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HT 2

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Robert Musil (* 1880 - † 1942): Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Anfang des Romans Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von Robert Musil. Berücksichtige dabei die Gestaltung der Hauptfigur in ihrem Verhältnis zur Außenwelt.
    (42 Punkte)
  • Stelle dar, wie die Figur Franz Huchel in dem Roman Der Trafikant von Robert Seethaler mit der Trennung von ihrem Zuhause in der neuen Lebenssituation umgeht. Vergleiche im Hinblick auf diesen Aspekt die beiden Hauptfiguren und berücksichtige dabei die Bedeutung des Schreibens für den jeweiligen Protagonisten.
(30 Punkte)
Material
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906; Romananfang)
Robert Musil
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Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.
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Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben
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Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von
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dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.
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Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße
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zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und
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waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub
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und Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen.
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Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermü-
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dete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges,
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Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen.
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Von Zeit zu Zeit, in gleichen Intervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer
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heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf nach den Signalen
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der Wächterhäuschen, die immer noch nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an
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der Grenze große Verspätung erlitten hatte; mit ein und derselben Bewegung des Armes zog
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er sodann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf und verschwand wieder; so wie die
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Figuren kommen und gehen, die aus alten Turmuhren treten, wenn die Stunde voll ist.
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Auf dem breiten, festgestampften Streifen zwischen Schienenstrang und Gebäude prome-
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nierte eine heitere Gesellschaft junger Leute, links und rechts eines älteren Ehepaares schrei-
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tend, das den Mittelpunkt der etwas lauten Unterhaltung bildete. Aber auch die Fröhlichkeit
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dieser Gruppe war keine rechte; der Lärm des lustigen Lachens schien schon auf wenige
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Schritte zu verstummen, gleichsam an einem zähen, unsichtbaren Widerstande zu Boden zu
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sinken.
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Frau Hofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren, verbarg hinter ihrem
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dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen.
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Und es fiel ihr schwer, ihr einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten
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lassen zu müssen, ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu wachen.
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Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich be-
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siedeltem, trockenem Ackerland.
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Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden mußte, ihren Jungen in so ferner, unwirtli-
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cher Fremde zu wissen, war, daß sich in dieser Stadt ein berühmtes Konvikt befand, welches
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man schon seit dem vorigen Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung er-
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richtet worden war, da draußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderb-
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lichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren.
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Denn hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach
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Verlassen des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst
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einzutreten, und in allen diesen Fällen sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesell-
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schaft galt es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein.
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Vor vier Jahren hatte dies das Elternpaar Törleß bewogen, dem ehrgeizigen Drängen seines
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Knaben nachzugeben und seine Aufnahme in das Institut zu erwirken.
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Dieser Entschluß hatte später viele Tränen gekostet. Denn fast seit dem Augenblicke, da sich
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das Tor des Institutes unwiderruflich hinter ihm geschlossen hatte, litt der kleine Törleß an
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fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh. Weder die Unterrichtsstunden, noch die Spiele
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auf den großen üppigen Wiesen des Parkes, noch die anderen Zerstreuungen, die das Konvikt
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seinen Zöglingen bot, vermochten ihn zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles
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nur wie durch einen Schleier und hatte selbst untertags häufig Mühe, ein hartnäckiges Schluch-
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zen hinabzuwürgen; des Abends schlief er aber stets unter Tränen ein.
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Er schrieb Briefe nach Hause, beinahe täglich, und er lebte nur in diesen Briefen; alles an-
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dere, was er tat, schien ihm nur ein schattenhaftes, bedeutungsloses Geschehen zu sein, gleich-
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gültige Stationen wie die Stundenziffern eines Uhrblattes. Wenn er aber schrieb, fühlte er etwas
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Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob
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sich etwas in ihm aus dem Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und
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gleichgültig umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder im Unterrichte, daran
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dachte, daß er abends seinen Brief schreiben werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer
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Kette einen goldenen Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von
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wunderbaren Gärten öffnen werde.
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Das Merkwürdige daran war, daß diese jähe, verzehrende Hinneigung zu seinen Eltern für
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ihn selbst etwas Neues und Befremdendes hatte. Er hatte sie vorher nicht geahnt, er war gern
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und freiwillig ins Institut gegangen, ja er hatte gelacht, als sich seine Mutter beim ersten Ab-
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schied vor Tränen nicht fassen konnte, und dann erst, nachdem er schon einige Tage allein
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gewesen war und sich verhältnismäßig wohl befunden hatte, brach es plötzlich und elementar
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in ihm empor.
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Er hielt es für Heimweh, für Verlangen nach seinen Eltern. In Wirklichkeit war es aber
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etwas viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres. Denn der „Gegenstand dieser Sehn-
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sucht“, das Bild seiner Eltern, war darin eigentlich gar nicht mehr enthalten. Ich meine diese
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gewisse plastische, nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung an eine ge-
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liebte Person, die zu allen Sinnen spricht und in allen Sinnen bewahrt wird, so daß man nichts
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tun kann, ohne schweigend und unsichtbar den anderen zur Seite zu fühlen. Diese verklang
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bald wie eine Resonanz, die nur noch eine Weile fortgezittert hatte. Törleß konnte sich damals
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beispielsweise nicht mehr das Bild seiner „lieben, lieben Eltern" - dermaßen sprach er es meist
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vor sich hin - vor Augen zaubern. Versuchte er es, so kam an dessen Stelle der grenzenlose
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Schmerz in ihm empor, dessen Sehnsucht ihn züchtigte und ihn doch eigenwillig festhielt,
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weil ihre heißen Flammen ihn zugleich schmerzten und entzückten. Der Gedanke an seine
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Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer bloßen Gelegenheitsursache, dieses egois-
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tische Leiden in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen Stolz einschloß wie in die
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Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen und von hundert
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Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich selbst Geißelnden ge-
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streut wird. - - -
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Anmerkungen zum Autor:
Robert Musil war ein österreichischer Schriftsteller und Theaterkritiker. Er wurde 1880 in St. Ruprecht bei Klagenfurt geboren und starb 1942 in Genf.
Aus: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 7-9.
(Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.)

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