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HT 3

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
John von Düffel: Houwelandt
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den vorliegenden Auszug aus dem Roman Houwelandt von John von Düffel. Berücksichtige dabei auch die Raumgestaltung in ihrer Betrachtung für die Darstellung der Lebenssituation von Thomas.
    (45 Punkte)
  • Stelle dar, welche Bedeutung dem Landhaus in Kleists Novelle Die Marquise von O ... für die Darstellung der Lebenssituation der Marquise zukommt. Vergleiche diese mit der Bedeutung des Wohnhauses für die Darstellung von Thomas' Lebenssituation.
    (27 Punkte)
Material
Houwelandt (Textauszug)
John von Düffel
Der im Jahre 2004 erschienene Roman entwirft ein Portrait der Familie Houwelandt und rückt dabei gleich drei Generationen ins Blickfeld. Der Großvater und Patriarch Jorge ist mit seiner Frau Esther vom Familienanwesen im Norden Deutschlands an die spanische Küste gezogen und sieht dort seinem achtzigsten Geburtstag entgegen. Das Elternhaus verwaltet unterdessen sein Sohn Thomas. Bei dem Textauszug handelt es sich um den Beginn des vierten Kapitels. Zuvor haben die Leserinnen und Leser erfahren, dass Thomas verschlafen hat und vom Klingeln des Postboten geweckt wird. Nach erneutem Vernehmen der Klingel entscheidet er sich schließlich dazu, aufzustehen und dem Postboten zu öffnen.
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Thomas
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Er erwischte den Postboten auf halbem Weg über den Hof vor der „Hundehütte“, wie die
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Geschwister ihr Elternhaus nannten, einen zweistöckigen Bau aus der Vorgründerzeit, der zu
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schmal, zu grau und zu verwinkelt geraten war, um eine Villa am Stadtrand zu sein. Fast schien
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es, als habe ihr Erbauer seinerzeit voller Mißtrauen in die Zukunft geblickt und für sich und die
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Seinen keine Vermehrung von Reichtum und Ansehen erwartet. Die „Hundehütte“ war eine
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Trutzburg des Erreichten. Weder Personal noch Gäste hatten in ihr Platz, weshalb sämtliche
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de Houwelandts, deren Geschäfte prosperierten, mit Anbauten wie dem Gesindehaus um
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1900 und dem Kinderhaus Anfang der siebziger Jahre eine Spur von Großzügigkeit in die
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gotische Verschmocktheit und pastorale Enge ihres Familiensitzes zu bringen versuchten.
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Doch Bedienstete gab es, wenn Thomas von sich selbst einmal absah, schon lange nicht mehr.
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Soweit seine Erinnerung reichte, wohnten im Gesindehaus ältliche Paare und einsame Pen-
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sionäre, die geräuschlos vor sich hinstarben. Auch wurde das Kinderhaus entgegen seiner
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Bestimmung nie von ihm oder den Geschwistern bezogen. Sie alle hatten das steingewordene
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Angebot, sich mit ihren Familien an der Seite ihres Vaters niederzulassen, abgelehnt. Zwar
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standen pro Wohnung zwei Kinderzimmer bereit, was einer Aufforderung zur Fortpflanzung
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gleichkam, doch mieteten sich auch dort wiederum nur alte Leute ein, die offenbar zu schwach
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und hinfällig waren, um gegen die reizlosen schuhkartonförmigen Siebziger-Jahre-Räume
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aufzubegehren. Thomas war nicht nur der einzige de Houwelandt, der hier lebte. Er war mit
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seinen siebenundfünfzig Jahren auch der Jüngste, was ihm noch immer das Gefühl gab, ein
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Rebell zu sein.
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Jetzt stand er in Bademantel und Pantoffeln auf dem Hof, den Blicken der argwöhnischen
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Mieterschaft preisgegeben, die vermutlich noch Tage von diesem Auftritt reden würde. Thomas
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knotete die Enden des Frotteegürtels notdürftig vor seinem Bauch zusammen und fuhr sich
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mit einer flüchtigen Geste durchs Haar, um wenigstens den Willen zu einer Frisur erkennen
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zu lassen. Es war fast zehn, hellichter Tag. Die Sonne blendete, und das Unkraut zwischen
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den Steinplatten schoß unverschämt grün bis auf Knöchelhöhe empor. Ein leichter Niesreiz
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lag in der Luft. Vom Garten her roch es nach blühender Wiese und Gräserpollen. Es roch, mit
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einem Wort, ungemäht. Thomas versuchte, den Postboten möglichst unauffällig in eine Ecke
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zu ziehen, die den Mietern ringsum weniger Einsicht bot, doch die Gesten, die er aus den
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Ärmeln seines Bademantels schüttelte, wurden von dem Beamten nicht verstanden. Mutlos
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schaute er die grauen, moosbefleckten Mauern der Hundehütte hinauf und hoffte insgeheim,
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der Giebel würde sich ein Stück weit vor die Sonne schieben, um ihn mit seinem spitzen
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Schatten zu verschlucken. Doch auch diesen Gefallen tat ihm sein Vaterhaus nicht. Stattdessen
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schaute es ungerührt mit seinen vor Staub und Wasserflecken erblindenden Fenstern auf ihn
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herab.
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„Hier unterschreiben“, forderte ihn der Postbote auf. Thomas ergriff den gezückten Kugel-
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schreiber wortlos. Ihm war auf einmal kalt, trotz der sommerlichen Temperaturen. Seine
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Hände zitterten. Er überlegte kurz, ob er nicht besser versuchen sollte, als erste Handlung des
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Tages eine Zigarette zu schnorren, doch sein Gegenüber machte ein zutiefst entmutigendes
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Nichtrauchergesicht.
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Es war kein Wunder, daß er es nicht aushielt an diesem unwirtlichen und von der Zeit ver-
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gessenen Ort, wenn sogar sein zäher, unbeugsamer Vater hier nicht länger leben wollte und
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in südliche Gefilde gezogen war, nachdem er seine Kinder und Kindeskinder allesamt ver-
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trieben hatte. Niemand blieb aus freien Stücken hier, weder die greisen Pärchen und Pensio-
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näre, für die es zu spät war, um zum Sterben das Land zu verlassen, noch er, Thomas, der
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Erstgeborene. Ihn ereilte der Auftrag, hier nach dem Rechten zu sehen, ausgerechnet zu einem
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Zeitpunkt, als er seinem Vater nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Er war so gut wie geschie-
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den, ohne Bleibe und feste Anstellung, so daß er nun die Leere und den Tod auf dem einsti-
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gen Familiensitz verwaltete, als hätte er nie ein eigenes Leben gelebt. [...]

Anmerkungen zum Autor:
John von Düffel ist ein deutscher Schriftsteller und Dramaturg. Er wurde 1966 in Göttingen geboren.
Aus: München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006, S. 19 ff. (Erstveröffentlichung 2004 im Kölner
DuMont Literatur und Kunst Verlag).

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