Aufgabe 3 - Interpretation eines Kurzprosatextes
Interpretation eines Kurzprosatextes
Thema: Johannes Bobrowski (* 1917 - † 1965): Im Verfolg städtebaulicher Erwägungen (1965)- Interpretiere den Text.
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Durch eine frühere Allee, die sich, baumlos, auf einen leeren Platz zu verbreitert, immer
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entschiedener, je weiter sie sich von der Ecke, an der ich wohne, entfernt, kann ich in
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eine Querstraße hineinblicken. Eine alte Straße von ziemlich neunzig Jahren, alte Häu-
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ser mit breiten Simsen, Pilastern, von Halbsäulen getragenen Fensterstürzen, Bal-
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konen, die von Atlanten gestützt werden, und Rundportalen, die vielleicht einfielen,
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schmiegten nicht Karyatiden von derber Anmut fleischig-kräftige Rücken unter die
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Wölbung.
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Seit einiger Zeit allerdings bemerke ich von meinem Fenster aus, daß sich Unruhe in
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dieser Straße verbreitet, daß dort etwas angefangen hat, was allgemein unter der Be-
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zeichnung Regulierung des Stadtkerns begriffen wird und gar nichts anderes bedeutet,
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als daß die Häuser in dieser Straße zum Abriß bestimmt worden sind.
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Alte Häuser. Von unten her hat der Schwamm an ihnen gearbeitet und von oben, vom
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Dachstuhl aus, der Holzwurm. Auf halbem Wege ungefähr haben sie sich getroffen;
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ohne Aufheben davon zu machen, aber, wie man sieht, nicht unbemerkt.
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Die Bewohner des ersten Hauses, kann man annehmen, warten eine Benachrichtigung
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gar nicht erst ab, vielleicht ist sie auch vor Jahren schon erfolgt. Mit Sack und Pack
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ziehen sie in das nächststehende hinüber, ohne zu fragen und unbegrüßt von dessen
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Bewohnern, liegen dann in allen Fenstern, vom Keller bis zum Dachboden, und rufen
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den Arbeitern draußen, die mit Geräten und Maschinen den Abriß durchführen, ihren
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Zorn und ihre Verachtung ins Gesicht.
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Da sind sie also untergekommen. Aber in der nächsten Woche bereits ist auch dieses
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Haus an der Reihe. Die Greifbagger rücken vor, Bewohner und Gäste siedeln gemein-
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sam ins nächste Haus über. Und eine Woche darauf ist es schon wieder so weit, Kisten,
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Gerät, Kleidungsstücke werden in das nächststehende Haus geschleppt, dessen Türen
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sich widerwillig öffnen. Jetzt blicken bereits sechs oder acht Köpfe aus jedem Fenster.
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Da wird sicher geschrien, und man weiß ungefähr was, aber bis hierher ist nichts zu
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hören, nur die offenen Münder erkennt man und Fäuste, erstarrt jetzt in einer drohen-
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den Bewegung, denn die Greifer manövrieren und bewegen sich, nach einer halben
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Drehung, auf das nächste, noch stehende Haus zu. So geht es voran, ein Haus, und
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wieder ein Haus.
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Wir werden hinübergehn müssen, vor Abend, die Laternen entzündet man in dieser
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Straße nicht mehr, oder uns wenigstens nach der Länge der Straße erkundigen, oder
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doch besser einen Blick in die Straße werfen, nach ihrem Ende zu, solange es das noch
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gibt. Wir müssen doch vielleicht wissen, wieviel Wochen es noch so gehen kann.
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Übrigens werden die Häuser auf das Ende der Straße zu niedriger und enger. Schmale
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Türen, immer weniger Fenster. Erst noch achtzehn oder sechszehn in der schon recht
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schmucklosen Fassade, schließlich noch vier. Wie werden die Leute da alle heraus-
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schauen können?
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Es findet sich ja noch immer ein Haus, vielleicht eins mit zwei Fenstern, das ist wenigs-
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tens etwas. Denn das letzte, denke ich, hat keines mehr.
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Es können ja neue Häuser an die Stelle der alten gesetzt werden; alles neu, ein neuer
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Name für die Straße, neue Bewohner, man hat präzise, ausreichend detaillierte Vor-
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stellungen, wenn es um die Zukunft geht. Aber wie das mit dem Alten, Früheren, dem
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Vergangenen gewesen ist, da bleibt man auf Vermutungen angewiesen. Das ist gewesen,
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und ist vergangen, Zeit, und verlorene Zeit. Wie Geschwätz.
Aus: Johannes Bobrowski, Die Erzählungen in chronologischer Folge, Berlin 1992 (Buchverlag Union), S. 166 f.
Einleitung
- Seinen Text Im Verfolg städtebaulicher Erwägungen veröffentlicht Johannes Bobrowski bereits 1965 und publiziert es dann als Bestandteil seines Werks Die Erzählungen in chronologischer Folge 1992 in Berlin.
- Gentrifikation: In Bobrowskis Artikel Im Verfolg städtebaulicher Erwägungen geht es um das Ansteigen der Zahlen neuer Baupläne und dem damit einhergehenden Abriss älterer Gebäude, um Platz für neue, höhere und effizientere Bauprojekte zu machen. Als Folge werden ehemalige Mieter der alten Häuser von denjenigen verdrängt, die für die neuen Gebäude höhere Mieten aufbringen können.
- Welchen Preis zahlt der Einzelne für das stetig steigende Wachstum der Wirtschaft? Inwiefern zählt der Wert des Individuums nichts mehr, wenn es um die Globalisierung geht? Entziehen sich diejenigen, die Einfluss auf den Aspekt der sozialen Ungerechtigkeit hätten, ihrer Verantwortung?
- Am Beispiel des vorliegenden Textes wird aus der Perspektive des Erzählers geschildert, wie er die Konsequenzen der Gentrifizierung in seiner eigenen Nachbarschaft wahrnimmt: Baufällige Häuser werden dem Erdboden gleichgemacht und die Wohnsituation wird für die Anwohner immer prekärer. Gegen Ende des Textes beschreibt der Erzähler die Auswirkungen auf das nachbarschaftliche Miteinander und die Wohnsituation noch einmal ausführlicher.
Hauptteil
- Die Bewohner „rufen den Arbeitern [...] [zwar] ihren Zorn und ihre Verachtung ins Gesicht“ (Z. 18 ff.), allerdings führt dies nicht zu einem Bau-Stopp.
- Indem der personale Ich-Erzähler die äußeren Impressionen mit eigenen Assoziationen verbindet, findet eine Verknüpfung der äußeren sowie inneren Handlung statt. Die geschilderte Szene der Bauarbeiten (Vgl. Z. 15-30) stellt ein Beispiel für letztere Verknüpfung dar: Zunächst ermöglicht einem der Erzähler Einblicke in das Geschehen der Abrissarbeiten, um dann anschließend in seine eigene Reflexion zu gehen und von der beschreibenden in die reflektierende Ebene wechselt.
- Der zurückhaltende Standpunkt des Erzählers gegenüber der vorliegenden Thematik äußert sich darin, dass er zwar das Geschehen ausführlich dokumentiert, doch selbst nichts dagegen unternimmt (Z. 31 ff.). So entzieht sich der Erzähler beispielsweise auch der Verantwortung, indem er weder die Verantwortlichen für die Abrissarbeiten herausstellt noch selbst eine persönliche Position zum Thema bezieht. Obwohl sich seine Anteilnahme im Laufe der Erzählung verstärkt, greift dennoch nicht ins Handlungsschema ein.
- Auf temporaler Ebene findet das Erzählte über einen Zeitraum von „Woche[n]“ (Z. 21) statt, allerdings erhält der Leser durch die vorspulende Erzähltechnik den Eindruck, dass sich die Abrissarbeiten innerhalb eines viel kürzeren Zeitrahmens abspielen. Da es an keiner Stelle im Text zu einer spezifischen Ortsbezeichnung kommt, ist es möglich, das Symptom der Gentrifizierung auf Städte im Allgemeinen zu transferieren.
- Antithetisch ist die Gegenüberstellung von Altem und Neuem im Text hervorzuheben: Repräsentativ für Vergangenes stehen die terminologischen Beschreibungen der Bauelemente der Gebäude („Pilaster“ (Z. 4, „Atlanten“ Z. 5, „Karyatiden“ Z. 6). Ein Abriss „dieser architektonischen Größen steht auch für den Verlust kultureller Werte.
- Formale Untersuchung: hypotaktische Syntax (Parallelen zwischen arabesker Sprache und Architektur Z. 1 ff.), Personifikation (Vgl. Allee Z. 1 f.), Antithese (bspw. Gegenüberstellung von Natur und Bebauung), Hyperbel („bereits sechs oder acht Köpfe [blicken] aus jedem Fenster“ Z. 25), parataktische Syntax (Z. 22 ff.), Metapher („letzte[s]“ Z. 40 „Haus“ Z. 39 als Metapher für letzter Mensch (Sarg)), Einsatz unpersönlicher Personalpronomen („man“ Z. 42, 44) führt zur Distanzierung des Erzählers vom Geschehen, Litotes (Untertreibung: „Es findet sich ja immer noch ein Haus, [...], das ist wenigstens etwas“ Z. 39 f.), Ironie (Z. 39-45).
- Mensch weicht Maschine: Zum einen verfremdet Bobrowski die Bedeutung des Einzelnen, indem er Menschen ausschließlich im Kollektiv erwähnt und der Menschheit damit etwas Gesichtsloses verleiht. Außerdem erweckt der Erzähler durch die Personifikation der Maschinen („die Greifer [...] bewegen sich“ Z. 28) den Eindruck, dass Maschinen nun menschliche Arbeitskraft ersetzen könnten.
- Wertender Konsens des Begriffs „Geschwätz“ (Z. 45): Bei letzterem Wort handelt es sich um einen nicht-wertungsfreien Ausdruck, eine abfällige Beschreibung belanglosen Redens. Dieses Wort wird im selben Atemzug mit dem eher hochtrabenden Titel des Textes Im Verfolg städtebaulicher Erwägungen genannt. Stellvertretend für das „Geschwätz“ könnte der Mensch und repräsentativ für den eloquenten Titel der Erzählung, die profitorientierte Gesellschaft stehen. Wenn man von dieser Deutung ausgeht, siegt laut Bobrowski am Ende die Administrative über das Individuum.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Text eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Gentrifizierung und Stadtentwicklung darstellt.
- Der Erzähler dokumentiert die Abrissarbeiten und den Verlust von kulturellen Werten, ohne jedoch selbst aktiv einzugreifen oder eine klare Position zu beziehen.
- Die Verwendung verschiedener literarischer Mittel wie Antithese, Hyperbel und Ironie unterstreicht die Kontraste und Spannungen innerhalb des Textes. Insbesondere die Gegenüberstellung von Mensch und Maschine sowie von Altem und Neuem verdeutlicht die Problematik der modernen Stadtentwicklung.
- Trotz der emotionalen Distanz des Erzählers wird deutlich, dass Johannes Bobrowski den Sieg der profitorientierten Gesellschaft über das Individuum kritisch betrachtet.
- Der Text regt somit zum Nachdenken über die Auswirkungen von Gentrifizierung und Stadtentwicklung auf das individuelle Leben und die kulturelle Identität an.