, die Papageien das neue Paar ist. Das Rupfen am Kondor kann als weiterer Hinweis darauf interpretiert werden, dass der Verlobte nun der Vergangenheit angehört und sich die Papageien zudem gegenüber dem großen Vogel in der Überzahl befinden.
- Jennys Kurzgeschichte vereint zwei Erzählungen in einer: Die einer Gefangenschaft verschiedener Vögel in einem Käfig und die des Auflebens einer neuen und des Aufgebens einer alten Beziehung.
- Sinnbildlich könnte man die im Käfig gefangen gehaltenen Vögel als die Menschen ansehen, welche sich von einer unglücklichen disfunktionalen Dreiecksbeziehung in eine neue Konstellation formieren.
- Auch zwischen dem finalen Ansetzen des Kondors zum Flug und dem Umstand, dass Elena und Phil bereits am darauffolgenden Tag mit dem „Flugzeug“ (Z. 63) in die Ferne fliegen werden, existiert eidneutig eine Parallele.
- Am Ende kann der verzweifelte Versuch auch dahingehend gedeutet werden, dass egal wie sehr sich Elena und Phil auch darum bemühen werden, aus ihrer Realität auszubrechen, sie kein Flugzeug oder keine Destination der Welt dahinzubringen vermögen wird, wo sie ihre Liebe frei von Belastungen leben werden können.