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Aus: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. SchulLV, Karlsruhe 2023.
Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag
Thema: Gotthald Ephraim Lessing: Nathan der Weise Aufgabenstellung:- Analysiere den vorliegenden Auszug aus Lessing Drama Nathan der Weise unter besonderer Berücksichtigung der Funktion des monologischen Sprechens für die Darstellung innerer Konflikte und die gedankliche Entwicklung des Dramas
(42 Punkte)
- Erläutere die Bedeutung dieser Szene für die Vorbereitung des Dramenschlusses. Nimm Stellung zu der Frage, inwiefern an der Gestaltung der Figur des Tempelherrn das in Lessings Drama angelegte Aufklärungsverständnis deutlich wird
(30 Punkte)
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Szene: die Palmen vor Nathans Hause,
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wo der Tempelherr auf- und niedergeht.
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Ins Haus nun will ich einmal nicht. – Er wird
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Sich endlich doch wohl sehen lassen! Man
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Bemerkte mich ja sonst so bald, so gern!
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Will's noch erleben, daß er sich's verbittet,
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Vor seinem Hause mich so fleißig finden
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Zu lassen. Hm! ich bin doch aber auch
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Sehr ärgerlich. Was hat mich denn nun so
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Erbittert gegen ihn? Er sagte ja:
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Noch schlüg' er mir nichts ab. Und Saladin
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Hat's über sich genommen, ihn zu stimmen.
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Wie? sollte wirklich wohl in mir der Christ
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Noch tiefer nisten, als in ihm der Jude?
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Wer kennt sich recht? Wie könnt' ich ihm denn sonst
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Den kleinen Raub nicht gönnen wollen, den
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Er sich's zu solcher Angelegenheit
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Gemacht, den Christen abzujagen? Freilich;
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Kein kleiner Raub, ein solch Geschöpf! Geschöpf?
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Und wessen? Doch des Sklaven nicht, der auf
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Des Lebens öden Strand den Block geflößt,
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Und sich davongemacht? Des Künstlers doch
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Wohl mehr, der in dem hingeworfnen Blocke
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Die göttliche Gestalt sich dachte, die
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Er dargestellt? Ach! Rechas wahrer Vater
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Bleibt, trotz dem Christen, der sie zeugte, bleibt
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In Ewigkeit der Jude. Wenn ich mir
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Sie lediglich als Christendirne denke,
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Sie sonder alles das mir denke, was
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Allein ihr so ein Jude geben konnte:
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Sprich, Herz, was wär' an ihr, das dir gefiel?
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Nichts! Wenig! Selbst ihr Lächeln, wär' es nichts
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Als sanfte schöne Zuckung ihrer Muskeln;
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Wär', was sie lächeln macht, des Reizes unwert,
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In den es sich auf ihrem Munde kleidet:
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Nein; selbst ihr Lächeln nicht! Ich hab es ja
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Wohl schöner noch an Aberwitz, an Tand,
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An Höhnerei, an Schmeichler und an Buhler
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Verschwenden sehn! Hat's da mich auch bezaubert?
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Hat's da mir auch den Wunsch entlockt, mein Leben
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In seinem Sonnenscheine zu verflattern?
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Ich wüßte nicht. Und bin auf den doch launisch,
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Der diesen höhern Wert allein ihr gab?
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Wie das? warum? Wenn ich den Spott verdiente,
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Mit dem mich Saladin entließ! Schon schlimm
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Genug, daß Saladin es glauben konnte!
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Wie klein ich ihm da scheinen mußte! wie
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Verächtlich! Und das alles um ein Mädchen?
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Curd! Curd! das geht so nicht. Lenk ein! Wenn vollends
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Mir Daja nur was vorgeplaudert hätte,
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Was schwerlich zu erweisen stünde? Sieh,
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Da tritt er endlich, im Gespräch vertieft,
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Aus seinem Hause! Ha! mit wem! Mit ihm?
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Mit meinem Klosterbruder? Ha! so weiß
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Er sicherlich schon alles! ist wohl gar
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Dem Patriarchen schon verraten! Ha!
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Was hab ich Querkopf nun gestiftet! Daß
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Ein einz'ger Funken dieser Leidenschaft
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Doch unsers Hirns so viel verbrennen kann!
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Geschwind entschließ dich, was nunmehr zu tun!
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Ich will hier seitwärts ihrer warten; ob
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Vielleicht der Klosterbruder ihn verläßt.
Aus: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. SchulLV, Karlsruhe 2023.
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Einleitung
- Der zu interpretierende Textauszug stammt aus Lessings Drama Nathan der Weise aus dem Jahr 1779.
- Zeitlich und thematisch einzuordnen ist das Werk in die Epoche der Aufklärung.
- Das Drama veranschaulicht den Konflikt der Weltreligionen und die damit aufkommende Bedeutung humanitärer Werte wie Toleranz und Nächstenliebe.
Inhaltliche Analyse
- Der Tempelherr wartet vor Nathans Haus und hält einen Monolog. Dabei reflektiert er sein eigenes Verhalten, seine Unbedarftheit und denkt über Nathans Rolle als Vater nach.
- Am Anfang seines Monologs kann der Tempelherr das lange Warten Nathans in Bezug auf die Einwilligung zur Heirat von Recha nicht nachvollziehen. Er zeigt sich äußerst ungeduldig.
- Er befragt sich selbst im Hinblick auf seine emotionalen Ausbrüche gegenüber Nathan und gesteht sich außerdem ein, dass er innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Patriarchen überreagiert hat (V. 10 f.).
- Weiterhin denkt er sogar darüber nach, ob sein überstürztes Verhalten und seine Emotionen etwas mit seinen Vorurteilen gegenüber Juden zu tun haben könnten. Der Tempelherr macht sich Selbstvorwürfe.
- Obendrein gibt er zu, dass Nathan die Rolle eines wahren und hingebenden Vaters für Recha einnimmt (V. 26).
- Laut ihm sei es gerade die jüdische Erziehung Rechas, die sie so interessant mache (V. 29 ff.). Selbst ihr Lachen wäre nicht mehr das, was es ist, wenn sie christlicher Herkunft wäre (V. 33 ff.).
- Nathan hat einen großen Einfluss auf ihre liebenswerte Persönlichkeit (V. 43 f.).
- Der Tempelherr geht sogar noch weiter, indem er sich zusteht, dass er sich in Recha als das „Geschöpf“ (V. 20) Nathans verliebt habe.
- Am Ende sieht er, wie Nathan mit dem Klosterbruder redend das Haus verlässt (Vgl. V. 55). Der Tempelherr vermutet, dass Nathan bereits über sein Gespräch mit dem Patriarchen informiert sein könnte (Vgl. V. 56).
Sprachliche Analyse
- Sein innerer Dualismus und emotionale Sprunghaftigkeit werden an der Verwendung affektiv aufgeladener Interjektionen deutlich (V. 9, 26, 49, 57).
- Die verwendeten Gedankenstriche, Enjambements und Ellipsen spiegeln die innere Zerissenheit sowie die Sprunghaftigkeit und das Unerwartete in der Gedankenausführung des Tempelherrn wider.
- Seine unsichere, reflexive und fragende Haltung in Bezug auf sein eigenes Verhalten wird durch die zahlreichen Verwendungen rhetorischer Fragen verstärkt (V. 10 f., 14 f., 18 f., 22 f.).
- Durch die verwendeten Antithesen soll ebenfalls der innere Zwiespalt des Tempelherrn zwischen Leidenschaft und Verstand intensiviert werden: „Ein einz’ger Funken dieser Leidenschaft / Doch unsers Hirns so viel verbrennen kann! “ (V. 59 f.).
- Mithilfe von Metaphern verleiht die Figur seinen innersten Wünschen Ausdruck und verstärkt seine Emotionalität: „mein Leben / In seinem Sonnenscheine zu verflattern“ (V. 41 f.).
- Insgesamt erzeugt die vorliegende Semantik und Syntax des inneren Monologs ein hohes Maß an Authentizität und Lebendigkeit.
Die Funktion des monologischen Sprechens für die Darstellung innerer Konflikte und die gedankliche Entwicklung des Dramas
- Durch den inneren Monolog wird dem Leser die innere Zerrissenheit und der Dualismus zwischen dem affektgeladenen und vernunftbasierten Handeln des Tempelherrn aufgezeigt.
- Dieser innere Zwiespalt wird vor allem in der Sicht auf Nathan zum Ausdruck gebracht. Hier schwankt der Tempelherr deutlich zwischen impulsiver Empörung (V. 7 ff.) und Anerkennung. Dies wird auch durch den plötzlichen Gemütswandel charakterisiert, dem sehr sprunghafte Äußerungen folgen.
- Der innere Monolog gibt dem Tempelherrn die Möglichkeit, sein eigenes Verhalten infrage zu stellen und zwingt ihn zur Selbstreflexion.
- Ebenfalls dient der innere Monolog zur eigenen Selbstvergewisserung des Tempelherrn in Hinsicht auf den Wunsch, Recha begehren zu wollen.
- Die anderen Figuren bekommen von dem inneren Monolog des Tempelherrn nichts mit. Eine Wertung durch andere Personen ist demnach ausgeschlossen. Somit sieht sich der Leser selbst in der Position, in die Gedankenwelt des Tempelherrn einzutauchen, einen womöglich negativen Entwurf seiner Persönlichkeit zu überdenken und annäherndes Verständnis für seinen Zwiespalt aufzubringen.
- Der innere Monolog fügt sich aufgrund seiner selbstreflexiven Funktion und der Notwendigkeit zur Einsetzung seines menschlichen Verstandes in den Entstehungskontext der Aufklärung.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass innerhalb der kurzen Textszene insbesondere die Ambivalenz und persönliche, positiv zu bewertende Entwicklung des Tempelherrn auffällt.
- Die sprachliche Gestaltung des Textes gibt dem Leser einen guten Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figur.
- Der innere Monolog sorgt auch dafür, die Reflexion des Lesers in Bezug auf das Geschehen zu aktivieren. Dies geschieht vollkommen objektiv, da wir keinerlei Bewertung oder aktive Teilnahme durch Außenstehende erhalten, durch die wir eventuell beeinflusst werden könnten.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Der analysierten Textstelle ist in vielerlei Hinsicht ein hoher Stellenwert zuzuschreiben. Der dritte Auftritt des fünften Aufzugs befindet sich kurz vor Ende des Dramas Nathan der Weise.
- In der nachfolgenden Analyse soll sich zunächst mit der genauen Bedeutung dieser Szene für die Vorbereitung des Schlusses auseinandergesetzt werden, bevor in einem zweiten Schritt, die Frage nach dem Verhältnis zum Aufklärungsverständnis des gesamten Dramas konstatiert werden soll.
Die Bedeutung der Szene für die Vorbereitung des Schlusses
- Aufkommende Toleranz- und Humanitätsgedanken nehmen die Thematisierung der Toleranz, die am Ende des Dramas aufkommen wird, bereits vorweg. Auffällig ist dabei, dass sich der Tempelherr zuvor noch durch eine zynische Verhaltensweise in Bezug auf Religionsunterschiede ausgezeichnet hat.
- Der innere Monolog sorgt beim Leser für einen reflektierten Umgang des Dramas.
- Weiterhin beinhaltet die Thematisierung der Familienkonstellation und -zugehörigkeit sowie der Religionen eine wichtige thematische Vorbereitung auf den Schluss von Lessings Werk.
- Nathans Persönlichkeit, die in diesem Auftritt wiederholt, als durchweg positiv bewertet wird, deutet auf die Rettung des weisen und vernünftigen Nathans und ein insgesamt gutes Ende des Dramas hin.
Inwiefern wird das in Lessings Drama angelegte Aufklärungsverständnis an der Gestaltung der Figur des Tempelherrn deutlich?
- Die Tatsache, dass Nathan ein Katalysator für das Gute in seiner Umgebung ist und für seine Mitmenschen einen Lehrer und Missionar der Humanität und Vernunft darstellt, kommt auch dem Tempelherrn zugute. In seinem inneren Monolog bestätigt er, dass Nathan seine Tochter hingebungsvoll geformt und zu einem liebenswürdigen und toleranten Menschen gemacht hat. Nathan fungiert als gesellschaftliches Vorbild im Sinne der Aufklärung.
- Dass keine der Weltreligionen absolut alleinstehend regiert und keiner der absolute Wahrheitsgehalt zugeschrieben werden kann, wird dem Tempelherrn Stück für Stück klar.
- Das zunächst noch sehr stark ausgeprägte, affektgeladene und emotionsgeleitete Verhalten des Tempelherrn sorgt keineswegs für positive Reaktionen und wird demnach auch nicht toleriert. Nach dem Weltbild der Aufklärung steht das vernunftgeleitete Denken des Menschen im Vordergrund.
- Die Problematisierung des Verurteilens und der Entstehung eines negativen Vorentwurfs von Menschen. Aggressiver, verurteilender und vorurteilsbehafteter Umgang der Menschen miteinander entspricht nicht den Verhaltensweisen eines humanitären und aufgeklärten Menschen. Dazu passt ebenfalls die Impulsivität und Ungeduld des Tempelherrn.
- Andererseits, der Tempelherr als Figur, die auf der Grundlage gemachter Erfahrungen und Konflikte sein eigenes Verhalten überdenkt, reflektierte Schlüsse daraus zieht, zur Einsicht neigt und eine Formbarkeit in Hinblick auf eine positive Entwicklung aufweist, als Charakterzug eines aufgeklärten Menschen. Dementsprechend kommt auch die mögliche Hoffnung auf, die Menschen zu einer aufgeklärten Sichtweise zu bewegen.
Schluss
- Es ist Lessings Intention, mithilfe des Protagonisten Nathan einen ideal aufgeklärten Menschen zu zeigen, an dem es sich zu orientieren gilt und sich auch lohnt.
- Deutlich wird, dass es Figuren wie den Tempelherrn gibt, die sich dieser Vorstellung zunächst widersetzen, früher oder später jedoch einen inneren Wandel erfahren. Dies wird an der Ambivalenz des Tempelherrn in Hinsicht auf das Aufklärungsverständnis im Drama deutlich. Es gibt Hinweise, die bei ihm für einen aufgeklärten Menschen sprechen und welche, die ihn völlig davon ausschließen, einer zu sein.
- Dieses Abwägen des Für- und Widers stellt letztendlich eine wichtige Aufgabe für den aufmerksamen Leser dar, der innerhalb dieser Auseinandersetzung und Bewertung des Verhaltens einer anderen Figur, letztendlich wertvolle Rückschlüsse auf sich selbst ziehen wird.