Aufgabe 5 - Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes (Schwerpunkt: Erörterung)
Analyse und Erörterung pragmatischer Texte
Thema: Jens Jessen: Lob der Blase- Arbeite die Kernaussagen des Textes heraus.
- Setz dich mit der Position des Autors auseinander.
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Es ist kaum zehn Jahre her, aber gefühlt eine ganze Epoche, da wurde das Internet als
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Instrument der Freiheit gepriesen, mehr noch: der Befreiung und Demokratisierung der
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Welt. Im Netz gibt es keine Zensur, Anonymität schützt seine Nutzer, die Meinungs-
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freiheit schien unbegrenzt und das probate Mittel zu sein, lügengestützte Diktaturen
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und Totalitarismen zu stürzen. Man wundert sich heute sehr, wenn man die Utopien
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von gestern liest. [...]
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Das Internet ist zwar in der Tat ein Instrument des freien Meinungsaustausches, aber
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er dient nicht mehr der Befreiung, sondern der Einschüchterung. Durch das Netz zie-
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hen marodierende Horden von Gesinnungstätern, die alles verfolgen, was ihrer Welt-
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anschauung nicht entspricht. Aus der Meinungsfreiheit ist der Meinungs-
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kampf geworden. [...]
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Für die bedrohliche Entwicklung hat sich eine Erklärung etabliert, die interessanter-
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weise von der persönlichen Verantwortung der radikalisierten Meinungskämpfer abs-
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trahiert. Es ist die Blasentheorie, und sie besagt, dass durch die Filteralgorithmen der
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sozialen Netzwerke ihren Teilnehmern immer nur die eigene Überzeugung und das ihr
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Entsprechende, Gesinnungsgenossen und die Gesinnung stützende „Fakten“, ange-
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zeigt werden. Facebook, Instagram und Twitter legen eine schützende Blase um den
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Nutzer, gebildet aus „Likes“ und „Freunden“. In dieser Blase bewegen und radikali-
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sieren sich die Menschen. Sie werden von allem abgeschirmt, was ihre Weltsicht stören
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könnte. Das macht sie selbstgerecht, blind und intolerant.
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Die Blase gilt als Schlüssel zur Bosheit des Netzes, mehr noch: als Grund für die alar-
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mierende Polarisierung der Gesellschaft. [...] Aber ist die Blasentheorie überhaupt
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plausibel? Warum werden die Nutzer in ihrer wärmenden Blase, die sie vor allem be-
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wahrt, was sie verunsichern könnte, nicht ganz friedlich und still? [...]
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Es lohnt sich vielleicht, einen Blick zurück zu werfen auf die Gesellschaft vor Ent-
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stehung der digitalen Netzwerke. Lebten die Menschen damals ungeschützt und unbe-
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haust, frei von kollektiven Ressentiments und in stetem, vorurteilslosem Austausch
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mit anderen, auch den scharf entgegengesetzt denkenden Zeitgenossen?
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Setzten sie allüberall ihr Haupt dem schneidenden Gegenwind der Gegenmeinu-
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ngen aus?
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Das wird man wohl kaum behaupten können. Sie lebten vielleicht nicht in einer Bla-
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se, aber doch in etwas, das man Milieu nannte, und dieses Milieu konnte genauso
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passgenau zugeschnitten und herzerwärmend borniert sein. Tierschützer wärmten
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sich an Tierschützern, Jäger an Jägern, Feministinnen an Feministinnen, Abtrei-
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bungsgegner an Abtreibungsgegnern. [...]
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Die Menschen saßen in ihren selbst gewählten Schützengräben nicht anders als
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heute, hatten aber keine Waffe, sich direkt zu beschießen. Oft kannte man die geg-
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nerischen Stellungen gar nicht genau. Das galt vor allem, wenn sich potenziell ver-
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feindete Milieus nicht an einer ideologisch sichtbaren Oberfläche identifizieren lie-
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ßen, sondern auf Herkunft, Bildung, Berufen oder regionalen Besonderheiten be-
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ruhten. [...]
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Der Zeitungskiosk von ehedem bildete das kommunikationslose Nebeneinander
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recht gut ab. Die großen politischen Lager hatten ihre großen Blätter, die kleinen
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Lager ihre kleinen, die radikalen Nischen ihre radikalen Nischenmagazine, egal ob
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sich der Fanatismus aufs Bienenzüchten bezog oder auf die verlorenen Ostgebiete.
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[...] Alles fand dicht gedrängt nebeneinander auf den Regalen Platz, weil die Leser
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nicht ebenfalls dicht gedrängt nebeneinander Platz nehmen mussten. [...] Die Viel-
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gestaltigkeit der Gesellschaft, in alten Zeiten durch Unkenntnis geschützt, wurde
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erst im Netz zum Gegenstand der Empörung.
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Mit anderen Worten: Das Problem ist nicht die Blase, sondern ihre Durchsichtigkeit –
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die Einsehbarkeit jeder Blase von jeder anderen Blase aus. Es sind nicht mehr der Ent-
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schluss und die Überwindung nötig, am Kiosk Geld hinzulegen, um sich einen Adre-
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nalinstoß der Empörung zu geben; ein Klick genügt, und manchmal weniger als ein
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Klick, denn ein anderer hat schon geklickt und einen Hasskommentar zu dem gepostet,
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was für seine Augen nie bestimmt war.
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Die Zwangskommunikation im Netz erzeugt den Hass, der von dort in die reale Welt
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strömt. Wie nett oder auch nur gleichgültig eingestellt bliebe man gegenüber seinem
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Nachbarn, wenn man nicht aus dem Netz erfahren könnte, was er denkt. [...]
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Falsch wäre es indes, im Internet selbst die Ursache zu sehen. Verheerend ist nur
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der Gebrauch, der von ihm gemacht wird, und an diesem sind nicht einmal die sozi-
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alen Netzwerke und ihre Algorithmen wesentlich schuld. Die Idee der Blase ist kein
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falscher Ansatz, insofern sie so etwas wie die Heimatlichkeit eines selbstbezügli-
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chen Sozialmilieus reproduziert. Die Blase ist aber unzureichend dicht. Weit davon
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entfernt, ihre Bewohner zu schützen, präsentiert sie diese unter einer Glasglocke
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und setzt sie damit der Missbilligung und Zerstörungslust aus.
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Solange diese Einsehbarkeit ein Ideal bleibt, wird eine Befriedung des Internetpö-
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bels, die dringend notwendige Separierung der Meinungssoldaten nicht gelingen. In
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Wahrheit müsste man, wie einst bei Beendigung von Kriegen, die Armeen entflech-
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ten, außer Sichtweite bringen, entwaffnen und in die Heimat schicken. Das große
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Gespräch aller mit allen, das einmal als friedensstiftende Utopie erschien, muss be-
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endet werden. Es hat sich als Gemetzel erwiesen. Viele genießen es als Unterhal-
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tungsspektakel, viele verdienen auch viel Geld damit. Die Schlachtfelder im Netz
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sind profitabel.
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Sie zeigen aber auch etwas, das nicht nur im Netz vergessen worden ist: wie wich-
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tig Distanz für den sozialen Frieden ist. Man muss sich aus dem Weg gehen kön-
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nen, besser noch: nicht die gleichen Wege benutzen. Im freundlichen Dulden und
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wohlwollenden Ignorieren von Parallelgemeinschaften liegt die Zukunft einer plura-
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len und, ob es gefällt oder nicht, schon weitgehend segmentierten Gesellschaft. In-
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toleranz gehorcht dem Gesetz der Einmischung. Toleranz dagegen verlangt vor al-
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lem und zunächst: wegschauen. Andere anders leben lassen, anders denken, füh-
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len und sprechen lassen.
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Den brüllenden Kindern im tobenden Meinungskindergarten des Internets möchte
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man am liebsten, wenn es nicht selbst etwas kindisch wäre, zurufen: Geht nach
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Hause! Belauscht die Leute nicht, die ihr nicht mögt. Lasst sie quatschen. Aus der
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Ferne, wenn man nicht so genau hinhört, wird dieses Quatschen sich gar nicht so
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viel anders als euer eigenes Gequatsche anhören...
Aus: Jens Jessen: Lob der Blase, letzter Zugriff am 27.11.2023.
Teilaufgabe 1
Einleitung
- Jens Jessen veröffentlicht seinen Artikel Lob der Blase am 28.09.2018 in der ZEIT ONLINE.
- Im Zuge seines Artikels beleuchtet Jessen den Sachverhalt, inwiefern das Internet einen Mikrokosmos darstellt, der neben Gemeinschaft und Fortschritt auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko birgt.
Hauptteil
Die Kernaussagen des Textes- Bereits zu Anfang seines Artikels schildert Jens Jessen, wie sehr sich das Internet im Laufe der Jahre von einer rein dem informativen Zweck dienenden Plattform hin zu einem Ort geworden, der anstatt aufzubauen, Menschen entmutigt.
- Zudem habe sich das World Wide Web laut Jessen, einstig vorgesehen für die „Befreiung und Demokratisierung der Welt“ (Z. 2 f.) zu einem „Instrument [...] der Einschüchterung“ (Z. 7 f.) entwickelt.
- Was ehemals als Informationsträger begann und die Diversität an Wissen und Informationen unterstützte, gleicht Jessen nach inzwischen einem „Meinungskampf“ (Z. 10), in welchem die Meinung des Einzelnen zu einem Thema über die faktische Wahrheit gestellt wird.
- „Blasentheorie“ (Z. 14): Durch die personalisierte Anpassung der sozialen Medien wie „Facebook, Instagram und Twitter“ (Z. 17) an ihre Nutzer werden Nachrichten und Meldungen der individuellen Neigung entsprechend vorgefiltert. Dies hat zur Wirkung, dass Informationsbeschaffung sehr keineswegs differenziert erfolgt und die Konsumenten in ihrer eingeschränkten Sichtweise verharren und gegenüber Andersdenkenden „intolerant“ (Z. 20) werden.
- Den Effekt letzterer Theorie widerlegt Jessen jedoch, indem er anmerkt, dass sich bereits vor Zeiten des Internets Menschen ähnlicher Ansichten zusammengeschlossen haben. Damals jedoch herrschte ein bedeutend geringeres Aggressionspotenzial der verschiedenen Gruppen untereinander, da die verschieden Gesinnten nicht durch das World Wide Web miteinander verbunden waren.
- Als markantes Problem stellt der Autor die „Durchsichtigkeit“ (Z. 48) der verschiedenen Blasen dar, sodass man sich jederzeit und überall im Visier hat. Die Konsequenz dieser ständigen Überwachung anderer und sich selbst führt laut Jessen dazu, dass sich die Gesellschaft zunehmend spaltet, in Extreme abdriftet.
- Denkbar für eine Zusammenführung und ein Ende der Radikalisierung und Verurteilung anderer ist für Jens Jessen einzig und allein die konsequente Isolation der verschiedenen Blasen voneinander, sodass keine Angriffsfläche und kein Nährboden für erneute Konflikte mehr entstehen können (Vgl. Z. 64 ff.).
Schluss
- Jens Jessen stellt in seinem Artikel die Entwicklung des Internets von einer Informationsplattform hin zu einem Ort der Entmutigung und Einschüchterung dar. Er kritisiert, dass das Internet, das ursprünglich zur Befreiung und Demokratisierung der Welt gedacht war, nun zu einem Instrument geworden ist, das Meinungen über Fakten stellt und somit einen „Meinungskampf“ fördert.
- Durch personalisierte Anpassungen in sozialen Medien werden Informationen vorgefiltert und Nutzer bleiben in ihrer eingeschränkten Sichtweise verharren, was zu Intoleranz führt. Jessen sieht jedoch auch, dass sich Menschen schon vor dem Internet ähnlicher Ansichten zusammengeschlossen haben, allerdings mit weniger Aggressionspotenzial.
- Ein Hauptproblem sieht er in der „Durchsichtigkeit“ der verschiedenen „Blasen“, die eine ständige Überwachung ermöglicht und so zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Als Lösung schlägt er eine konsequente Isolation der verschiedenen Blasen vor, um Konflikte zu vermeiden.
Teilaufgabe 2
Überführung
- Das Internet bildet, unabhängig von der Gesinnung des Einzelnen für jeden Zufluchtsorte, an welchen sich jener gehört und verstanden fühlt und dies ist per se erst einmal als positiv einzuordnen.
Hauptteil
Jens Jessens Position zur „Blase“ des Internets- Problematisch stellt sich allerdings die ständige Konfrontation miteinander dar, es kann beinahe schon von einer zwanghaften Auseinandersetzung mit Andersdenkenden gesprochen werden. Das Vermeiden solcher Konfrontationen wäre laut Jessen ein Schritt in Richtung friedlicheres Miteinander.
- Privatsphäre: Durch juristisch festgelegte Maßnahmen zum Thema Datenschutz ist es der Einzelperson theoretisch möglich, im Internet surfen, ohne Gesicht bekennen zu müssen. Auch ob man sein Profil für die Öffentlichkeit zugänglich macht oder nicht, lässt sich individuell einstellen und damit kontrollieren.
- Verantwortung übernehmen: Der Umstand, dass es theoretisch möglich ist, Tag und Nacht mit Vertretern extremer Positionen im World Wide Web zu diskutieren, scheint verlockend. Doch sollte einen diese Tatsache auch innehalten lassen und man sollte sich der Verantwortung, welche man im Internet, ebenso wie im realen Alltag als Mensch trägt bewusst werden.
- Manieren: Sie werden von zahlreichen Konsumenten sozialer Medien missachtet, doch in der Regel erfährt derjenige, welcher gegen Verhaltensregeln verstößt, Konsequenzen. Letztere äußern sich im Blockieren, Sperren oder Deaktivieren des auffälligen Profils.
- Auseinandersetzung bietet auch immer die Gelegenheit zur Begegnung und zum Kompromiss - kann grundsätzlich also Chance verstanden werden. Schwierig wird die Konfrontation dann, wenn sich die Fronten verhärten und kein aufeinander zukommen mehr möglich ist.
- Nicht die Konfrontation zweier Gegenlager bildet das Problem, sondern dass wir verlernt haben, mit Gegenpositionen umzugehen. Die sukzessive Entfremdung unterschiedlicher Perspektiven führt zu einer derartigen Spaltung der Gesellschaft, dass wir uns einander fremd geworden sind.
- Beispiel für Entfremdung innerhalb der Gesellschaft und gleichzeitige Chance auf Zusammenführung: Black Lives Matter - Bewegung in den USA.
- Nicht das Internet als solches, sondern wie wir es verwenden und handhaben, birgt Problempotenzial.
- Jessen berücksichtigt in seiner harschen Abhandlung unflätiger Zustände in den sozialen Medien nicht, dass die Radikalen, Trolle und Angriffslustigen des Internets nur einen Bruchteil der Konsumgesellschaft ausmachen und der Mensch im Kern Gutes tun will und in allererster Linie danach strebt, gehört zu werden.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konfrontation mit unterschiedlichen Meinungen im Internet sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance darstellt.
- Es ist wichtig, sich der Verantwortung bewusst zu sein, die man beim Navigieren in sozialen Medien trägt und respektvoll mit anderen umzugehen. Die Möglichkeit, seine Online-Präsenz individuell zu gestalten und zu kontrollieren, bietet dabei einen gewissen Schutz.
- Allerdings kann die ständige Auseinandersetzung mit Andersdenkenden auch zu einer Entfremdung innerhalb der Gesellschaft führen. Es ist daher entscheidend, wie wir das Internet nutzen und handhaben. Trotz der Präsenz von Radikalen und Trolls im Internet repräsentieren diese nur einen kleinen Teil der Nutzer. Die Mehrheit strebt danach, gehört zu werden und Gutes zu tun.
- Darum sollte das Potenzial des Internets zur Förderung positiver Interaktionen und zum Aufbau von Verständnis und Kompromiss nicht übersehen werden.