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Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Marius Buhl: Zwischen Schwund und Renaissance. Warum Dialekte nicht aussterben.
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Artikel Zwischen Schwund und Renaissance. Warum Dialekte nicht aussterben von Marius Buhl, indem du die zentralen Aussagen und die Art ihrer Entfaltung darstellst sowie die sprachliche Gestaltung untersuchst.
    (36 Punkte)
  • Erläutere in Abgrenzung von den Begriffen Dialekt und Regiolekt den Begriff der Standardsprache. Stelle beispielhaft weitere Veränderungen in der Standardsprache dar und erläutere deren mögliche Funktionen auch vor dem Hintergrund ihres Verwendungszusammenhangs. Nimm abwägend zu der Frage Stellung, ob das Niveau der Standardsprache abnimmt.
    (36 Punkte)
Material
Zwischen Schwund und Renaissance. Warum Dialekte nicht aussterben
Marius Buhl
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[...] Dass es die deutschen Dialekte schwer haben, das ist, wie man heute sagen würde,
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common knowledge, weeß jeda. Die Entwicklung ist nicht neu, schon 1988 sagte Gerhard Polt
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dem Magazin „Tempo“: „Ein Münchner Kind ist heute praktisch vom Dialekt entsorgt.“
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Und wenn man in den Archiven kramt, findet man schon in den 30er-Jahren Bedenkenträger.
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Die Dialekte leiden also schon lange. Wann sie tot sind?
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Vielleicht gar nicht so bald, zumindest wenn man den anderen glaubt. Jenen, die eine Renais-
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sance des Dialekts versprechen und Anzeichen dafür überall entdecken. Nachrichtensprecher
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lassen plötzlich Sprachfärbungen zu, im „Tatort“ sächseln und schwäbeln immerhin die Sekre-
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tärinnen, und sowohl Heimatkrimis als auch Landlustmagazine sind schon lang der Renner.
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Wer jetzt recht hat?
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Ein Anruf beim Sprachwissenschaftler Sebastian Kürschner Der erforscht die deutschen
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Dialekte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. [...]
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„Dass die Zahl der Dialektsprecher schrumpft, ist schwer von der Hand zu weisen“, sagt er.
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Zwar beherrschten 60 Prozent der Deutschen bis heute einen Dialekt. „Seit der Nachkriegs-
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zeit ist die Nutzung aber stark zurückgegangen.“ Während in Ostdeutschland 1991 noch
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41 Prozent der Menschen „fast immer“ Dialekt sprachen, sank der Anteil der aktiven Sprecher
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bis 2008 auf 33 Prozent – und dürfte bis heute weiter gesunken sein.
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Im Westen verkleinerte sich die Zahl im selben Zeitraum von 28 auf 24 Prozent. Für Rhein-
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land-Pfalz fand eine Studie heraus, dass neun Prozent des dialektalen Wortschatzes pro Gene-
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ration verloren gingen.
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Ein Schwarzer, der Platt spricht, wird zum Star
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Mütter, Medien, Mobilität seien schuld, sagen Sprachforscher. Erstere, weil sie ihren Kin-
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dern Mundart vorenthielten (Väter übrigens auch). Zweitere, weil sie die Standardsprache
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noch ins letzte Loch verbreiteten. Und Letztere, weil sie zu Austausch führt und [...] stets der
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Feind des Status Quo ist. [...]
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Vielleicht gibt eine Anekdote aus Ostfriesland Aufschluss. Dort lebt Keno Veith, ein Lohner,
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so nennen sie dort die Arbeiter in der Landwirtschaft. Neulich blieb Veith stecken, bei der
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Maisernte grub sich sein Trecker in den Klei. Er sprang von seiner Maschine und begutach-
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tete den Schlamassel (süddeutsch übrigens: das Schlamassel).
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Und weil ihm beim Begutachten, wie er später sagen würde, langweilig wurde, kramte er
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sein Handy aus der Tasche und nahm eine Videobotschaft auf. „Mooooin“, sagte Veith in
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die Kamera. „Nu mööt wi luern luern luern, bit en kummt un uns ruttrecken deit.“ Er müsse
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also warten, warten, warten, bis einer komme und ihn rausziehe. Dann lud Veith das Video
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bei YouTube hoch.
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Innerhalb weniger Tage wurde er zum Star. Zehntausende klickten seinen Clip, Jan Böhmer-
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mann empfahl ihn, Zeitungen schickten Reporter, „Bauer sucht Frau“ wollte ihn fürs Fernsehen
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verpflichten. Keno Veith sagte ab, was seiner Beliebtheit nicht schadete: 200.000 Klicks hat das
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Filmchen bis heute gesammelt, und er hat dutzende weitere gedreht. Immer op Platt.
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Veith glaubt, der Erfolg des Videos liege an seinem Äußeren. Seine Haut ist schwarz, sein
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Vater stammt aus Kamerun. „Ich bin waschechter Ostfriese, nur in anderer Verpackung“,
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sagt er.
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Vielleicht hat er recht. Ein Schwarzer, der Platt spricht, ist ungewöhnlich. Vielleicht kann man
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aus dem Erfolg von Veiths Video aber noch etwas Zweites ableiten: Es gibt da draußen im
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Land einen großen Hunger auf Dialekt. Weil er echt ist. Weil ihm der Zauber eines besseren
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Frühers innewohnt. Und weil er klare Zuordnung ermöglicht, in einer Welt, die immer unor-
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dentlicher zu werden scheint. Buy local, speak local. [...]
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Könnte der Dialekt also zurückkehren, weil er unsere kalte Welt ein bisschen wärmer macht?
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So einfach ist es auch wieder nicht. Davon kann Patricia Kühfuss erzählen. Sie ist Fotografin,
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30 Jahre alt – und Schwäbin. Kühfuss ist ein besonderer Fall: Sie studierte in Hamburg, und
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weil sie es nicht anders konnte, sprach sie in Seminaren und Vorlesungen Schwäbisch. Kein
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besonders breites Schwäbisch, aber doch so, dass jeder erkannte, wo sie herkommt.
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„Meine Kommilitonen“, sagt Kühfuss, „haben mich ausgelacht.“ Sie begann zu zweifeln. Dass
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es Studien gibt, die belegen, dass Dialektsprecher weniger intellektuell scheinen, davon hatte
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sie gehört. [...]
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Kühfuss’ Geschichte ist beides – Regel und Ausnahme. Das zeigt die größte Studie zum
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Thema Dialekt, erhoben 2008 vom Institut für deutsche Sprache. Zuerst zur Regel: Die meis-
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ten Dialektsprecher kommen aus dem deutschen Süden, hier geben 59 Prozent der Befragten
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an, ihren Dialekt „immer“ oder „oft“ anzuwenden. Im Norden – wo es ohnehin weniger Dia-
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lektsprecher gibt – sind es nur 15 Prozent. Besonders Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind
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laut Studie Notstandsgebiete.
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Auch dass Kühfuss für ihren Dialekt ausgelacht wurde, passt zur Erhebung. Schwäbisch,
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Bairisch und Sächsisch polarisieren. Je weiter weg man sich von der Heimat befindet, desto
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unsympathischer bewerten andere den Dialekt. Krassestes Beispiel: Ostdeutsche finden Säch-
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sisch viel sympathischer als Westdeutsche, die Witze über die zu Goethes Zeiten edelste deut-
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sche Mundart machen. [...]
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Die Ausnahme ist Patricia Kühfuss, weil sie irgendwann beschloss, sich vom Lachen der
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Kommilitonen nicht mehr einschüchtern zu lassen. Sie war für ein Semester nach Norwegen
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gezogen, wo es vollkommen normal ist, dass Menschen auch an der Universität Mundart
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sprechen. „Ich habe da begriffen, dass man kein minderwertiger Mensch ist, wenn man im
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Hörsaal Dialekt spricht“, sagt Kühfuss.
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Unreiner Dialekt und unreine Standardsprache
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Der klassische Fall wäre wohl ein anderer. Nehmen wir eine Frau aus Hessen. In ihrer Kind-
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heit hört sie Sätze wie „Hald de Sabbel“, wenn sie zu laut schreit, spricht selbst aber in Wort-
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wahl und Grammatik nicht mehr so ausgeprägt wie ihre Großeltern. In der Schule wechselt
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sie zu einem gefärbten Standarddeutsch, das wirkt professioneller, zum Studium in München
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oder Berlin legt sie den Dialekt ganz ab.
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Fährt sie heute zu ihren Eltern, freut sie sich in der Regionalbahn schon über die Schaffner-
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ansagen. Sie weiß: Jetzt ist es Zeit, die Mundart wieder auszupacken.
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„Die Dialekte sterben nicht, eher ändert sich das Konzept“, sagt auch Sprachforscher Kürsch-
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ner. „Wir wenden sie an, wenn es situativ passt.“ Zwei Pfeile im Köcher. Zwischen Schwund
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und Renaissance sieht er keinen Widerspruch.
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Zwar verschwinde – im Norden schneller als im Süden – der tiefe Dialekt, der sich von Dorf
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zu Dorf unterscheide. An seine Stelle trete dafür eine Art Regiolekt. „Man wird in Deutsch-
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land noch lange hören können, woher jemand kommt“, sagt Kürschner. Gleichzeitig verliere
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auch die Standardsprache an Perfektion, lasse regionale Schnörkel zu. Unreiner Dialekt und
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unreine Standardsprache – Heimathype und das Bedürfnis, verstanden zu werden, existieren
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parallel. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Marius Buhl (* 1992) ist Journalist beim Tagesspiegel.
Aus: Der Tagesspiegel, 18. August 2019 (gekürzt), letzter Zugriff am 30.12.2019.

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