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HT 1

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Kasimir Edschmid (* 1890 - † 1966): Woyzeck, Shakespeare enfant (1947; Auszug)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Auszug aus dem Text von Kasimir Edschmid. Berücksichtige insbesondere den Aspekt der „Ausdruckskraft“ (Z. 26) der Figuren in Georg Büchners Drama Woyzeck.
    (39 Punkte)
  • Erläutere vor dem Hintergrund deine Kenntnisse des Dramas Woyzeck exemplarisch, wie sich die Lebens- und Machtverhältnisse der Figuren in ihrer Sprache zeigen. Setze dies zu Edschmids Ausführungen zur Gestaltung der Figurensprache in Beziehung. Beurteile abwägend die Überzeugungskraft des Textes von Kasimir Edschmid.
(33 Punkte)
Material
Kasimir Edschmid
Woyzeck,
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Shakespeare enfant (1947; Auszug)
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Im „Woyzeck", der dramatischen Geschichte eines harmlosen, friedlichen, ein wenig be-
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schränkten, aber doch auch ein wenig illuminierten Mannes, der halb Soldat und halb Bibel-
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forscher ist, geschieht nicht viel. Es geschieht nicht mehr, als was alle Tage geschieht, solange
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es arme und reiche Leute gibt: Woyzeck, der niemals heftig protestiert, aber jederzeit seine
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Armut bescheiden und entschuldigend erwähnt, gibt sich des Geldes wegen einem Arzt in
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die Hand, der phantasiereiche Versuche mit ihm anstellt, und Woyzeck sieht zu, wie seine
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Geliebte indessen ihn mit einem Vorgesetzten betrügt.
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Die Folgerungen, die er aus dem Mißbrauch seines Körpers zu wissenschaftlichen Zwecken
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[...] zieht und die sein durch uralten Drill disziplinierter Verstand allein zu ziehen vermag,
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bestehen darin, daß er seine Geliebte, die verführt wurde, und nicht etwa den Verführer, der
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sein Vorgesetzter ist, ermordet - und sich dann, verstört, selbst umbringt.
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Keine laute Anklage gegen die von Menschen geschaffene Ordnung, die immer wieder
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neue Vergewaltigungen hervorbringt, kein Aufruf gegen diese Form der Gerechtigkeit, die
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den einen alles nimmt und den anderen alles gibt, und auch (wahrscheinlich - denn der über-
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lieferte „Woyzeck" ist nur Stückwerk) kein Tribunal am Ende (wie es wohl zeitweise geplant
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war), wo der des Mordes Angeklagte gleichzeitig als Ankläger der Gesellschaft erscheint.
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Büchner begnügt sich damit, nur das Menschliche zu zeigen, er ist in den sich jagenden kurzen
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Szenen des „Woyzeck“ fern jeder deutlichen und ausgesprochenen Politik.
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Er gibt nur die Resultate einer menschlichen Daseinsordnung, die Kreaturen wie Woyzeck
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hervorbringt. Er hebt den Finger weder belehrend noch drohend. Er macht lediglich eine see-
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lische Vivisektion. Doch wurde das Stück keine denkerische Additionsaufgabe, sondern ein
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dichterisches Bekenntnis. Büchner vermochte ja durch seine Ausdruckskraft alles zu verleben-
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digen, was abstrakt war, und allem Materiellen die Flügel des Himmlischen anzuheften. [...]
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Alle Gestalten Büchners haben Verstand, die einen haben großen, die anderen haben klei-
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nen. Aber alle haben auch die Ausdruckskraft, das, was sie zu sagen haben, mit unerhörter
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Plastizität zu äußern. Das ist wohl die Tugend Büchners, die am wenigsten begriffen worden
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ist.
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Hier liegt die Quelle aller Mißverständnisse, die sich um ihn und sein Werk ranken. Er ist
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immer stark und immer explosiv - und daher erregt und reizt er stets die Menschen, die nicht
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die Aufnahmefähigkeit besitzen, seine Eruptionen geduldig aufzunehmen. Man wird Büchner
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nicht gerecht, wenn man ihn allein soziologisch, wenn man ihn allein politisch, wenn man ihn
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allein als Rebell oder wenn man ihn allein als literarisches Wunder ansieht (als Shakespeare
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enfant) - man begreift ihn lediglich, wenn man seine Fähigkeit, auch die geringste Äußerung
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einer menschlichen Kreatur in überzeugende Worte formen zu können, betrachtet.
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Diese Fähigkeit ist ungeheuer. Man kann um jedes Wort wie um einen Baum herumgehen.
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Seine hochgestirnten Figuren sagen ihre verrückten Einfälle daher so, daß auch die niedrig-
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gestirnten Figuren sie sogleich verstehen können. Und seine Niedriggestirnten sagen eben-
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falls Dinge, die genau so sicher, genau so treffend formuliert sind, als hätten die Hochgestirn-
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ten sie geäußert. Aber sie sagen sie etwas anders in der Haltung, etwas anders in der Atmo-
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sphäre und etwas anders in ihrer inneren Glaubhaftigkeit.
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Wenn ein Handwerksbursche sagt: „Jedoch wenn ein Wanderer, der gelehnt steht am Strom
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der Zeit, ... sich anredet: Warum ist der Mensch …“ , so kann das vielleicht einen Augen-
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blick lang wirken, als sei es Rhetorik. Aber im selben Atemzug, ehe der Hörer richtig aufge-
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nommen hat, was ausgesprochen wurde, fährt derselbe Bursche, von seinem biblischen Roß
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heruntersteigend, fort: „Alles Irdische ist übel. Selbst das Geld geht in Verwesung über.“
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Oder: „Meine Seele stinkt nach Branndewein.“
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Diese Begabung, im selben Satz das Realistische und das Kontemplative sagen zu können,
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ist zu genial, um nicht die halbseidenen Intelligenzen jedes Jahrhunderts wieder verwirren
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zu müssen.
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Letzten Endes, um es kurz zu sagen, ob das, was Büchner berichtet, als ein Gejammer um
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die Unvollkommenheit des Lebens erscheint, oder ob es als eine Lobpreisung des Daseins auf-
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gefaßt wird, einerlei, wohin man seine Aussage schiebt, und wie man sie beurteilen will, seine
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Äußerung ist im Künstlerischen immer so vital, daß sie beglückend wirkt. Es kommt ja nicht
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darauf an, ob die Dinge, welche die Dichter gestalten, häßlich oder anmutig sind ..., ob sie wohl-
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tuend oder abstoßend wirken, entscheidend ist immer nur der Grad ihrer inneren Harmonie.

Anmerkung zum Autor:
Kasimir Edschmid (eigentlich Eduard Schmid, * 1890 - † 1966) war ein deutscher Schriftsteller. Der Textauszug entstammt der Einleitung einer von Edschmid verantworteten Büchner-Werkausgabe.
Aus: Kasimir Edschmid: Woyzeck. Shakespeare enfant. In: Georg Büchner: Gesammelte Werke. Hrsg. und eingeleitet von Kasimir Edschmid. München u. a.: Desch 1947, S. 24 - 31 Zitiert nach: Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Band 2. 1945 - 1980. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002, S. 139 - 144 (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.)

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