Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben GK
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen

HT 1

Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Horst Haider Munske: Sterben die Dialekte aus?
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Artikel Sterben die Dialekte aus? von Horst Haider Munske.
    (36 Punkte)
  • Stelle unter Rückgriff auf deine unterrichtlichen Kenntnisse in Grundzügen die Funktion von Dialekten und Merkmale der verschiedenen deutschen Dialekte dar. Vergleiche den Dialektgebrauch in Deutschland mit dem der alemannischen Dialekte in der Schweiz und nimm abwägend Stellung zu der Frage, inwieweit eine „Diglossie“ (Z. 73) nach dem Schweizer Vorbild in Deutschland denkbar sein könnte.
    (36 Punkte)
Material
Sterben die Dialekte aus? (Textauszug, 2009)
Horst Haider Munske
1
Diese Frage bewegt viele Menschen. Würde nur noch Hochdeutsch gesprochen im deutschen
2
Sprachgebiet, dann wäre das eine spürbare Einbuße im menschlichen Miteinander. Im Dialekt
3
sind sich die Menschen näher, sie reden ausdrucksreicher, emotionaler, weniger distanziert
4
miteinander. Dialekte sind das sichtbarste Merkmal regionaler Identität. Auch der Zugereiste
5
kann daran mit Vergnügen teilhaben, wenn er sich etwas eingehört hat und seinem Gegenüber
6
zu verstehen gibt: Er muss mit ihm nicht in den hochdeutschen Code wechseln.
7
Zwei Beobachtungen begründen die Sorge um das Dialektsterben: der Rückgang des Dia-
8
lektgebrauchs im Alltag und der vermeintliche Dialektverfall bei vielen jüngeren Sprechern.
9
Das eine ist Ausdruck eines Sprachwechsels vom mündlichen Sprachverkehr zur prestige-
10
trächtigeren Hochsprache. Das andere ist Folge des Kontakts zwischen Dialekt und Standard-
11
sprache. Im Munde zweisprachiger Sprecher übernehmen die Dialekte Wörter, Lautungen
12
und grammatische Merkmale der Hochsprache und wandeln sich zu regionalen Umgangs-
13
sprachen. Diese haben in vielen Regionen Deutschlands die Rolle der Dialekte als mündliche
14
Alltagssprachen übernommen.
15
Die Klage über den Untergang der Dialekte ist übrigens so alt wie die über den Sittenverfall
16
bei der Jugend, den Sprachverfall im Allgemeinen, den Verfall der Lesekultur, der Umgangs-
17
formen usw. Sie ist ein Ausdruck des Missvergnügens über den Wandel der Sitten, des Sprach-
18
gebrauchs und eben auch der Dialekte. Aber warum sterben die Dialekte? Lässt es sich auf-
19
halten? Gilt das für alle Dialekte? Gibt es eine gegenteilige Entwicklung, aus der einst auch
20
unsere Hochsprache hervorgegangen ist, der Ausbau der Dialekte zu einer überregionalen
21
Schriftsprache? [...]
22
„Sterben“ können Dialekte natürlich nicht im eigentlichen Sinne wie Menschen, Tiere, Pflan-
23
zen. Ihr Untergang ist immer an die Menschen gebunden, die sie gebrauchen. Sprachen exis-
24
tieren durch ihre Sprecher. Durch sie werden sie an die nächsten Generationen weitergege-
25
ben. Der Spracherwerb der Kinder ist die Voraussetzung für das Weiterleben einer Sprache.
26
Wenn dieser Weg abgebrochen wird, ist das Weiterleben einer Sprache in ernster Gefahr. Und
27
wenn der letzte Sprecher einer Sprache gestorben ist, dann ist auch der Sprachtod eingetreten.
28
So ging zum Beispiel der ostfriesische Dialekt auf der Insel Wangerooge endgültig unter, als
29
die letzte Sprecherin im Jahre 1950 verstarb.
30
Tote Sprachen können natürlich, wenn sie aufgezeichnet wurden, wenn literarische Denk-
31
mäler überliefert sind, weiterhin gelesen werden, aber dies ist ein künstliches Leben, eine Art
32
Wachkoma der Sprachen, sie leben nur noch durch diese Aufzeichnungen, nicht als Gebrauchs-
33
sprachen, die der Mensch als Kind von den Eltern erlernt und im Gebrauch produktiv verän-
34
dern kann.
35
Das Sterben der Dialekte – und überhaupt von Sprachen – hat zwei Hauptursachen: äußere,
36
wie Naturkatastrophen, Kriege, Vertreibung, Genozid, von der die Sprecher betroffen wer-
37
den. Die andere Ursache liegt im Sprachverhalten der Sprecher selbst, in der freiwilligen Ab-
38
wendung von ihrer Sprache zugunsten einer anderen. Dies gilt vor allem für mehrsprachige
39
Gesellschaften. In der Konkurrenz von Sprachen gehen manche unter, weil ihnen eine andere
40
von den Sprechern vorgezogen wird.
41
Betrachten wir einige Beispiele. In Nordfriesland, auf den Inseln Föhr, Amrum, Sylt und
42
Helgoland, auf den Halligen und dem gegenüberliegenden Festland gibt es zur Zeit etwa
43
5.000 Muttersprachler der verschiedenen nordfriesischen Dialekte. Trotz lebhafter institutio-
44
neller Bemühungen in Kindergärten, Schulen und Vereinen, diesen Stand zu halten oder gar
45
zu verbessern, ist der Erhalt dieser kleinen, seit über 1.000 Jahren bestehenden Sprachgemein-
46
schaft stark gefährdet. Die ersten schweren Einbrüche bedeuteten die gewaltigen Sturmfluten
47
(„Grote Mandränke“) von 1362 und 1634, durch welche ein ursprünglich weitgehend verbun-
48
denes Siedlungs- und Sprachgebiet durch das Meer auseinandergerissen, zerstückelt und ver-
49
kleinert wurde. [...] Menschenwerk dagegen waren die zahllosen Vertreibungen oder soge-
50
nannte Umsiedlungen des 20. Jahrhunderts, von Kurden, Armeniern und Griechen, von Wolga-
51
deutschen, Schlesiern, Ostpreußen, Balten, Sudetendeutschen und unzähligen anderen. Auch
52
ihre Dialekte waren davon betroffen. Die Überlebenden bewahren ihre Heimatsprachen meist
53
bis an den Tod, aber selten geben sie sie an ihre Kinder und Enkel weiter. Diese sozialisieren
54
sich in neuer Umgebung, auch sprachlich. Verheerend betroffen waren die jiddischen Dialekte
55
vom Genozid der Juden in West-, Mittel-, Süd- und Osteuropa. [...]
56
Zu den äußeren Ursachen des Dialektsterbens müssen wir auch Veränderungen zählen, die
57
gemeinhin als Fortschritt gelten: die Verbesserung der verkehrsmäßigen Infrastruktur und die
58
Erschließung neuer Erwerbsquellen durch den Tourismus. Beides hat in Nordfriesland dazu
59
geführt, dass Friesisch als öffentliche Verkehrssprache anfangs vom Plattdeutschen, heute
60
vom Hochdeutschen abgelöst wurde, dass alle Friesischsprecher zwei- oder dreisprachig sind
61
und ihren friesischen Dialekt fast nur noch als Haus- und Nachbarschaftssprache benutzen.
62
Solche Mehrsprachigkeit führt in der Regel zu einer Hierarchisierung der Sprachen. [...]
63
Dieser Entwicklung haben die Deutschschweizer bis heute widerstanden. Die alemannischen
64
Dialekte der Schweiz sind unangefochten das alleinige Medium aller Bevölkerungsschichten
65
in allen mündlichen Kommunikationssituationen: nicht nur im Haus und auf der Straße, ebenso
66
im Radio, in den Behörden, beim Militär, im Parlament. Dabei bedient sich jeder seines eige-
67
nen heimatlichen Dialekts, wird verstanden und versteht sein Gegenüber. Nebenbei kann jeder
68
aus solcher Spracherfahrung den anderen lokalisieren, das heißt über den Dialekt seine Her-
69
kunft als Berner, Zürcher, Walliser usw. erkennen. Die deutsche Standardsprache dient aus-
70
schließlich als Schriftsprache der Deutschschweizer, wird in der Schule vermittelt, aber allen-
71
falls im Kontakt mit Nicht-Schweizern (nicht ohne Akzent) benutzt. Sprachwissenschaftler
72
bezeichnen solche stabile Funktionsteilung zweier verwandter Sprachen in einer Sprachge-
73
meinschaft als Diglossie (das griechische Wort für „Zweisprachigkeit“).
74
Im Vergleich zum deutschen Nachbarn kennen die Schweizer keine Beschränkung des Dia-
75
lekts auf bestimmte Gebrauchssphären, zum Beispiel Landwirtschaft, traditionelle Handwerke
76
u.ä. Das führt dazu, dass auch der Wortschatz der Schriftsprache in den Dialekt aufgenom-
77
men wird, allerdings lautlich integriert. So wird aus hochdeutsch Entwicklung ein schweizer-
78
deutsches Entwicklig, aus Einsatz wird Iisatz, aus möglicherweise wird möglicherwiis. Mit
79
solchem integrierten Import sind die Dialekte jedem Thema gewachsen und verändern sich –
80
zumindest lexikalisch – rasch. Das widerspricht mancher Erwartung, die Dialekte der Groß-
81
eltern ließen sich konservieren. Sie bleiben nur lebendig und werden von den Eltern den Kin-
82
dern als Muttersprache weitergegeben, wenn sie dem Leistungsanspruch heutiger mündlicher
83
Kommunikation angepasst werden.
84
Mit dem Begriff Diglossie lässt sich das Verhältnis von gesprochener und geschriebener
85
Sprache in vielen Sprachgemeinschaften gut beschreiben.
86
Ein klassischer Fall der Arbeitsteilung beider Varietäten besteht in den arabischen Staaten.
87
Die heutige arabische Hochsprache, eine konservierte Form des Klassischen Arabisch, wird
88
nirgends als Muttersprache erworben, erst in den Schulen vermittelt und stellt ein religiös
89
motiviertes Bindeglied aller arabischsprachigen Länder dar. Gesprochen und als Mutterspra-
90
chen erlernt werden aber die regionalen arabischen Dialekte. Auch hier herrscht eine stabile
91
Diglossie. Doch während in der Schweiz die Dialekte als nationale Varietät hohes Prestige
92
genießen, gelten die arabischen Dialekte nichts im Vergleich zur Schriftsprache. Dies ist
93
eine extreme Form von Fehleinschätzung der Varietäten gesprochener Sprache, die auch in
94
Deutschland lange vorherrschend war.
95
Was lehren diese Beispiele und Vergleiche? Dialekte sind wie alle Sprachen einzigartige
96
Zeugnisse unserer Lebenskultur, sie sind kulturelle Artefakte des Menschen. Das schützt sie
97
aber nicht vor Wandel oder Untergang. Ihre Lebensbedingungen gleichen den Biotopen der
98
Natur. Deren Wandel müssen sich Tiere und Pflanzen anpassen oder sie gehen ein. [...]

Horst Haider Munske (* 1935) ist emeritierter Professor für germanische und deutsche
Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Aus: Horst Haider Munske: Sterben die Dialekte aus? In: Sprachnachrichten 44 (2009), S. 4 – 5.
(Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle)

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?