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Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag
Thema: Ludwig Uhland (* 1787 - † 1862): Reisen Novalis (* 1772 - † 1801): Blüthenstaub Aufgabenstellung:- Analysiere das Gedicht Reisen von Ludwig Uhland. Berücksichtige dabei insbesondere die Bedeutung des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt.
(42 Punkte)
- Der Schriftsteller der Frühromantik Novalis schreibt:
‚‚Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg‘‘
Erläutere das Zitat von Novalis. Setze seine Gedanken im Hinblick auf das Verhältnis von Innen- und Außenwelt zu Uhlands Gedicht in Beziehung. Erläutere inwiefern sich im Gedicht und im Zitat unterschiedliche Arten des ‚‚Unterwegsseins‘‘ zeigen.
(30 Punkte)
1
Reisen soll ich, Freunde! reisen,
2
Lüften soll ich mir die Brust?
3
Aus des Tagwerks engen Gleisen
4
Lockt ihr mich zu Wanderlust?
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Und doch hab ich tiefer eben
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In die Heimat mich versenkt,
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Fühle mich, ihr hingegeben,
8
Freier, reicher, als ihr denkt.
9
Nie erschöpf ich diese Wege,
10
Nie ergründ ich dieses Tal,
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Und die altbetretnen Stege
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Rühren neu mich jedes Mal;
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Öfters, wenn ich selbst mir sage,
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Wie der Pfad doch einsam sei,
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Streifen hier am lichten Tage
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Teure Schatten mir vorbei.
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Wann die Sonne fährt von hinnen,
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Kennt mein Herz noch keine Ruh,
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Eilt mit ihr von Bergeszinnen
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Fabelhaften Inseln zu;
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Tauchen dann hervor die Sterne,
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Drängt es mächtig mich hinan,
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Und in immer tiefre Ferne
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Zieh ich helle Götterbahn.
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Alt’ und neue Jugendträume,
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Zukunft und Vergangenheit,
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Uferlose Himmelsräume
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Sind mir stündlich hier bereit.
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Darum, Freunde! will ich reisen;
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Weiset Straße mir und Ziel!
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In der Heimat stillen Kreisen
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Schwärmt das Herz doch allzu viel.
Anmerkungen zum Autor:
Johann Ludwig Uhland war ein deutscher Dichter, Jurist und Politiker. Aus: Ludwig Uhland: Reisen. In: Ders.: Gedichte und Reden. Eingeleitet und hrsg. von Hermann Bausinger.
Tübingen: Klöpfer und Meyer 2010, S. 66 f.
Novalis: Blüthenstaub. Auszug aus Fragment Nr. 16. In: Ders: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs.
Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2. München: Hanser 1978, S. 233.
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Einleitung
- Das balladenartige Gedicht Reisen von Ludwig Uhland wurde im Jahr 1834 veröffentlicht und gehört der Reiselyrik an.
- Es handelt von einem lyrischen Ich, das einen ständigen Wechsel zwischen dem Wunsch zu reisen und zu bleiben erfährt.
- Thematisiert wird das Reisen in der Gemeinschaft und die Verbundenheit zur eigenen Heimat. Diese Aspekte werden dem Leser mithilfe der Verwendung von romantischen Elementen vermittelt.
Formale Analyse
- Das vorliegende Gedicht ist in vier Strophen unterteilt, die jeweils acht Verse besitzen (= 32 Verse).
- Als Metrum liegt ein vierhebiger Trochäus im Reimschema des Kreuzreims vor.
- Die Verse enden teils männlich und teils weiblich, weshalb es sich um sowohl männliche als auch weibliche Kadenzen handelt, die sich gegenseitig abwechseln.
- Metapher: Die „engen Gleisen“ (V. 3) stehen für die alltägliche Enge und den Zwang, unter dem das lyrische Ich leidet. Es sehnt sich nach der Freiheit des Reisens.
- Anapher: „Nie erschöpf ich diese Wege, Nie ergründ ich dieses Tal“ (V. 9 f.) betont die unergründliche und geheimnisvolle Natur.
- Aufzählung: „Freier, reicher, als ihr denkt“ (V. 8) und antithetische Strukturen (V. 11 f., 17 f.) spiegeln die Gefühle und die emotionalen Umbrüche des lyrischen Ich in Bezug auf seine Entscheidung wider.
- Durch die Verwendung rhetorischer Fragen (V. 2, 4) und Interjektionen (V. 29, 30) wird dem Leser die dialogartige Kommunikationssituation, die Selbsterklärung des lyrischen Ich und sein diskursiver Entscheidungsprozess nähergebracht.
- Das Verhältnis zwischen Raum (z. B. „Wege“ (V. 9), „Tal“ (V. 10), „Stege“ (V. 11) und Zeit (z. B. „Zukunft und Vergangenheit“ V. 26, „stündlich“ V. 28) wird durch die Verwendung von Attributen erzeugt, die aus den dazugehörigen Wortfeldern stammen.
Inhaltliche Analyse
- In der ersten Strophe stellt das lyrische Ich mögliche Gründe für das Reisen dar. Es wird von seinen Freunden zum Reisen aufgefordert und hegt den Wunsch, aus seinem „engen“ (V. 3) Alltag herauszukommen. Über das Reisen kann die Außenwelt betreten werden.
- Seine Sehnsucht nach dem Reisen ändert sich jedoch schnell und sein Gemütszustand verändert sich, als er an die tiefe Verbundenheit zu seiner Heimat denkt (V. 6). Es hat sich ihr gegenüber „hingegeben“ (V. 7) und verbindet mit ihr sowohl Reichtum als auch ein Gefühl von Freiheit (V. 8). Die Innenwelt des lyrischen Ichs kann analog zu seinen Heimaterinnerungen sowie seinem inneren Erleben gesehen werden.
- In der zweiten Strophe wird diese Heimatverbundenheit durch eine immens bereichernde Naturverbundenheit, die das lyrische Ich erfüllt, unterstrichen. Die Natur und somit auch seine Heimat werden mit durchweg positiven Konnotationen beschrieben. Im Vordergrund stehen die Unergründlich sowie Unerschöpflichkeit (V. 9 f.), die den Reichtum der Natur, der in der ersten Strophe erstmals auftaucht, weiter verstärken.
- Ebenfalls spiegelt die Natur etwas durchaus Geheimnisvolles („Teure Schatten“ V. 16) und Erfüllendes für das lyrische Ich wider. Die Schatten könnten dabei für die erfüllenden Erinnerungen des bisher Erlebten stehen.
- Im weiteren Verlauf des Gedichts spricht das lyrische Ich davon, dass seine Sehnsucht nach Erfüllung, ausgehend von der Natur, am Abend seinen Höchstpunkt erreicht und sein „Herz noch keine Ruh“ (V. 18) findet.
- Ebenfalls beinhaltet die dritte Strophe einen traumhaften Charakter. Das lyrische Ich spricht von „fabelhaften Inseln“ (V. 20), womit es seine innere Erlebniswelt und Fantasie meinen könnte. Dass das innere Erleben jedoch durchaus einen Zusammenhang mit dem Sakralen aufweisen könnte, zeigt die Bezeichnung „Götterbahn“ (V. 24). Der Entgrenzungsversuch „in immer tiefre Ferne“ (V. 23) findet in der Innenwelt des lyrischen Ichs statt.
- Aus seiner eigenen Innen- und Gedankenwelt hinaus, wirft das lyrische Ich in der vierten und letzten Strophe des Gedichts zeitlich gesehen einen Blick in die Weite.
- Das lyrische Ich erkennt, dass ihm „Alt’ und neue Jugendträume, Zukunft und Vergangenheit, / Uferlose Himmelsräume“ (V. 25 ff.) konstant zur Verfügung stehen. Erinnerungen und Träume beziehen sich wiederholend auf die Innenwelt des Protagonisten. Der Bezug auf das Göttliche wird durch die Bezeichnung „Himmelsräume “ (V. 27) verstärkt.
- Aufgrund der Erkenntnis, dass ihm seine Erinnerungen und sein inneres Erleben dauerhaft präsent bleiben, findet ein innerer Umschwung statt und das lyrische Ich beschließt, sich doch auf Reisen in der Außenwelt zu begeben und sich von seinen Freunden „Straße“ und „Ziel“ (V. 30) zeigen zu lassen.
- Der veränderte Gemütszustand des lyrischen Ichs weist auf die, für die Romantik typische romantische Ironie hin. Auch die unermessliche Liebe und Verbundenheit zur Freiheit sowie das geheimnisvolle Naturmotiv passen thematisch zur Epoche der Romantik.
Schluss
- Das Gedicht stellt das Verhältnis zwischen Heimat und Ferne dar und das Problem, vor welchem das lyrische Ich steht. Es kann sich anfangs noch nicht festlegen, ob es überhaupt reisen möchte, jedoch überwiegt zunächst noch der Wunsch zu bleiben. Seine Erinnerungen verbinden es zu stark mit seiner Heimat.
- Letztendlich stellt sein inneres Erleben jedoch eine Last dar, die es hemmt, ungezwungen auf Reisen zu gehen. Seine Schwärmereien gegenüber der Heimat und die damit verbundenen traumhaften, abschweifenden Zustände halten es von der Konfrontation mit der Realität und der Flucht aus der inneren Welt ab.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Novalis gehört zu den größten Philosophen und Dichter seiner Zeit, genauer gesagt der Zeit der Romantik. In einem seiner berühmtesten Zitate vermittelt er die Überzeugung, dass unsere Wirklichkeit in eine Innen- und Außenwelt gespalten ist.
- Im Folgenden soll zunächst das Zitat an sich näher erläutert und in einem zweiten Schritt auf das Gedicht von Uhland angewendet werden.
Erläuterung des Zitats
- Unsere Innenwelt ist Ausgangspunkt unserer Erkenntnisse, Träume, Impulse, Empfindungen und Überzeugungen.
- Novalis stellt die Erkundung der Außenwelt kritisch infrage und betont die herausragende Stellung der Innenwelt des Menschen.
- Novalis' Appell an den Menschen ist, das Innere aufzusuchen und damit dem nachzugehen, was mit der eigenen Innenwelt verbunden ist: die eigenen Träume, Empfindungen etc..
- Das Weltall wird als unendliche Weite beschrieben. Wir Menschen sehnen uns nach Reisen durch das Weltall. Genauer gesagt sehnen wir uns nach der Unendlichkeit und ewigen Freiheit des Weltalls. Wenn wir Novalis jedoch unseren Glauben schenken, ist dies gar nicht nötig, da unser Geist so unendlich ist wie das Weltall und wir uns einzig und allein auf unsere Innenwelt fokussieren. Das Weltall fungiert somit als Metapher. In uns selbst befindet sich die Vergangenheit und Zukunft sowie unendliche Weite.
Das Zitat im Zusammenhang zum Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt nach Uhland
- Auch Uhland deutet eine mögliche Reise nach Innen an. („versenkt“ V. 6, „tiefre“ V. 23)
- Ebenfalls wird im Gedicht auch auf die Unergründlichkeit, das Geheimnis und Erforschen von Neuem hingewiesen. („Nie ergründ ich“ V. 10, „Rühren neu mich“ V. 12, „Teure Schatten“ V. 16)
- Die beiden Herangehensweisen zum Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt unterscheiden sich jedoch darin, dass das lyrische Ich bei Uhland am Ende das Innere als Leiden und Last sieht und daraus ausbrechen möchte. Novalis ist jedoch überzeugt, dass der erfolgreiche Weg ausschließlich in Richtung Inneres führt.
- Außerdem wird bei Uhland der Ausbruch und die Flucht hinsichtlich des Reisens in Verbindung mit dem Ausbruch aus einem normierten Alltagsleben gebracht.
Unterschiedliche Arten des Unterwegsseins in den beiden Gedichten
- Novalis: Das Unterwegssein in der Außenwelt besitzt keinen Nutzen, da das Wichtigste allein im Menschen selbst steckt und er die Außenwelt gar nicht benötigt, um unterwegs zu sein, sondern zu sich selbst reisen muss, um Erfahrungen zu sammeln und Erkenntnisse zu erlangen.
- Uhland: Unterwegssein, um neue Erkenntnisse zu erlangen und Erfahrungen zu machen: Das lyrische Ich fällt nach langem Abwägen den Entschluss, dass es in der Außenwelt unterwegs sein möchte und dies nichts an der Verfügbarkeit seiner inneren Welt ändern würde.
Schluss
- Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen Novalis' Zitat und dem Gedicht Reisen von Ludwig Uhland und dennoch existieren Unterschiede in Bezug auf das Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt sowie der Art des Unterwegsseins.
- Festzuhalten ist, dass sowohl das Gedicht als auch Novalis' Zitat aus der Epoche der Romantik stammen. Neben der zeitlichen Einordnung lassen auch inhaltliche Ähnlichkeiten und typische Motive, wie die Hinwendung zum Geheimnisvollen und Mystischen sowie die Zuwendung zum inneren Erleben darauf Rückschlüsse ziehen.
- Eng verbunden mit der Epoche der Romantik ist die Reiselyrik. Das Gedicht Reisen stellt mit seinen Themen, wie der Sehnsucht, dem Verhältnis zwischen Innen und Außen, das Ich in Verbindung zur Gemeinschaft, Erinnerungen, Unterwegssein und Aufbruch, ein prototypisches Gedicht für die Reiselyrik dar.