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Analyse eines Sachtextes mit weiterführendem Schreibauftrag
Thema: Roland Kaehlbrandt: Logbuch Deutsch. Wie wir sprechen, wie wir schreiben Aufgabenstellung:- Analysiere den vorliegenden Text von Roland Kaehlbrandt. Berücksichtige dabei den Gedankengang und die wesentlichen Inhalte, die sprachlich-stilistische Gestaltung sowie die Intention des Textes.
(38 Punkte)
- Stelle die Sprachvarietäten „Dialekt“, „Soziolekt“ und „Jugendsprache“ jeweils in Abgrenzung zur Standardsprache dar. Setze dich vor diesem Hintergrund mit Kaehlbrandts Position gegenüber Sprachnormen einerseits und „Kiezdeutsch“ sowie Jugendsprache andererseits abwägend auseinander.
(34 Punkte)
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Sprachliche Abgrenzungsjargons brauchen eine wirkungsvolle Sprachkultur als Korrektiv -
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schon allein, damit sie überhaupt Gelegenheit zur Reibung haben. Sie wollen ja gar nicht zur
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vorherrschenden Sprachform werden. Daran erinnert eine Szene aus einem Band der schwei-
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zerischen Vontobel-Stiftung über die „Sprache der Jungen“. Die Autorin, Angelika Overath,
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berichtet, wie einmal ihre Mutter bei einem Besuch eines Freundes gesagt habe: „Das ist mir
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zu viel Action.“ Sie habe sich vor ihrem Freund zu Tode geschämt, schreibt Frau Overath.
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„Mit zwei Silben hatte meine Mutter eine ebenso geheime wie sichere Grenze überschritten“.
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Derartige Überschreitungen sind aber heute an der Tagesordnung. „Einfach nur geil“ findet
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ein führender Politiker das von seiner Partei erzielte Wahlergebnis, „total uncool“ findet eine
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Enddreißigerin mit Erziehungsverantwortung den letzten Tatort, mit „dick gut“ bewertet ein
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jung gebliebener Mittdreißiger sein neues Smartphone, „echt nice“ bestätigt seine etwa gleich-
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altrige Begleiterin. Kaum noch ist es den Jugendlichen möglich, sich der Anbiederung von
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Seiten der Erwachsenen zu erwehren. Wie sollen sie sich nur wirkungsvoll von ihnen unter-
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scheiden? Und jetzt wird auch noch Zuwandererjugendlichen ihre sprachliche Besonderheit
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genommen, indem das sogenannte Kiezdeutsch zu einem „neuen Dialekt“ aufgewertet und
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mit professoralen Weihen versehen wird.
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Kiezdeutsch ist eine Entdeckung der Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese. Es ist eine
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griffige Bezeichnung für eine Jugendsprache, in der sich das Deutsche mit Einsprengseln aus
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Zuwanderersprachen mischt. Für denjenigen, der korrektes Deutsch spricht, ist die Fehler-
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haftigkeit dieses Jugendslangs sofort erkennbar. So fehlen Präpositionen, etwa bei „Wir ge -
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hen Wörlitzer Park“ oder „Heute muss isch wieder Solarium gehen“ (wobei es schlimmere
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Verpflichtungen gibt). Das Deutsche gilt als eine stark von Präpositionen mit den zugehöri-
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gen Kasus geprägte Sprache. Auf die Präposition zu verzichten bedeutet eine grobe Regel-
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verletzung. Heike Wiese wertet den Verzicht jedoch anders, sie verweist auf eine Analogie
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zur korrekten Kurzform „Da müssen Sie Jakob-Kaiser-Platz umsteigen“. Hierbei handelt es
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sich jedoch um eine kontextabhängige Sonderform der Verkürzung im öffentlichen Nah-
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verkehr, während die diskutierte Unterdrückung von Präpositionen vielmehr auf türkischen Ein-
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fluss zurückzuführen ist. Andere Formen dieses grammatik-vermeidenden Slangs werden be-
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schönigend als „grammatische Innovationen“ bezeichnet, wie z. B. „Isch frag mein Schwester“,
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„Lassma Kino gehen“, „Machst du rote Ampel!“ und „Danach ich ruf dich an.“ Die Autorin
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sieht darin Parallelen zu deutschen Dialekten, indem sie von der Sprachnorm abweichende
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dialektale Formen oder auch Formen des gesprochenen Deutsch mit dem Slang der Jugend-
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lichen vergleicht.
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Ausgesprochen witzig ist dabei ein belauschtes Gespräch in einem Kaufhaus, bei dem es
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um den Hut einer Kundin geht. Junge: „Das ist meiner Mutter sein Hut!“ Kassiererin: „Meiner
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Mutter ihr Hut!“ (zustimmendes Gemurmel in der Warteschlange). Immerhin kann man in
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meiner Mutter auch einen Genitiv erkennen, jedenfalls einen Kasus mit gebeugtem Personal-
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pronomen, was in „Isch frag mein Schwester“ nicht der Fall ist. Kurzformen wie „Isch mach
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dich Messer" sind doch nur in der Parallelität von inhaltlicher und sprachlicher Grobheit
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bemerkenswert. Warum muss man gleich zeigen wollen, „dass es hier nicht um einen Sprach-
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mangel geht, sondern dass wir Zeuge einer faszinierenden neuen Entwicklung in unserer Spra-
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che werden: der Entstehung eines neuen deutschen Dialekts." Abgesehen davon ist Jugend-
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sprache kein Dialekt, weil letzterer regional begrenzt ist, sondern ein Soziolekt. Es ist eins,
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sich sprachwissenschaftlich mit den Formen eines Jugendslangs zu befassen, etwas anderes
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ist es, aus dem Gegenstand nun ein für die ganze Sprachgemeinschaft wegweisendes Faszi-
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nosum zu machen. Zwischen dem Untergang der Sprachkultur durch Jugendsprachen und
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ihrer Aufwertung zu einem neuen Dialekt gibt es noch Raum für harmlosere Deutungen. Symp
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tomatisch an der Aufwertung des Kiezdeutsch ist wieder einmal die Umwertung der Norm:
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Nicht die Einhaltung der Norm und der Hinweis auf zwar jugendgeprägtes, aber doch fehler-
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haftes Deutsch - wenn auch vielleicht gewollt fehlerhaftes Deutsch - ist die Aussage, sondern
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eben gerade umgekehrt: Hier entsteht vermeintlich eine neue Sprache, und indirekt täten wir
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gut daran, sie rechtzeitig als solche anzuerkennen, weil wir ja sonst das Schlimmste tun, was
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man tun kann: ausgrenzen.
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Jugendsprachen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Dass sie sich von der
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Sprache der Erwachsenen unterscheiden, macht sie aus. Deshalb ist Besorgnis in diesem Falle
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unberechtigt. Allerdings nützt es der Jugendsprache nicht, wenn man sie mit bester Absicht
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aus der Erwachsenenperspektive kulturell und linguistisch erhöht, denn das will sie gar nicht.
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Sie will nicht als ausformulierte Sprache anerkannt werden, sondern sie kommt gut damit zu-
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recht, wenn Erwachsene mit Naserümpfen reagieren. Sie legt keinen Wert darauf, als sprach-
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liche Innovation hoffähig gemacht zu werden. Insofern ist es gut gemeint, wenn Frau Wiese
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sich dafür stark macht, das „Kiezdeutsch“ als „systematische sprachliche Weiterentwicklung“
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in den sprachlichen Olymp zu befördern - in den es überhaupt nicht hineinwill. Ob es hinein
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soll, darf aber doch gefragt werden. „Ich geh Arzt“, oder „lassma Viktoriapark gehen“ ist im
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Kontrast zum Hochdeutschen markant und vielleicht auch witzig, muss aber keine Anregung
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für eine neue Norm sein. Interessant wäre die weitergehende Frage, ob die 10 Millionen Mit-
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bürger, die zuhause kein Deutsch sprechen, durch die Allgegenwart und Einfachheit des Kiez-
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deutsch dem Vorbild der Normsprache so weit entrückt werden, dass sie in einer gesellschaft-
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lichen und beruflichen Sackgasse landen.
Anmerkung zum Autor:
Roland Kaehlbrandt (* 1953) ist ein deutscher Sprachwissenschaftler. Aus: Roland Kaehlbrandt: Logbuch Deutsch. Wie wir sprechen, wie wir schreiben. Frankfurt a. M.: Klostermann 2016, S. 141–144.
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Vorarbeit
Lies dir den Text zunächst aufmerksam durch und markiere Satzteile oder Wörter, die dir auffallen. Auch hilft es, wenn du dir stichwortartig Notizen zum Thema des Textes machst.Einleitung
- Der Textauszug stammt aus dem Buch Logbuch Deutsch Wie wir sprechen, wie wir schreiben des Autors Roland Kaehlbrandt, welches im Jahr 2016 veröffentlicht wurde.
- Vorliegender Text beschäftigt sich mit der Bedeutung der deutschen Standardsprache und damit, inwiefern sie gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt ist.
- Der Leser erhält einen Einblick in die Intention und Sichtweise des Autors bezüglich dieser Veränderungen der deutschen Sprache.
- Die Bezeichnung Logbuch im Titel verweist bereits auf die Archivierung, Beschreibung und Aufzeichnung von Vorgängen in Bezug auf die Entwicklung des Deutschen, die im Laufe des Textauszugs durch Kaehlbrandt vorgenommen werden.
Hauptteil
- Im ersten Abschnitt gibt der Autor mithilfe direkter Zitate unterschiedliche Beispiele dafür, wie verschiedene gesellschaftliche Kreise mit der deutschen Sprache umgehen. Allen gemeinsam ist der Gebrauch einer eher lockeren Sprache. Der lockere Umgang mit dem Deutschen zeichnet sich bspw. im Gebrauch von Anglizismen aus, die teilweise auch von Politikern verwendet werden (Z. 9).
- Kaehlbrandt positioniert sich gegenüber diesen sprachlichen Veränderungen ganz deutlich. Er bezeichnet sie als „Überschreitungen“ (Z. 8) des Deutschen und vermag diese sprachlichen Verstöße keineswegs zu tolerieren.
- Auffällig ist, dass der Autor die Beispielaussagen von Jugendlichen mit den Aussagen von Autoritätspersonen qualitativ auf eine Ebene setzt und auch die eigentliche Rolle von Personen mit „Erziehungsverantwortung“ (Z. 10) besonders betont, was Kaehlbrandt sicherlich bewusst intendiert hat.
- Im darauffolgenden Textabschnitt wird das Kiezdeutsch näher dargestellt, welches als eine von Zuwanderern beeinflusste Form der Jugendsprache charakterisiert wird. Laut Kaehlbrand ist für sie charakteristisch, dass sie sich den sprachlichen Regeln wie der Verwendung von Präpositionen und des Kasus entzieht, somit fehlerhaft ist und Verkürzungen des Deutschen darstellt. (Z. 19-24)
- Indirekt kritisiert der Autor auch an dieser Stelle, dass die Sprachveränderungen sich den wirkungsvollen und differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten und Feinheiten durch Wortschatz und Grammatik, die sich von anderen Sprachen abgrenzt, deutlich entziehen.
- Insbesondere stellt sich Kaehlbrandt an dieser Stelle einer Aufwertung des sogenannten Kiezdeutsch, die die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese unterstützt, energisch entgegen.
- Die standfeste Meinung des Autors erinnert an eine konservative, beinahe ideologische Position, da die deutsche Sprache an vielen Stellen einer Art Lobpreisung unterliegt.
- In den beiden finalen Textabschnitten wird die Jugendsprache noch näher beleuchtet. Laut Kaehlbrandt versucht sich die Jugend durch ihre fehlerhafte, wenn auch nicht „gewollt fehlerhaft[e]“ (Z. 50) Verwendung des Deutschen bewusst von den Erwachsenen abzugrenzen. Die Jugendsprache lebt von der Verachtung und Ablehnung der Erwachsenen (Z. 55-59).
- Sprachlich gesehen ist festzuhalten, dass der Autor ironische und sarkastische Beispiele und Aussagen aus der gesellschaftlichen Praxis verwendet, um seine eigene Theorie zu bestärken und anschaulicher zu machen.
- Durch die Verwendung bildungssprachlicher Ausdrücke und linguistischer Fachwörter (z. B. „Kasus“ Z. 23, „Soziolekt“ Z. 43) erzeugt der Autor seine eigene Überlegenheit, Autorität und fachliche Kompetenz.
- Die lebensnahen sprachlichen Beispiele, die einem insbesondere am Anfang auffallen, suggerieren auf literarisch kunstvolle Weise Authentizität und ermöglichen auch eine eventuelle Identifikation für den Leser, denn es ist Fakt, dass im alltäglichen Sprachgebrauch ein durchweg kontrollierter und angemessener Einsatz der deutschen Sprache oft nicht immer gewährleistet werden kann.
Schluss
- Der Autor sieht die deutsche Standardsprache als eine in ihrer eigentlich singulären Stellung immer weniger gesprochene und weiter veränderte Sprache an. Aus diesen Veränderungen resultiere ein Verlust der reizvollen Sprache des Deutschen.
- Durch Kaehlbrandts Logbuch könnte es jedoch auch zu einem Aufruf der Sprachbenutzer des Deutschen kommen, die zu einem wertschätzenden Umgang mit ihrer Sprache angehalten werden.
- Es ist fraglich, wie nachhaltig die Argumentationsgrundlage des Autors ist, da es Sprachveränderungen schon immer gegeben hat und sie nicht nur Rückschritt, sondern auch Fortschritt bedeuten können. Den Gedanken der natürlichen Sprachveränderung bzw. des Sprachwandelprozesses unterstützt Kaehlbrandt nicht. Doch tatsächlich hat sich sogar die deutsche Standardsprache aus den verschiedenen Dialekten entwickelt.
- Die Sprache würde der ständig voranschreitenden kommunikativen Globalisierung nicht nachkommen, wenn sie sich nicht auch weiterentwickeln würde. (Z. B. in Bezug auf den aktuellen Sprachkonflikt der gendergerechten Sprache)
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Das Deutsche bzw. die deutsche Sprache ist als Gesamtsystem zu betrachten, welches wiederum aus zahlreichen Teilsystemen, sogenannten Subsystemen besteht. Die Subsysteme entsprechen den Varietäten des Deutschen, d.h. das Deutsche setzt sich aus zahlreichen Varietäten zusammen.
- Die Sprecher der deutschen Sprache verfügen in unterschiedlichem Maße über eine aktive oder passive Kompetenz dieser Varietäten.
- Zu den Varietäten gehören bspw. die Dialekte, Jugendsprache und Fachsprachen.
Der Dialekt in Abgrenzung zur Standardsprache
- Dialekte entsprechen nicht kodifizierten, sondern flexiblen Sprachformen der Nähe und bilden somit die standardfernsten Varietäten.
- Eine regionale Varietät mit kurzer, ggf. mittlerer Reichweite und an Areale gebunden; bezieht sich auf geografischen Raum und steht in Beziehung zur überregionalen Sprache
- Häufig für die alltägliche Lebenspraxis reserviert; in der Regel mündlich; geht der Schriftsprache voran
- Wird häufig im heimatlichen oder engeren Personenkreis realisiert; erfüllt identitätsstiftende Funktionen, die wiederum eine Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung nach außen ermöglichen.
Der Soziolekt in Abgrenzung zur Standardsprache
- Nicht auf bestimmte landschaftliche, regionale oder lokale Eigenschaften bezogen
- Bezieht sich auf soziale Schichten
- Sprachgebrauch ist an bestimmte soziale Netzwerke und Milieus gebunden
Die Jugendsprache in Abgrenzung zur Standardsprache
- Vereinfachungen der Standardsprache
- Als Beispiel ist das Kiezdeutsch zu nennen, da nicht nur die örtliche Zugehörigkeit von Bedeutung ist. Eine Jugendsprache bezieht sich auch auf soziale Beziehungen und das kulturelle Milieu.
- Grammatikalisch weniger ausgeprägt; wird in der Regel im mündlichen Sprachgebrauch realisiert; häufiger Gebrauch von Interjektionen in einem emotional-expressiven Sprachgebrauch
Die Position des Autors unterstützen
- Betonung der herausragenden Bedeutung und Wichtigkeit einer Sprachnorm
- Die Standardsprache als wichtige Kompetenz leidet, da Vereinfachungen der Grammatik und Syntax mit der Etablierung von Sprachvarietäten, wie dem Kiezdeutsch, einhergehen.
- Es ergeben sich Nachteile sozialer Art: Menschen, welche die Standardsprache nicht beherrschen, werden mit Benachteiligung und Ausgrenzung konfrontiert.
- Varietäten können ebenfalls ab- oder ausgrenzend wirken wie z. B. fremde und unverständliche Dialekte
- Die Standardsprache hilft dabei, die Tradition der deutschen Sprache zu bewahren.
Die Position des Autors infrage stellen
- Neue Mehrsprachigkeit (aufgrund von Migration, allochthone Minderheiten etc.) begegnet uns jeden Tag in unterschiedlicher Form: Kontakt und migrationsbedingter Variation im Deutschen durch z. B. Sprachmischung, Codeswitching, Lernvarietäten und Ethnolekte
- Dialekte helfen bei der Verhandlung der eigenen sozialen Identität.
- Dialekte befinden sich, unter der Einbeziehung der Standardsprache, stets in dynamischen Prozessen. Ein bereits jetzt immer weiter voranschreitender Dialektabbau sollte verhindert werden. Gerade da der pragmatische Faktor, die Haltung der Sprechenden, mit Blick auf die Weitergabe der Dialekte eine wichtige Rolle spielt, sollten Dialekte einer besonderen Bedeutung unterliegen.
- Das gesamte deutsche Sprachsystem zeichnet sich per se durch eine Heterogenität aus, da es sich aus verschiedenen Varietäten zusammensetzt. Es gibt bereits graduelle sprachliche Verschiedenheiten, die wir in unserem Alltag umsetzen und bspw. auf verschiedene Stilebenen zurückgehen (formell - informell etc.)