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Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag
Thema: Johannes Bobrowski: Mäusefest (1965) Aufgabenstellung:- Interpretiere die Kurzgeschichte Mäusefest von Johannes Bobrowski. Untersuche dabei insbesondere die Gestaltung der Figur des Moise Trumpeters und ihren Umgang mit dem deutschen Soldaten.
(42 Punkte)
- Stelle anhand zentraler Handlungsstationen dar, wie die Figur des Otto Trsnjek in dem Roman Der Trafikant von Robert Seethaler mit den politischen Veränderungen und der damit verbundenen Bedrohung umgeht und welche Konsequenzen dies hat. Vergleiche die beiden Texte im Hinblick auf die literarische Gestaltung der Bedrohungssituation und des Umgangs der beiden Figuren damit.
(30 Punkte)
Material
Mäusefest
Johannes Bobrowski
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Moise Trumpeter sitzt auf dem Stühlchen in der Ladenecke. Der Laden ist klein, und er ist
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leer. Wahrscheinlich weil die Sonne, die immer hereinkommt, Platz braucht und der Mond
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auch. Der kommt auch immer herein, wenn er vorbeigeht. Der Mond also auch. Er ist herein-
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gekommen, der Mond, zur Tür herein, die Ladenklingel hat sich nur einmal und ganz leise
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nur gerührt, aber vielleicht gar nicht, weil der Mond hereinkam, sondern weil die Mäuschen
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so laufen und herumtanzen auf den dünnen Dielenbrettern. Der Mond ist also gekommen, und
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Moise hat Guten Abend, Mond! gesagt, und nun sehen sie beide den Mäuschen zu.
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Das ist aber auch jeden Tag anders mit den Mäusen, mal tanzen sie so und mal so, und alles
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mit vier Beinen, einem spitzen Kopf und einem dünnen Schwänzchen.
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Aber lieber Mond, sagt Moise, das ist längst nicht alles, da haben sie noch so ein Körperchen,
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und was da alles drin ist! Aber das kannst du vielleicht nicht verstehen, und außerdem ist es
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gar nicht jeden Tag anders, sondern immer ganz genau dasselbe, und das, denk ich, ist gerade
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so sehr verwunderlich. Es wird schon eher so sein, daß du jeden Tag anders bist, obwohl du
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doch immer durch die gleiche Tür kommst und es immer dunkel ist, bevor du hier Platz ge-
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nommen hast. Aber nun sei mal still und paß gut auf.
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Siehst du, es ist immer dasselbe.
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Moise hat eine Brotrinde vor seine Füße fallen lassen, da huschen die Mäuschen näher, ein
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Streckchen um das andere, einige richten sich sogar auf und schnuppern ein bißchen in die
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Luft. Siehst du, so ist es. Immer dasselbe.
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Da sitzen die beiden Alten und freuen sich und hören zuerst gar nicht, daß die Ladentür auf-
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gegangen ist. Nur die Mäuse haben es gleich gehört und sind fort, ganz fort und so schnell,
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daß man nicht sagen kann, wohin sie gelaufen sind.
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In der Tür steht ein Soldat, ein Deutscher. Moise hat gute Augen, er sieht: ein junger Mensch,
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so ein Schuljunge, der eigentlich gar nicht weiß, was er hier wollte, jetzt, wo er in der Tür
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steht. Mal sehen, wie das Judenvolk haust, wird er sich draußen gedacht haben. Aber jetzt
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sitzt der alte Jude auf seinem Stühlchen, und der Laden ist hell vom Mondlicht. Wenn Se mech-
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ten hereintreten, Herr Leitnantleben, sagt Moise.
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Der Junge schließt die Tür. Er wundert sich gar nicht, daß der Jude Deutsch kann, er steht so
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da, und als Moise sich erhebt und sagt: Kommen Se man, andern Stuhl hab ich nicht, sagt er:
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Danke, ich kann stehen, aber er macht ein paar Schritte, bis in die Mitte des Ladens, und dann
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noch drei Schritte auf den Stuhl zu. Und da Moise noch einmal zum Sitzen auffordert, setzt
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er sich auch.
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Jetzt sind Se mal ganz still, sagt Moise und lehnt sich an die Wand.
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Die Brotrinde liegt noch immer da, und, siehst du, da kommen auch die Mäuse wieder. Wie
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vorher, gar nicht ein bißchen langsamer, genau wie vorher, ein Stückchen, noch ein Stück-
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chen, mit Aufrichten und Schnuppern und einem ganz winzigen Schnaufer, den nur Moise
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hört und vielleicht der Mond auch. Ganz genau wie vorher.
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Und nun haben sie die Rinde wiedergefunden. Ein Mäusefest, in kleinem Rahmen, versteht
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sich, nichts Besonderes, aber auch nicht ganz alltäglich.
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Da sitzt man und sieht zu. Der Krieg ist schon ein paar Tage alt. Das Land heißt Polen. Es
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ist ganz flach und sandig. Die Straßen sind schlecht, und es gibt viele Kinder hier. Was soll
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man da noch reden? Die Deutschen sind gekommen, unzählig viele, einer sitzt hier im Juden-
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laden, ein ganz junger, ein Milchbart. Er hat eine Mutter in Deutschland und einen Vater,
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auch noch in Deutschland, und zwei kleine Schwestern. Nun kommt man also in der Welt
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herum, wird er denken, jetzt ist man in Polen, und später vielleicht fährt man nach England,
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und dieses Polen hier ist ganz polnisch.
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Der alte Jude lehnt an der Wand. Die Mäuse sind noch immer um ihre Rinde versammelt.
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Wenn sie noch kleiner geworden ist, wird eine ältere Mäusemutter sie mit nach Hause neh-
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men, und die andern Mäuschen werden hinterherlaufen.
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Weißt du, sagt der Mond zu Moise, ich muß noch ein bißchen weiter. Und Moise weiß schon,
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daß es dem Mond unbehaglich ist, weil dieser Deutsche da herumsitzt. Was will er denn bloß?
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Also sagt Moise nur: Bleib du noch ein Weilchen.
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Aber dafür erhebt sich der Soldat jetzt. Die Mäuse laufen davon, man weiß gar nicht, wohin
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sie alle so schnell verschwinden können. Er überlegt, ob er Aufwiedersehen sagen soll, bleibt
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also einen Augenblick noch im Laden stehen und geht dann einfach hinaus.
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Moise sagt nichts, er wartet, daß der Mond zu sprechen anfängt. Die Mäuse sind fort, ver-
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schwunden. Mäuse können das.
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Das war ein Deutscher, sagt der Mond, du weißt doch, was mit diesen Deutschen ist. Und
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weil Moise noch immer so wie vorher an der Wand lehnt und gar nichts sagt, fährt er dring-
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licher fort: Weglaufen willst du nicht, verstecken willst du dich nicht, ach Moise. Das war
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ein Deutscher, das hast du doch gesehen. Sag mir bloß nicht, der Junge ist keiner, oder jeden-
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falls kein schlimmer. Das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Wenn sie über Polen gekom-
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men sind, wie wird es mit deinen Leuten gehn?
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Ich hab gehört, sagt Moise.
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Es ist jetzt ganz weiß im Laden. Das Licht füllt den Raum bis an die Tür in der Rückwand.
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Wo Moise lehnt, ganz weiß, daß man denkt, er werde immer mehr eins mit der Wand. Mit
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jedem Wort, das er sagt. Ich weiß, sagt Moise, da hast du ganz recht, ich werd Ärger kriegen
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mit meinem Gott.
Der Lyriker und Erzähler Johannes Bobrowski wurde 1917 in Tilsit (Stadt in Ostpreußen, seit
1946 Sowetsk) geboren. Nach seinem Abitur im Jahr 1937 und einem zweijährigen
Militärpflichtdienst war Bobrowski als Gefreiter in einem Nachrichtenregiment im Kriegseinsatz.
Er starb 1965 in Ost-Berlin. Aus: Johannes Bobrowski: Mäusefest. In: Marie Luise Kaschnitz (Hrsg.): Deutsche Erzähler. Zweiter Band.
Frankfurt am Main: Insel Verlag 1980, S. 621 – 623.
(Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle)
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Einleitung
- Der vorliegende Text mit dem Titel Mäusefest wurde von Johannes Bobrowski geschrieben und 1965 als Teil des Sammelbandes Deutsche Erzähler veröffentlicht.
- Der thematische Schwerpunkt der Kurzgeschichte liegt auf der Begegnung zwischen Moise, einem alten Juden in Polen, und einem jungen deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs.
- Die Geschichte spielt in Moises Laden, wo er und der Mond (personifiziert als ein Gesprächspartner) den Mäusen zusehen.
Hauptteil
- Die Kurzgeschichte Mäusefest von Johannes Bobrowski spielt während des Zweiten Weltkriegs in Polen und handelt von einem alten Juden namens Moise Trumpeter, der in seinem kleinen Laden einen deutschen Soldaten empfängt.
- Vor dem Aufeinandertreffen wartet Moise allein, einzig der vom Nachthimmel scheinende Mond dient ihm als Gesprächspartner. Dass inzwischen bereits „die Mäuschen so laufen und herumtanzen“ (Z. 5 f.) in Moises Laden, spricht dafür, dass die Kundschaft in Trumpeters Laden bereits seit Langem ausbleibt.
- Dass Moise die Mäuse trotz Essensknappheit im Krieg füttert, deutet darauf hin, dass es sich bei ihm um einen äußerst großzügigen und empathischen Menschen handelt.
- Die Geschichte ist geprägt von einer ruhigen, fast idyllischen Atmosphäre, die durch die Anwesenheit des Soldaten eine bedrohliche Note erhält.
- Moise Trumpeter wird als eine gelassene Figur dargestellt, die trotz der drohenden Gefahr durch den deutschen Soldaten ihre Ruhe bewahrt. Die innere Sicherheit, die Moise ausstrahlt, kann darauf zurückgeführt werden, dass die meisten Mitglieder aus seinem Familien- und Freundeskreis entweder dem Krieg bereits zum Opfer fielen, oder ins Exil etwa nach Amerika flüchteten.
- Er scheint sich seiner Situation bewusst zu sein, zeigt jedoch keine Angst oder Panik. Stattdessen beobachtet er weiterhin die Mäuse in seinem Laden und nimmt nach dem Eintreten des jungen Soldaten auch wieder nahtlos sein Gespräch mit dem Mond auf.
- Auf den alten Ladenbesitzer wirkt der Soldat nicht wie ein Erwachsener, sondern eher wie „ein junger Mensch, so ein Schuljunge“ (Z. 23 f.), was abermals seine Unaufgeregtheit gegenüber dem Staatsdiener unterstreicht.
- Diese Gelassenheit könnte als Zeichen seiner Resignation interpretiert werden, aber auch als Ausdruck seines Glaubens und seiner inneren Stärke.
- Der Umgang von Moise mit dem deutschen Soldaten ist geprägt von Höflichkeit und Respekt. Trotz der offensichtlichen Bedrohung durch den Soldaten behandelt Moise ihn nicht feindselig oder ängstlich, sondern lädt ihn ein, sich zu setzen und das Treiben der Mäuse zu beobachten. Diese Handlung könnte als Zeichen von Moises Menschlichkeit und Würde interpretiert werden, die er auch unter schwierigen Umständen bewahrt.
- Die Begegnung zwischen Moise und dem Soldaten endet ohne Konflikt oder Gewalt. Der Soldat verlässt den Laden wieder, ohne etwas getan zu haben. Dies könnte als Hoffnungsschimmer interpretiert werden, dass nicht alle Deutschen Feinde sind und dass es trotz des Krieges noch Raum für Menschlichkeit gibt.
Schluss
- Insgesamt ist die Figur des Moise Trumpeter ein Symbol für Würde und Menschlichkeit in Zeiten des Krieges.
- Trotz der drohenden Gefahr bleibt er ruhig und gelassen und behandelt den deutschen Soldaten mit Respekt. Diese Haltung macht ihn zu einer beeindruckenden Figur, die trotz ihrer scheinbaren Schwäche eine große innere Stärke zeigt.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Auch in dem Roman Der Trafikant von Robert Seethaler aus dem Jahr 2012 spielt der Umgang des Protagonisten Otto Trsnjek mit den Auswirkungen des Kriegs eine entscheidende Rolle.
- Trsnjek spürt die unmittelbaren Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf sein eigenes Geschäft, seine Trafik, in welcher sowohl Nationalsozialisten als auch Verfolgte ein und aus gehen.
- Es soll aufgezeigt werden, inwiefern sich die literarische Gestaltung der Bedrohungssituation in den beiden Werken unterscheidet und wie sowohl Moise als auch Otto auf die jeweilige Situation reagieren.
Hauptteil
- In Robert Seethalers Roman Der Trafikant ist Otto Trsnjek der Besitzer einer kleinen Trafik in Wien, in der auch Zeitungen und Tabakwaren verkauft werden. Mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 ändert sich sein Leben dramatisch.
- Die politischen Veränderungen und die damit verbundene Bedrohung werden durch die zunehmende Präsenz von NS-Symbolen und -Parolen im öffentlichen Raum sowie durch die Verhaftung seines Freundes, des jüdischen Psychoanalytikers Sigmund Freud, spürbar.
- Otto Trsnjek versucht zunächst, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und seine Trafik weiterzuführen. Er entfernt beispielsweise alle jüdischen Zeitungen aus seinem Sortiment.
- Gleichzeitig zeigt er aber auch Zivilcourage, indem er Freuds Briefe aufbewahrt und diese später sogar an dessen Tochter übergibt. Als er jedoch eines Tages einen SA-Mann zurechtweist, der eine alte Frau belästigt, wird er verhaftet und stirbt wenig später im Gefängnis.
- Die literarische Gestaltung der Bedrohungssituation in Der Trafikant ist geprägt durch eine realistische Darstellung der alltäglichen Lebenswelt im Nationalsozialismus. Die Bedrohung wird dabei vor allem durch die Veränderungen im öffentlichen Raum und das brutale Vorgehen der Nazis gegen Juden und politische Gegner sichtbar.
- Im Vergleich dazu ist die Bedrohungssituation in dem Textausschnitt über Moise Trumpeter eher metaphorisch dargestellt. Die Figur des Mondes, der den Laden betritt und mit Moise spricht, kann als Symbol für die herannahende Gefahr interpretiert werden.
- Moise zeigt sich jedoch passiv und resigniert gegenüber der Bedrohung. Er lehnt an der Wand und wartet darauf, dass der Mond zu sprechen beginnt. Seine Passivität könnte als Ausdruck seiner Ohnmacht und Resignation in Anbetracht der drohenden Gefahr gedeutet werden.
- In beiden Texten wird die Bedrohung durch äußere Mächte thematisiert, allerdings auf unterschiedliche Weise. Während in Der Trafikant die Bedrohung konkret und realistisch dargestellt wird, ist sie in dem Textausschnitt über Moise Trumpeter eher symbolisch und metaphorisch gestaltet.
- Trotz der angespannten politischen Situation bleibt Moise ruhig und gelassen, was zwar eine gewisse Passivität, aber auch seine tiefe Weisheit und Akzeptanz dem Leben gegenüber widerspiegelt. Die ständige Präsenz des Mondes und der Mäuse verleiht der Geschichte eine poetische und symbolische Dimension.
- Beide Figuren gehen unterschiedlich mit der Bedrohung um: Otto Trsnjek zeigt Zivilcourage und bezahlt dafür mit seinem Leben, während Moise Trumpeter passiv bleibt und seine Situation scheinbar akzeptiert.
Schluss
- Abschließend kann festgehalten werden, dass die Figuren Moise und Otto sich zwar in einem vergleichbaren situativen Kontext befinden, ihr jeweiliger Umgang mit diesem sich jedoch grundsätzlich voneinander unterscheidet.
- Es wäre vermessen zu behaupten, eine der beiden Bewältigungsstrategien der beiden Protagonisten sei besser oder schlechter. Der Vergleich zwischen den beiden Figuren unterstreicht stattdessen Absurdität des Krieges.
- Obwohl beide aus verschiedenen Kontexten kommen, sind sie beide nur Menschen mit ihren eigenen Ängsten, Unsicherheiten und Bedürfnissen, die beide auf ihre Art und Weise darum kämpfen, mit dem Grauen des Krieges fertig zu werden.