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HT 1

Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Roland Kaehlbrandt: Logbuch Deutsch. Wie wir sprechen, wie wir schreiben
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den vorliegenden Text von Roland Kaehlbrandt. Berücksichtige dabei den Gedankengang und die wesentlichen Inhalte, die sprachlich-stilistische Gestaltung sowie die Intention des Textes.
    (38 Punkte)
  • Stelle die Sprachvarietäten „Dialekt“, „Soziolekt“ und „Jugendsprache“ jeweils in Abgrenzung zur Standardsprache dar. Setze dich vor diesem Hintergrund mit Kaehlbrandts Position gegenüber Sprachnormen einerseits und „Kiezdeutsch“ sowie Jugendsprache andererseits abwägend auseinander.
    (34 Punkte)
Material
Logbuch Deutsch. Wie wir sprechen, wie wir schreiben (Textauszug, 2016)
Roland Kaehlbrandt
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Sprachliche Abgrenzungsjargons brauchen eine wirkungsvolle Sprachkultur als Korrektiv -
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schon allein, damit sie überhaupt Gelegenheit zur Reibung haben. Sie wollen ja gar nicht zur
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vorherrschenden Sprachform werden. Daran erinnert eine Szene aus einem Band der schwei-
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zerischen Vontobel-Stiftung über die „Sprache der Jungen“. Die Autorin, Angelika Overath,
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berichtet, wie einmal ihre Mutter bei einem Besuch eines Freundes gesagt habe: „Das ist mir
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zu viel Action.“ Sie habe sich vor ihrem Freund zu Tode geschämt, schreibt Frau Overath.
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„Mit zwei Silben hatte meine Mutter eine ebenso geheime wie sichere Grenze überschritten“.
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Derartige Überschreitungen sind aber heute an der Tagesordnung. „Einfach nur geil“ findet
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ein führender Politiker das von seiner Partei erzielte Wahlergebnis, „total uncool“ findet eine
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Enddreißigerin mit Erziehungsverantwortung den letzten Tatort, mit „dick gut“ bewertet ein
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jung gebliebener Mittdreißiger sein neues Smartphone, „echt nice“ bestätigt seine etwa gleich-
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altrige Begleiterin. Kaum noch ist es den Jugendlichen möglich, sich der Anbiederung von
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Seiten der Erwachsenen zu erwehren. Wie sollen sie sich nur wirkungsvoll von ihnen unter-
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scheiden? Und jetzt wird auch noch Zuwandererjugendlichen ihre sprachliche Besonderheit
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genommen, indem das sogenannte Kiezdeutsch zu einem „neuen Dialekt“ aufgewertet und
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mit professoralen Weihen versehen wird.
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Kiezdeutsch ist eine Entdeckung der Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese. Es ist eine
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griffige Bezeichnung für eine Jugendsprache, in der sich das Deutsche mit Einsprengseln aus
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Zuwanderersprachen mischt. Für denjenigen, der korrektes Deutsch spricht, ist die Fehler-
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haftigkeit dieses Jugendslangs sofort erkennbar. So fehlen Präpositionen, etwa bei „Wir ge -
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hen Wörlitzer Park“ oder „Heute muss isch wieder Solarium gehen“ (wobei es schlimmere
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Verpflichtungen gibt). Das Deutsche gilt als eine stark von Präpositionen mit den zugehöri-
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gen Kasus geprägte Sprache. Auf die Präposition zu verzichten bedeutet eine grobe Regel-
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verletzung. Heike Wiese wertet den Verzicht jedoch anders, sie verweist auf eine Analogie
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zur korrekten Kurzform „Da müssen Sie Jakob-Kaiser-Platz umsteigen“. Hierbei handelt es
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sich jedoch um eine kontextabhängige Sonderform der Verkürzung im öffentlichen Nah-
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verkehr, während die diskutierte Unterdrückung von Präpositionen vielmehr auf türkischen Ein-
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fluss zurückzuführen ist. Andere Formen dieses grammatik-vermeidenden Slangs werden be-
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schönigend als „grammatische Innovationen“ bezeichnet, wie z. B. „Isch frag mein Schwester“,
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„Lassma Kino gehen“, „Machst du rote Ampel!“ und „Danach ich ruf dich an.“ Die Autorin
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sieht darin Parallelen zu deutschen Dialekten, indem sie von der Sprachnorm abweichende
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dialektale Formen oder auch Formen des gesprochenen Deutsch mit dem Slang der Jugend-
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lichen vergleicht.
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Ausgesprochen witzig ist dabei ein belauschtes Gespräch in einem Kaufhaus, bei dem es
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um den Hut einer Kundin geht. Junge: „Das ist meiner Mutter sein Hut!“ Kassiererin: „Meiner
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Mutter ihr Hut!“ (zustimmendes Gemurmel in der Warteschlange). Immerhin kann man in
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meiner Mutter auch einen Genitiv erkennen, jedenfalls einen Kasus mit gebeugtem Personal-
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pronomen, was in „Isch frag mein Schwester“ nicht der Fall ist. Kurzformen wie „Isch mach
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dich Messer" sind doch nur in der Parallelität von inhaltlicher und sprachlicher Grobheit
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bemerkenswert. Warum muss man gleich zeigen wollen, „dass es hier nicht um einen Sprach-
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mangel geht, sondern dass wir Zeuge einer faszinierenden neuen Entwicklung in unserer Spra-
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che werden: der Entstehung eines neuen deutschen Dialekts." Abgesehen davon ist Jugend-
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sprache kein Dialekt, weil letzterer regional begrenzt ist, sondern ein Soziolekt. Es ist eins,
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sich sprachwissenschaftlich mit den Formen eines Jugendslangs zu befassen, etwas anderes
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ist es, aus dem Gegenstand nun ein für die ganze Sprachgemeinschaft wegweisendes Faszi-
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nosum zu machen. Zwischen dem Untergang der Sprachkultur durch Jugendsprachen und
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ihrer Aufwertung zu einem neuen Dialekt gibt es noch Raum für harmlosere Deutungen. Symp
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tomatisch an der Aufwertung des Kiezdeutsch ist wieder einmal die Umwertung der Norm:
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Nicht die Einhaltung der Norm und der Hinweis auf zwar jugendgeprägtes, aber doch fehler-
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haftes Deutsch - wenn auch vielleicht gewollt fehlerhaftes Deutsch - ist die Aussage, sondern
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eben gerade umgekehrt: Hier entsteht vermeintlich eine neue Sprache, und indirekt täten wir
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gut daran, sie rechtzeitig als solche anzuerkennen, weil wir ja sonst das Schlimmste tun, was
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man tun kann: ausgrenzen.
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Jugendsprachen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Dass sie sich von der
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Sprache der Erwachsenen unterscheiden, macht sie aus. Deshalb ist Besorgnis in diesem Falle
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unberechtigt. Allerdings nützt es der Jugendsprache nicht, wenn man sie mit bester Absicht
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aus der Erwachsenenperspektive kulturell und linguistisch erhöht, denn das will sie gar nicht.
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Sie will nicht als ausformulierte Sprache anerkannt werden, sondern sie kommt gut damit zu-
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recht, wenn Erwachsene mit Naserümpfen reagieren. Sie legt keinen Wert darauf, als sprach-
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liche Innovation hoffähig gemacht zu werden. Insofern ist es gut gemeint, wenn Frau Wiese
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sich dafür stark macht, das „Kiezdeutsch“ als „systematische sprachliche Weiterentwicklung“
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in den sprachlichen Olymp zu befördern - in den es überhaupt nicht hineinwill. Ob es hinein
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soll, darf aber doch gefragt werden. „Ich geh Arzt“, oder „lassma Viktoriapark gehen“ ist im
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Kontrast zum Hochdeutschen markant und vielleicht auch witzig, muss aber keine Anregung
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für eine neue Norm sein. Interessant wäre die weitergehende Frage, ob die 10 Millionen Mit-
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bürger, die zuhause kein Deutsch sprechen, durch die Allgegenwart und Einfachheit des Kiez-
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deutsch dem Vorbild der Normsprache so weit entrückt werden, dass sie in einer gesellschaft-
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lichen und beruflichen Sackgasse landen.

Anmerkung zum Autor:
Roland Kaehlbrandt (* 1953) ist ein deutscher Sprachwissenschaftler.
Aus: Roland Kaehlbrandt: Logbuch Deutsch. Wie wir sprechen, wie wir schreiben. Frankfurt a. M.: Klostermann 2016, S. 141–144.

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