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Vergleichende Analyse literarischer Texte
Thema: Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten Issam Al-Najm: Die Grenze der Angst Aufgabenstellung:- Analysiere das Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten von Bertholt Brecht.
(33 Punkte)
- Erschließe Issam Al-Najms Gedicht
Die Grenze der Angst in inhaltlicher und sprachlicher Hinsicht. Vergleiche anschließend die Gedichte von Brecht und Al-Najm unter dem Aspekt, welches Verhältnis zur Heimat darin jeweils zum Ausdruck kommt. Berücksichtige dabei auch die jeweilige Gestaltungsweise.(39 Punkte)
1
Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.
2
Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
3
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß
4
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht
5
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.
6
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
7
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm.
8
Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
9
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
10
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
11
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
12
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
13
Ach, die Stille der Sunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie
14
Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
15
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
16
Über die Grenzen. Jeder von uns
17
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
18
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
19
Aber keiner von uns
20
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
21
Ist noch nicht gesprochen.
Anmerkung zum Autor:
Bertolt Brecht lebte von 1898 bis 1956. 1933 verließ Brecht Deutschland.
Er gelangte über Prag, Wien, Zürich, Paris und Dänemark nach Schweden und schließlich 1941 in die USA.
1947 kehrte Brecht zurück nach Europa, 1948 nach Ostberlin. Das vorliegende Gedicht entstammt der Sammlung
„Svendborger Gedichte“, die während der Jahre des Exils in Dänemark entstand (1933–1939). Aus: Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. In: Ders.: Die Gedichte. Hrsg. von Jan Knopf.
Verbesserte Neuausgabe. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2020, S. 350 f. Material 2 Die Grenze der Angst (2017) Isaam Al-Najm
1
Meine Heimat,
2
Zwischen dir und mir gibt es eine Grenze
3
Die Grenze der Angst.
4
Ich kann nicht zurück
5
Du hinderst mich daran.
6
Ich habe nicht gelogen
7
Ich bin nicht einfach geflohen
8
Es gab viele Gründe:
9
Wenn meine Gedanken versuchen weit zu fliegen,
10
Sperrst du sie in deinen Käfig.
11
Wenn meine Blicke anders werden,
12
Machst du das Licht aus,
13
Damit wir nicht mehr sehen
14
Aber warum?
15
Ich war immer stolz auf dich
16
Habe immer von dir gesprochen
17
Ich war wie ein Kind,
18
Das ein fröhliches Spiel mit dir suchte.
19
Jetzt ist alles weg,
20
Die schmerzhaften Erinnerungen
21
Die schönen Erinnerungen
22
Aber die Grenze bleibt
23
Ich habe Angst davor
24
Zurückzufahren
25
Ich werde sie nicht los
26
Meine Heimat,
27
Ich vermisse dich
28
Aber die Grenze der Angst
29
Treibt mich immer um.
Anmerkung zum Autor:
Issam Al-Najm wurde 1984 in Syrien geboren. 2015 floh er aus Syrien nach Deutschland.
Issam Al-Najm schreibt bereits seit seinem zehnten Lebensjahr eigene Texte.
In seiner Heimat schrieb er Gedichte auf Arabisch, heute schreibt er seine Gedichte auf Deutsch.
2018 erhielt er den ersten Preis in einem Literaturwettbewerb der Literarischen Gesellschaft Bochum. Aus: Issam Al-Najm: Die Grenze der Angst. In: Artur Nickel (Hrsg.): Von Fluchten und Wiederfluchten.
Eine Anthologie. Vechta-Langförden: Geest-Verlag 2017, S. 413 f.
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Einleitung
- Das Gedicht mit dem Titel Über die Bezeichnung Emigrant wurde von Bertolt Brecht verfasst und im Jahr 1937 veröffentlicht.
- Zeitlich gesehen lässt sich festhalten, dass das Werk aus der Zeit berichtet, in der Deutschland der nationalsozialistischen Diktatur unterliegt. In der Zeit zwischen 1933 und 1945 etablierte sich die NSDAP.
- Dies wird auch durch den Inhalt verstärkt. Inhaltlich beschäftigt sich das Gedicht damit, dass ein Lyrisches Ich über seine Gedanken und Gefühle im Exil spricht und somit die hoffnungs- und trostlose Stimmung einer gesamten Generation Gefangener widerspiegelt, die sich nichts sehnlicher wünschen, als in ihre Heimat zurückzukehren.
Formale Analyse
- eine Strophe mit 24 Versen unterschiedlicher Länge
- in Prosaform geschrieben
- keine einheitliche Versform
- häufige Verwendung von Enjambements (V. 3-6, V. 8-12, V. 13-16, V. 17-18, V. 19-21)
- Verse sind als Ausrufe- oder Aussagesätze formuliert
- Repetitio: „verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend“ (V. 12) Die Tragik der Ereignisse ist in jenem Fall unverzeihlich.
- Wiederholung: „Wanderten doch nicht aus“ (V. 3) „Wanderten wir doch auch nicht“ (V. 4) Es soll deutlich werden, dass die Exilanten ihr Heimatland nicht auf der Grundlage von freiwilliger Auswanderung verlassen haben.
- Inversionen: (V. 1, V. 3, V. 4, V. 7, V. 8, V. 11, V. 20) Wörter wie „Immer“ (V. 1), „Wanderten“ (V. 3) und „Wählend“ (V. 4) werden besonders betont, da sie am Satzanfang stehen.
- Symbol: „Das letzte Wort“ (V. 20), das Wort steht biblisch gesehen für einen Neuanfang, Neubeginn, Wiederanfang.
- Antithesen: „aber“ (V. 2), „sondern“ (V. 6) Der Gegensatz in der Terminologie und Bedeutung der Bezeichnungen Emigrant und Exilant sollen auch formal mithilfe eines antithetischen Satzbaus deutlich gemacht werden.
- Das lyrische Ich gibt sich direkt zu Anfang erkennbar, wechselt im Verlauf des Gedichts jedoch zu einer Wir-Form.
- Zahlreiche Fälle von Pronomina, die den gemeinsamen Gedanken und Wunsch nach der Rückkehr in ihr Heimatland verstärken. (V. 2, V. 3, V. 4, V. 7, V. 13, V. 14, V. 16, V. 19)
- Verwendung zahlreicher Begriffe und Attribute aus dem Wortfeld Flucht, Exil und Exilanten: „flohen“ (V. 6), „Vertriebene“ (V. 6), „Verbannte“ (V. 6). Im Gegensatz dazu die Attribute, welche die Bezeichnung Emigrant umschreiben: „freie[r] Entschluss“ (V. 3), „Wählend“ (V. 4), „bleiben“ (V. 5), „womöglich für immer“ (V. 5), „Heim“ (V. 7)
Inhaltliche Analyse
- Zunächst wird der Unterschied zwischen den Bezeichnungen Emigrant und Exilant näher erläutert. Das Lyrische Ich kritisiert die Bezeichnung Emigrant.
- Der Begriff Emigrant wäre mit dem Wort Auswanderer gleichzusetzen, was den eigentlichen Grund für den Aufenthalt der Exilierten somit vertuschen und behaupten würde, dass sie ihr Heimatland freiwillig verlassen hätten.
- Ebenfalls scheut sich das Lyrische Ich davor, sein Heim mit dem Exil gleichzusetzen. Das Exil stellt laut ihm nur einen vorübergehenden Aufenthaltsort dar, in dem alle auf ihre „Rückkehr“ (V. 9) in ihr eigentliches Heim warten.
- Weiterhin wird die Stimmung und Lage im Exil näher beschrieben. Von Neuankömmlingen an der Grenze erhoffen sich die Exilierten Information. (V. 10-11)
- Die Menschen im Exil sehen der Möglichkeit, das Exil zu verlassen, erwartend und hoffnungsvoll, jedoch auch angespannt entgegen. Das einzige, das ihnen in ihrer Misere hilft, ist ihre gemeinsame Verbundenheit zum Vaterland.
- Außerdem betont das lyrische Ich, dass die Geschehnisse und Ereignisse in ihrem Heimatland nicht zu vergessen oder gar zu verzeihen sind. (V. 12) Auf diese Ereignisse (Verfolgung, Folter) wird auch sprachlich Bezug genommen: „Wir hören die Schreie / Aus ihren Lagern bis hierher.“ (V. 13 f.)
Schluss
- Das Gedicht erfordert einen aktiven und reflektierten Leser, der sich mit der beschriebenen Gefühlslage des lyrisches Ichs und einer gesamten Generation auseinandersetzt und sich den verheerenden Ereignissen, wie in diesem Beispiel der Emigration und das Exil infolge des Nationalsozialismus im Dritten Reich immer wieder bewusst wird. Dafür sorgen mitunter auch die Interjektionen, welche einen appellativen Charakter aufweisen.
- Weiterhin wird die sehr typische Hoffnung und der an vielen Stellen optimistische Umgang der Menschen mit ihrer gegenwärtigen Situation im Exil beschrieben. Sie wusste nicht, dass es noch weitere neun Jahre dauern würde, bis der Krieg für beendet erklärt wird.
Zweite Teilaufgabe
Einleitung
- Das im Jahr 2017 entstandene Gedicht Die Grenze der Angst wurde von Isaam Al-Najm geschrieben und handelt von einem lyrischen Ich, welches sich in Gefangenschaft im Exil befindet.
- Seine Gedanken, die es in Bezug auf seine Heimat und damit verbundenen Erinnerungen formuliert sind ambivalenter Natur. Das lyrische Ich richtet seine Gedanken an einen Gesprächspartner, seine Heimat.
- Thematisch gegenwärtig ist das Gefühl von Heimatlosigkeit und der Wunsch nach Freiheit.
Formale Analyse
- Eine Strophe mit 29 Versen unterschiedlicher Länge
- Kein Reimschema erkennbar
- In Prosaform verfasst
- Sprechsituation besteht aus einem lyrischen Ich, welches die Heimat anspricht und gleichzeitig auch zu sich selbst spricht; erzeugt einen unmittelbaren und authentischen Charakter
- Zahlreiche Verwendungen expressiv-emotionaler Attribute: „gelogen“ (V. 6), „Gedanken“ (V. 9), „stolz“ (V. 15), „fröhliches“ (V. 18), „schmerzhaften“ (V. 20), „schönen“ (V. 21), „Angst“ (V. 23, 28), „vermisse“ (V. 27)
- Das Lyrische Ich spricht in unterschiedlichen Zeitformen; wechselt in die Vergangenheit, wenn es über erlebte Erinnerungen in und mit seiner Heimat spricht (z. B. V. 8, 15, 17)
- Es fällt eine insgesamt offene Form und bildliche, sehr persönliche Sprache auf, die die Gedankenwelt des Lyrisches Ich widerspiegeln sollen. Dafür sorgen unter anderem die verwendeten Metaphern und Enjambements.
- Metaphern: „Wenn meine Gedanken versuchen weit zu fliegen“ (V. 9), „Sperrst du sie in deinen Käfig“ (V. 10). Anhand dieser Beispiele soll die persönliche Begrenzung des lyrischen Ich im Heimatland verbildlicht werden.
- Anaphern: (V. 6 f.), (V. 20 f.) Einzelne Attribute erhalten durch die Wortwiederholungen eine verstärkende Wirkung.
- Epipher: (V. 20, 21) Die Erinnerungen an seine Heimat, sowohl schöne als auch schmerzliche, haben eine große Bedeutung für das Lyrische Ich.
- Enjambements: (V. 23 f., 27 ff.) sorgen für einen schnelleren Redefluss und einen authentischen persönlichen Charakter.
- Antithetische Strukturen wie „aber“ (V. 14) unterstreichen das emotionale Chaos des Lyrischen Ich.
Inhaltliche Analyse
- Die sehr persönliche Rede des Lyrischen Ich beginnt zunächst mit einer Bekundung von Angst. „Die Grenze der Angst“ (V. 3) (analog zum Titel des Gedichts) verhindert eine Rückkehr ins Heimatland (V. 4 f.). Vielmehr scheint eine Rückkehr unmöglich zu sein.
- Im weiteren Verlauf des Gedichts zählt es verschiedene Gründe für seine Flucht auf. (V. 8) Für den Leser scheint es so, als hätte das lyrische Ich unter der Unfreiheit und Begrenztheit im eigenen Land gelitten und deshalb auf freiwilliger Entscheidung beruhend, sein Heimatland verlassen.
- Die Äußerung „Wenn meine Blicke anders werden, Machst du das Licht aus, Damit wir nicht mehr sehen“ (V. 11 ff.) verweist womöglich auf eine nur begrenzte Meinungsfreiheit im eigenen Land. Auch die eigenen Gedanken, welche Fesseln unterliegen und womöglich nicht preisgegeben werden dürfen (V. 9 f.) deuten auf drastische persönliche Einschränkungen hin. Sein Unverständnis demgegenüber wird ebenfalls deutlich („Aber warum?“ V. 14).
- Trotzdem bekennt es seinen ursprünglichen Stolz gegenüber seinem Vaterland und das naive Vertrauen, welches er ihm einst entgegengebracht hat (V. 15 f.).
- Seine ambivalenten Gefühle gegenüber seiner Heimat bestehen aus Furcht und „Angst“ (V. 28) einerseits und einem Gefühl von Vermissen anderseits (V. 27). Zweiteres ist der Fall, wenn es sich an gute Tage in seiner Heimat zurückerinnert, in denen er sich geborgen und behütet „wie ein Kind“ (V. 17) fühlen konnte.
Gemeinsamkeiten der Gedichte unter dem Aspekt des Themas Heimat
- Die gegenwärtige Situation von Exilanten im Exil
- Das Gefühl von Heimatlosigkeit, Heimweh, Auswegs und Hoffnungslosigkeit sowie die Empfindung, sich fremd zu fühlen.
- Die Erfahrung von Flucht (wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen)
- Der Wunsch nach Freiheit
- Die Sehnsucht nach dem eigenen Heimatland und die damit verbundene Heimatverbundenheit und Erinnerung
- Die Darstellungsform verbindet die beiden Gedicht in der Hinsicht, dass ein persönlicher und leidenschaftlicher Sprachgestus innerhalb einer offenen, freien und reimlosen Form zum Ausdruck formt. Die nicht vorhandenen Regeln und Strukturen korrespondieren mit einem freien, unbeschwerten und offenen Umgang, der eigenen Gefühle und Emotionen sowie der Sehnsucht nach Freiheit.
Unterschiede der Gedichte unter dem Aspekt des Themas Heimat
- In dem Gedicht Über die Bezeichnung Emigrant wird schnell deutlich, dass die Flucht des Lyrischen Ich nicht auf Freiwilligkeit basiert. Im Gegensatz zu Die Grenze der Angst rückt die gegenwärtige politische Lage bei Brecht deutlicher in den Vordergrund, da das lyrische Ich Ich dazu gezwungen wurde, sein Land zu verlassen. Es ist keine Entscheidung, die das lyrische Ich für sich getroffen hat. Die Entscheidung beruht auf Anordnungen. Eine etwas andere Situation wird bei Isaam Al-Njam beschrieben: Das lyrische Ich verlässt zwar ebenfalls gezwungenermaßen, womöglich aufgrund von Unfreiheit und Begrenzung, das Land, aber es geschieht trotz dessen, im Gegensatz zu Brecht, auf freiwilliger Basis.
- Die beinahe dialogartige Situation und einer Ansprache des lyrischen Ich an einen Gesprächspartner in Die Grenze der Angst kommt bei Brecht nicht zum Tragen.
- Es wird nicht ganz deutlich, ob das lyrische Ich in Die Grenze der Angst letztendlich wirklich den Wunsch hegt, wieder zurückkehren zu wollen. Bei Brecht wird dies klarer formuliert: Das Lyrische Ich sieht seinen derzeitigen Aufenthaltsort nur als vorübergehend an, da er es als realistisch ansieht, bald schon wieder in sein Heimatland zurückkehren zu dürfen.
- Diese hoffnungsvolle Einstellung zieht sich beinahe durch das gesamte Gedicht von Brecht. Bei Isaam Al-Njam ist neben nostalgischer Rückbesinnung auf das Vergangene eher Hoffnungslosigkeit in Hinsicht auf die Gegenwart und Zukunft vorzufinden.
Schluss
- Beide Gedichte weisen ein hohes Maß an Aktualität auf. Dabei seien nur einige Begriffe wie Flüchtlingskrise, Heimatlosigkeit und Freiheitswunsch zu nennen, die Millionen von Menschen betreffen.
- Deutlich wird auch, dass Flucht unterschiedliche Gesichter hat und nicht jeden das gleiche Schicksal oder den gleichen Beweggrund betrifft. Es ist immer von Vorteil, auch einmal über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und sich mit den persönlichen Geschichten anderer Menschen zu beschäftigen, um stets an seiner eigenen Einstellung zur Weltoffenheit und Nächstenliebe zu arbeiten.
- Somit könnte sich ebenfalls ein Aufruf an die Rezipienten verbergen: Sensibilität und Menschlichkeit im Umgang mit Menschen, die fliehen, ihre Heimat verlassen mussten, die sich in ihrer neuen Heimat jedoch alles andere als heimisch fühlen.