HT 3
Vergleichende Gedichtanalyse
Thema: Carl Zuckmayer (* 1896 - † 1977): Elegie von Abschied und Wiederkehr (1939) Hans Sahl (* 1902 – † 1993): Charterflug in die Vergangenheit (1979) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht Elegie von Abschied und Wiederkehr von Carl Zuckmayer.
(43 Punkte)
- Vergleiche Carl Zuckmayers Gedicht mit dem Gedicht Charterflug in die Vergangenheit von Hans Sahl im Hinblick auf die Gestaltung des Motivs der Rückkehr. Berücksichtige dabei sowohl inhaltliche als auch sprachliche Aspekte.
(29 Punkte)
1
Ich weiß, ich werde alles wiedersehn.
2
Und es wird alles ganz verwandelt sein,
3
Ich werde durch erloschne Städte gehn,
4
Darin kein Stein mehr auf dem andern Stein –
5
Und selbst wo noch die alten Steine stehen,
6
Sind es nicht mehr die altvertrauten Gassen –
7
Ich weiß, ich werde alles wiedersehen
8
Und nichts mehr finden, was ich einst verlassen.
9
Der breite Strom wird noch zum Abend gleiten.
10
Auch wird der Wind noch durch die Weiden gehn,
11
Die unberührt in sinkenden Gezeiten
12
Die stumme Totenwacht am Ufer stehn.
13
Ein Schatten wird an unsrer Seite schreiten
14
Und tiefste Nacht um unsre Schläfen wehn –
15
Dann mag erschauernd in den Morgen reiten,
16
Wer lebend schon sein eignes Grab gesehn.
17
Ich weiß, ich werde zögernd wiederkehren,
18
Wenn kein Verlangen mehr die Schritte treibt.
19
Entseelt ist unsres Herzens Heimbegehren,
20
Und was wir brennend suchten, liegt entleibt.
21
Leid wird zu Flammen, die sich selbst verzehren,
22
Und nur ein kühler Flug von Asche bleibt –
23
Bis die Erinnrung über dunklen Meeren
24
Geschrieben in Amerika, Herbst 1939
Ihr ewig Zeichen in den Himmel schreibt.
Anmerkungen zum Autor:
Carl Zuckmayer verließ Deutschland aus politischen Gründen im Jahr 1933 und emigrierte nach Aufenthalten in Österreich und der Schweiz 1939 in die USA. Aus: Carl Zuckmayer: Elegie von Abschied und Wiederkehr. In: Ders.: Abschied und Wiederkehr. Gedichte 1917 - 1976. Hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1997, S. 201. Material 2 Charterflug in die Vergangenheit Hans Sahl
1
Als sie zurückkamen aus dem Exil,
2
drückte man ihnen eine Rose in die
3
Hand.
4
Die Motoren schwiegen.
5
Versöhnung fand statt
6
auf dem Flugplatz in Tegel.
7
Die Nachgeborenen begrüßten die
8
Überlebenden.
9
Schuldlose entschuldigten sich für
10
die Schuld ihrer Väter.
11
Als die Rose verwelkt war, flogen sie
12
zurück in das Exil ihrer
13
zweiten, dritten oder vierten Heimat.
14
Man sprach wieder Englisch.
15
Getränke verwandelten sich wieder
16
in drinks.
17
Als sie sich der Küste von
18
Long Island näherten,
19
sahen sie die Schwäne auf der Havel
20
an sich vorbeiziehen,
21
und sie weinten.
Anmerkungen zum Autor:
Hans Sahl entstammt einer jüdischen Familie und floh 1933 vor den Nationalsozialisten über die Stationen Prag und Paris in die USA. Das 1979 entstandene Gedicht wurde erstmals 1992 veröffentlicht. Aus: Hans Sahl: Charterflug in die Vergangenheit. In: Ders.: Die Gedichte. Hrsg. von Nils Kern und Klaus Siblewski. 2. Auflage. München: Luchterhand Literaturverlag 2009, S. 122. (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der jeweiligen Textquelle.)
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Erste Teilaufgabe
Einleitung
- Das Gedicht Elegie von Abschied und Wiederkehr stammt von Carl Zuckmayer. Im Herbst 1939 schreibt er es, während seines Exils in den USA.
- Zuckmayer reflektiert die schmerzliche Erfahrung der Entfremdung und der Rückkehr an einen veränderten, möglicherweise verlorenen Ort. Es thematisiert die Spannung zwischen der Sehnsucht nach dem Vertrauten und der schmerzlichen Erkenntnis der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit.
Interpretation
Form & Struktur- Das Gedicht besteht aus 24 Zeilen, die in einer freien, aber rhythmisch fließenden Form geschrieben sind.
- Die Strophenlänge variiert, wodurch ein gewisser Bruch und eine Unregelmäßigkeit betont werden, die das zentrale Thema des Verlusts und der Verwandlung unterstreicht.
- Die Wiederholung des Satzes „Ich weiß, ich werde alles wiedersehn“ (Z. 1 und Z. 7) dient als Refrain und verstärkt die Ambivalenz zwischen der Hoffnung auf Rückkehr und der Angst vor dem Unbekannten und Veränderten.
- Gedicht beginnt mit einer Aussage, die sowohl Zuversicht als auch eine Vorahnung des Verlustes ausdrückt: „Ich weiß, ich werde alles wiedersehn“ (Z. 1). Diese Wiedersehensgewissheit wird sofort durch die Feststellung relativiert, dass „alles ganz verwandelt sein“ wird (Z. 2).
- Die Gewissheit der Rückkehr wird durch die Unsicherheit der Veränderungen konterkariert. Die Vorstellung, „durch erloschne Städte“ zu gehen, „darin kein Stein mehr auf dem andern Stein“ (Z. 3 f.), malt ein Bild der Zerstörung und des Umsturzes. Die Städte sind „erloschen“, was sowohl auf physische Zerstörung als auch auf eine emotionale Leere hinweist.
- Auch wo „noch die alten Steine stehen“ (Z. 5), sind „es nicht mehr die altvertrauten Gassen“ (Z. 6). Hier wird deutlich, dass die äußere Form möglicherweise unverändert bleibt, während das innere Wesen, das Vertraute, verloren gegangen ist.
- Die Wiederholung der Eingangszeile in Z. 7 unterstreicht die Spannung zwischen Wiedersehen und Verlust: „Ich weiß, ich werde alles wiedersehen / Und nichts mehr finden, was ich einst verlassen“ (Z. 7 f.). Diese Zeilen fassen die zentrale Aussage des Gedichts zusammen: die Unmöglichkeit, das Verlorene in seiner ursprünglichen Form wiederzuerlangen.
- Die Symbolik des Gedichts ist stark von Naturbildern geprägt, die eine melancholische Atmosphäre erzeugen. Der „breite Strom“ (Z. 9) und der „Wind […] durch die Weiden“ (Z. 10) vermitteln das Bild eines sich ständig verändernden Flusses der Zeit, der unaufhaltsam in die Zukunft fließt und Vergangenes mit sich nimmt.
- Die „stummen Totenwacht“ der Weiden (Z. 12) verstärkt die Assoziation mit Tod und Vergänglichkeit. Diese Naturmetaphern suggerieren, dass der Lauf der Dinge, wie der Fluss oder der Wind, nicht aufgehalten werden kann und dass die Rückkehr zu dem, was verloren ist, unmöglich ist.
- Das Gedicht beschreibt weiter die Unentrinnbarkeit der Veränderungen und das Gefühl der Fremdheit: „Ein Schatten wird an unsrer Seite schreiten / Und tiefste Nacht um unsre Schläfen wehn“ (Z. 13 f.). Der Schatten steht hier symbolisch für die Vergangenheit, die den Rückkehrenden immer begleitet, während die „tiefste Nacht“ die Dunkelheit und Unsicherheit der Zukunft suggeriert.
- Die Vorstellung von jemandem, der „lebend schon sein eignes Grab gesehn“ hat (Z. 16), bringt die Idee des Erlebens des eigenen Endes oder des Verlusts der eigenen Wurzeln zum Ausdruck. Diese Zeile suggeriert eine schmerzhafte Reflexion über die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit aller Dinge, die den Exilanten belastet.
- In den letzten Strophen des Gedichts reflektiert der Sprecher über die Möglichkeit der Rückkehr und erkennt die Illusion dieser Hoffnung an. „Ich weiß, ich werde zögernd wiederkehren / Wenn kein Verlangen mehr die Schritte treibt“ (Z. 17 f.) zeigt die Unsicherheit und die Überwindung der anfänglichen Sehnsucht.
- Die „Entseeltheit“ des „Herzens Heimbegehren“ (Z. 19) verdeutlicht, dass selbst die tiefsten Gefühle und Wünsche durch den Schmerz und die Enttäuschungen des Exils entleert und zerstört wurden.
- Die Metapher des Feuers wird benutzt, um den inneren Schmerz darzustellen: „Leid wird zu Flammen, die sich selbst verzehren / Und nur ein kühler Flug von Asche bleibt“ (Z. 21 f.).
- Die Flammen, die sich selbst verzehren, symbolisieren das Leiden, das sich selbst zerstört und schließlich nur Asche, ein Symbol für das Ende, das Nichts, hinterlässt.
- Am Ende des Gedichts bleibt nur die Erinnerung, die „über dunklen Meeren / Ihr ewig Zeichen in den Himmel schreibt“ (Z. 23 f.). Diese letzten Zeilen drücken die Hoffnung aus, dass die Erinnerung, trotz aller Vergänglichkeit, ein dauerhaftes „Zeichen“ setzen kann. Gleichzeitig bleiben die Erinnerungen jedoch auch in einer dunklen, schwer zu fassenden Distanz.
- Das Gedicht Elegie von Abschied und Wiederkehr von Carl Zuckmayer reflektiert die tiefen Emotionen eines Menschen im Exil, der zwischen der Hoffnung auf Rückkehr und der Erkenntnis der Unmöglichkeit, das Verlorene wiederzuerlangen, hin- und hergerissen ist.
- Zuckmayer benutzt eine Reihe von symbolischen Naturbildern und wiederkehrenden Motiven der Veränderung, Vergänglichkeit und des Verlusts, um die Unvermeidlichkeit des Wandels zu betonen und die Schmerzhaftigkeit des Abschieds zu illustrieren.
- Das Gedicht endet mit einer resignierten, aber auch reflektierenden Einsicht, dass in der Erinnerung allein die Möglichkeit besteht, das Vergangene in irgendeiner Form zu bewahren.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Nachdem zunächst das Gedicht Elegie von Abschied und Wiederkehr von Carl Zuckmayer hinsichtlich seiner Thematisierung von Verlust und Veränderung interpretiert wurde, bietet sich ein Vergleich mit Hans Sahls Gedicht Charterflug in die Vergangenheit an, das ebenfalls das Motiv der Rückkehr behandelt.
- Beide Gedichte setzen sich auf unterschiedliche Weise mit der Frage auseinander, wie Rückkehr und Erinnerung im Exil erlebt werden, und verwenden dabei spezifische sprachliche und inhaltliche Mittel, um die emotionalen Facetten dieser Erfahrung auszudrücken.
- Ein genauerer Vergleich der Gedichte zeigt, wie die beiden Autoren das Thema gestalten und welche Bedeutungsnuancen sie ihm verleihen.
Vergleich
Inhaltlicher Vergleich: Rückkehr als Verlust und Verwandlung- In Zuckmayers Elegie von Abschied und Wiederkehr steht die Vorstellung der Rückkehr in eine unwiederbringlich veränderte Heimat im Vordergrund. Der Sprecher ist sich sicher, dass er „alles wiedersehn“ wird, doch „alles ganz verwandelt sein“ wird (Z. 1 f.). Die Wiederkehr wird von vornherein als schmerzhafte Konfrontation mit der Unveränderlichkeit des Verlusts beschrieben.
- Zuckmayer verwendet Bilder der Zerstörung und Entfremdung, etwa wenn er von „erloschnen Städten“ spricht, „darin kein Stein mehr auf dem andern Stein“ steht (Z. 3 f.), oder wenn „altvertraute Gassen“ nicht mehr als solche erkennbar sind (Z. 6). Die Rückkehr ist somit nicht nur ein Wiedersehen, sondern auch eine Begegnung mit einer neuen, fremden Realität, die das Vertraute ausgelöscht hat. Der Verlust ist umfassend, und selbst dort, wo noch physische Überreste bestehen, sind sie ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt.
- Im Gegensatz dazu thematisiert Hans Sahl in seinem Gedicht Charterflug in die Vergangenheit die Rückkehr in die Heimat in einer Art realistischen und nüchternen Beobachtung. Die Rückkehrer werden empfangen, „[d]ie Nachgeborenen begrüßten die / Überlebenden“ (Z. 7 f.), und es findet eine scheinbare „Versöhnung […] auf dem Flugplatz in Tegel“ statt (Z. 5 f.).
- Doch diese Versöhnung wirkt oberflächlich und inszeniert, wie die Übergabe einer „Rose“, die bald „verwelkt“ (Z. 11) ist – ein Zeichen dafür, dass diese Rückkehr nur von kurzer Dauer und von Enttäuschung geprägt ist.
- Anders als bei Zuckmayer, wo die Rückkehr von vornherein als vergeblich dargestellt wird, verweist Sahl auf eine Art Theater der Versöhnung, das sich als Hülle erweist, sobald die Flüchtlinge wieder „zurück in das Exil ihrer / zweiten, dritten oder vierten Heimat“ (Z. 12 f.) fliegen. Für Sahl bleibt die Rückkehr ein kurzes, symbolisches Ereignis, das weder Heilung noch Wiederherstellung bringen kann.
- Sprachlich setzt Zuckmayer auf eine elegische und lyrische Form, die die tiefe Melancholie und den Schmerz der Verlorenheit betont. Er nutzt die Wiederholung des Satzes „Ich weiß, ich werde alles wiedersehen“ (Z. 1, Z. 7), um den unausweichlichen Charakter der Rückkehr zu verdeutlichen, während gleichzeitig die Trostlosigkeit dieser Rückkehr durch die anschließenden Beschreibungen des Verfalls und der Veränderung verstärkt wird.
- Die Metapher der „Flammen, die sich selbst verzehren“ (Z. 21) symbolisiert das innere Leiden, das alle Hoffnungen auf eine Rückkehr zerstört und lediglich „ein kühler Flug von Asche“ (Z. 22) übrig lässt. Zuckmayers Sprache ist durchzogen von Bildern der Leere, der Dunkelheit und des Todes, wie der „stummen Totenwacht“ (Z. 12) und der „tiefsten Nacht“ (Z. 14), die die emotionale Tiefe der Erfahrung unterstreichen.
- Hans Sahl verwendet hingegen eine sachlichere, beinahe reportagehafte Sprache, die die nüchterne Realität der Rückkehr beschreibt. Die sprachliche Gestaltung ist weniger emotional aufgeladen und verzichtet auf die intensive Metaphorik, die bei Zuckmayer zu finden ist. Die Formulierungen wie „Als sie zurückkamen aus dem Exil“ (Z. 1) und „Versöhnung fand statt“ (Z. 5) wirken fast beiläufig und konstatierend, als ob der lyrische Sprecher eine distanzierte Position zu dem Ereignis einnimmt.
- Diese Nüchternheit wird durch die Verwendung von Alltagsgegenständen wie der „Rose“ (Z. 2, Z. 11) und die Erwähnung konkreter Orte wie „Flugplatz in Tegel“ (Z. 6) unterstützt. Die Rückkehr wird so in einen realistischen, fast prosaischen Kontext eingebettet, was die emotionale Distanz und die Enttäuschung der Rückkehrer unterstreicht.
- Beide Gedichte teilen das Motiv der Rückkehr, doch die Art und Weise, wie diese Rückkehr dargestellt wird, zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Bei beiden Dichtern bleibt die Rückkehr mit Enttäuschung und Verlust verbunden. Für Zuckmayer ist sie jedoch auch eine existenzielle, schmerzhafte Erkenntnis über die Unmöglichkeit, das Verlorene zurückzugewinnen, während Sahl die Rückkehr als eine Art trauriges Ritual ohne tieferen Sinn darstellt.
- Während Zuckmayer jedoch eine tiefgehende emotionale Ebene mit komplexen Metaphern und Symbolen entwickelt, bleibt Sahl in seiner Darstellung nüchtern und beobachtend, was die Enttäuschung über die Oberflächlichkeit und die vorgetäuschte Versöhnung betont. Beide Gedichte verdeutlichen so auf unterschiedliche Weise, dass die Erfahrung des Exils und der Wunsch nach Rückkehr immer auch eine Konfrontation mit Verlust und Veränderung bedeutet.
Fazit
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide Gedichte das Motiv der Rückkehr aufgreifen, jedoch unterschiedlich gestalten: Zuckmayer setzt auf eine lyrisch-melancholische Sprache, die die Tiefe des Verlusts betont, während Sahl eine nüchterne, fast dokumentarische Sprache wählt, um die Ernüchterung und das Scheitern der Rückkehr zu verdeutlichen.
- Beide Werke thematisieren die Unmöglichkeit, das Vergangene wiederzuerlangen, und bieten so zwei unterschiedliche Perspektiven auf die gleiche menschliche Erfahrung des Exils und der Entfremdung.