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Aufgabe 6 - Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes (Schwerpunkt: Erörterung)

Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes

Schwerpunkt: Erörterung
Thema
Henning Lobin (* 1964): Warum wir eine Ethik der Metapher brauchen (2019)
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Argumentationsgang des Textes Warum wir eine Ethik der Metapher brauchen von Henning Lobin dar und erläutere die Intention des Textes. (ca. 40%)
  • Erörtere ausgehend vom Text Lobins Position zur Verwendung von Metaphern im öffentlichen Sprachgebrauch. Beziehe dabei Wissen zum Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit in gesellschaftlichen Zusammenhängen ein. (ca. 60%)
Material
Warum wir eine Ethik der Metapher brauchen
Henning Lobin
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Als Sprachwissenschaftler ist man unschlüssig, ob man sich freuen soll oder
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nicht: Seit Langem schon wurde nicht mehr so intensiv über Sprache debattiert.
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Der Schriftsteller Durs Grünbein meinte in der ZEIT erklären zu können, wie aus
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Sprache Gewalt wird. Grünen-Chef Robert Habeck hat ein ganzes Buch zum
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Thema Sprache verfasst. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner
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Weihnachtsansprache an die Bürger appelliert, mehr miteinander zu reden,
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selbst wenn man nicht einer Meinung ist. [...] Es gibt viele weitere Beiträge, oft
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unter Stichwörtern wie „Sprachverrohung“ oder „sprachliche Gewalt“. Man sollte
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gerade das, was so selbst zu einem Argument in der politischen Kommunikation
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geworden ist, zunächst sortieren.
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Da gibt es zum einen die direkten Beleidigungen. Wenn man jemanden als etwas
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bezeichnet, das zu entsorgen ist, oder jemanden auf den Müllhaufen wünscht,
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dann kann dieser sich strafrechtlich dagegen zur Wehr setzen. Im Internet soll
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das Netzwerkdurchsetzungsgesetz eigentlich sicherstellen, dass sich Beleidigungen
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nicht verbreiten. Im Parlament können Ordnungsrufe dafür sorgen, dass
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solches Verhalten geahndet wird. Beleidigungen, so wüst sie auch sein mögen,
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sind kein Problem für das Gemeinwesen. Dafür haben wir Instrumente.
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Die sogenannten diskursiven Strategien hingegen liegen am anderen Ende der
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kommunikativen Skala und bezeichnen eine ganze Kette von Äußerungen, die
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man mit strategischer Absicht unternimmt. Wenn man beispielsweise jemanden
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beleidigt hat, dann kann man behaupten, dass das gar nicht als Beleidigung gemeint
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gewesen war. Wenn man – wie der AfD-Politiker Björn Höcke – von einem
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„Denkmal der Schande“ spricht, dann kann man dem erwartbaren Entrüstungssturm
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begegnen, indem man sagt, man sei böswillig falsch verstanden worden,
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die NS-Verbrechen seien ja wirklich eine Schande. Und wenn man das Wort „völkisch“
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benutzt, dann kann man zu seiner Verteidigung vorbringen, man habe nur
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das Adjektiv zu „Volk“ gebildet. All das ist so geschehen. [...] Dieses diskursive
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Spiel einfach nicht mitzuspielen, kann eine geeignete Gegenmaßnahme sein –
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die schwarze Rhetorik fällt dann schnell in sich zusammen.
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Viel schwieriger ist es jedoch, die Wirkung von Metaphern in der politischen Kommunikation
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zu bewerten. Metaphern werden keineswegs mehr nur als Stilmittel
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in literarischen Texten angesehen. Vielmehr stellen sie eine fundamentale Methode
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dar, im Denken einen Erfahrungsbereich auf einen anderen zu übertragen
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– und dadurch den Ursprungsbereich besser zu verstehen oder anders zu beleuchten.
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Wer statt von „Seenotrettung“ von einem „Shuttle-Service“ spricht, der
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wird im Hörer Assoziationen, die mit regelmäßig verkehrenden Bussen oder
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Schiffen zu tun haben, auf den Ursprungsbereich übertragen: Ein Shuttle-Service
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ist Teil einer Reise, erfolgt gegen Geld, ist eine planbare Dienstleistung, unterliegt
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gewissen Qualitätsstandards, ist grundsätzlich nicht gefährlich – und so sollen
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dann auch die Ereignisse auf dem Mittelmeer gesehen werden. Es ist ein politisches
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Anliegen, die Assoziationen von Metaphern mit den ursprünglichen Gegebenheiten
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in Verbindung zu bringen, um sie in einer gewünschten Weise einzuordnen
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oder zu deuten.
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Derartige psychologische Mechanismen werden auch mit einem Begriff beschrieben,
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der [...] Konjunktur erfahren hat: „Framing“. Ein Frame umfasst Wissens- und
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Wahrnehmungsbestände, die sich in einem bestimmten Zusammenhang befinden:
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beim Frame des Shuttle-Service etwa das Shuttleboot, der Bootsführer,
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die Reisenden, die Reederei, die Tätigkeit des Transportierens, die alles miteinander
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verbindet. Der komplette Frame kann allein durch eines dieser Elemente
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aktiviert werden, durch das Bild eines Bootes etwa oder durch einen Fahrplan,
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aber eben auch durch ein Wort. In diesem Licht betrachtet, können Metaphern
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als die denkbar knappste Methode verstanden werden, mit sprachlichen Mitteln
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einen bestimmten Framing-Effekt zu erzielen.
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Neu ist dieses Vorgehen keineswegs. Propagandistisch wird es vor allem in totalitären
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Systemen eingesetzt, um das Eigene vom Fremden, das Gute vom Bösen
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und das Reine vom Verdorbenen zu trennen. Ganze Metaphernkomplexe wurden
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im Dritten Reich entwickelt und systematisch gepflegt, ob es sich nun um die
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antisemitischen Metaphern des Ungeziefers oder des Parasiten am Volkskörper
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handelt, um die Metapher der Volksgesundheit zur Legitimation von Euthanasie
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oder die des Lebensraums zur Begründung eines Angriffskriegs. Metaphern richten
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den Scheinwerfer auf bestimmte Eigenschaften eines Sachverhalts, während
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andere im Dunkeln liegen und umso schwerer erkennbar sind.
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Wenn man in der aktuellen politischen Debatte derartige Metaphern verwendet,
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schwingen diese Traditionen mit. Aus diesem Grund zucke ich selbst bei einem
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Wort wie „Ausgrenzeritis“ zusammen, das von einem AfD-Abgeordneten verwendet
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wurde, um die nur zögerliche Bereitschaft der etablierten Parteien zu bezeichnen,
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die AfD bei der Wahl in Parlamentsgremien zu berücksichtigen. Die Endung
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„-itis“ vermag fast jede mit Absicht ausgeführte Handlung in eine Krankheit zu
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verwandeln, die also ohne Sinn und Verstand über eine Person gekommen ist
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und nicht etwa das Ergebnis einer Überlegung darstellt, so kritikwürdig die gewonnene
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Auffassung auch sein mag.
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Eine alte Tradition findet sich auch in der Kriegsmetapher, die für die politische
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Auseinandersetzung zur Konvention geworden ist („Wahlkampf“, „rechtes/linkes
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Lager“). Allerdings gibt es die Übereinkunft, sie nicht kreativ zu erweitern und von
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einer „Jagd“ auf den politischen Gegner zu sprechen, wie es Alexander Gauland
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nach der Bundestagswahl getan hat.
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Offensichtlich mangelt es an einer Ethik der Metapher. Was sagt das Bildfeld, in
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das uns die Metapher trägt, über den Sachverhalt aus? Werden wesentliche Aspekte
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unterdrückt, andere überbetont, wenn wir sie mit den Fakten abgleichen?
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Wo verstößt eine Metapher gegen allgemeine moralische Standards, nach denen
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Menschen nicht als Ungeziefer oder Meinungen nicht als Krankheit bezeichnet
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werden? Trägt eine Metapher in ihrer Absolutheit zu einer Verhärtung der Fronten
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bei und verhindert so einen Ausgleich – wenn etwa von „Agrarmafia“ die Rede
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ist?
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Leider scheint die wahre Aufgabe einer politischen Argumentation aber darin zu
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liegen, die eigene Gruppenzugehörigkeit und die damit verbundenen Meinungen
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und Auffassungen nach den Maßstäben der Vernunft abzusichern und sich damit
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auch der anderen Mitglieder der eigenen Gruppe zu vergewissern. Die Metaphern
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in der politischen Kommunikation haben also nicht die Aufgabe, jemand
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anderen zu überzeugen, sondern vielmehr die eigene Seite mit Bildern zu versehen,
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die geeignete Framing-Effekte, Schlussfolgerungen und Narrative hervorrufen.
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[...]
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Wie soll man nun mit all dem umgehen? Das Gespräch ist, wie der Bundespräsident
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empfiehlt, ein guter Anfang. Wenn uns aber die Vernunft vorzugsweise
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dazu dient, Verteidigungswälle für die eigene Meinung zu errichten, dann sollten
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zuallererst Abrüstungsverhandlungen unternommen werden. Das sprachliche
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Waffenarsenal sollte als solches Gesprächsthema sein, die Gültigkeit also all der
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metaphorischen Zuspitzungen, Fahnenwörter und Slogans, die eingesetzt werden,
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um eine bestehende Konfrontation zu befeuern. Wenn schon nicht die gegenseitige
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Überzeugung durch Argumente gelingt, so kann zumindest das Gespräch
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über die sprachliche Gestalt, in die die vermeintlich rationale Argumentation
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gekleidet ist, eine Annäherung bewirken. Auf dieser Ebene kann die Sprachwissenschaft
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tatsächlich etwas zur öffentlichen Diskussionskultur beitragen.
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Auch die Medien sollten häufiger auf die originelle Metapher verzichten und stattdessen
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die präzise, differenziertere sprachliche Form wählen. Das ist nicht
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gleichbedeutend mit Langweiligkeit, denn genauso wenig, wie sich eine gute Reportage
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auf Erfundenes stützen muss, sollte sich auch die sprachliche Bezeichnung
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komplexer Sachverhalte auf Metaphern stützen, die nur teilweise tragen.
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Bilder und Analogien sind zwar wichtig, um etwas Kompliziertes besser zu verstehen,
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aber dann sollte dies auch als ein Vergleich unterschiedlicher Dinge erkennbar
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bleiben und nicht in der Metapher miteinander verschmelzen.
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Die kognitive Substanz der Metapher mit ihrem unausgesprochenen Absolutheitsanspruch
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kann nämlich wie ein Gift wirken, deshalb bedarf sie der Kontrolle
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durch die Erkennbarkeit des Bildes als Vergleich. Die Flucht- und Rettungsereignisse
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im Mittelmeer mit dem Wort „Shuttle-Service“ zu bezeichnen, verzerrt die
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tatsächlichen Ereignisse auf unheilvolle Weise. Sie mögen manchen in einigen
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Punkten an so etwas wie einen Shuttle-Service erinnern, in anderen aber nicht –
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darüber lässt sich diskutieren, und so viel sprachliche Differenzierung muss
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schon sein, wenn uns unser friedliches Miteinander etwas wert ist. Deshalb sollten
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wir verabsolutierende Metaphern in der öffentlichen Debatte sich nicht ungehindert
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verbreiten lassen, sondern ihre Gültigkeit sofort zum Thema machen, um
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ihre schädliche Wirkung zu neutralisieren. Wir sollten uns nicht darauf verlassen,
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dass jede Form des Sprachkampfs, und sei sie auch noch so verzerrend und
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verletzend, tatsächlich nur im Sprachlichen verbleibt.

Anmerkungen zum Autor:
Henning Lobin (* 1964) ist der Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim.
Aus: Lobin, Henning: Warum wir eine Ethik der Metapher brauchen. Süddeutsche Zeitung. (21.02.2019); letzter Zugriff am 27.02.2021.

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