Aufgabe 4 - Gedichtinterpretation
Interpretation eines Gedichtes
Thema: Ingeborg Bachmann (* 1926 - † 1973): Die Welt ist weit (1952) Aufgabenstellung:- Interpretiere Ingeborg Bachmanns Gedicht Die Welt ist weit unter besonderer Berücksichtigung des Reisemotivs.
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Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land,
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und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt,
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ich habe von allen Türmen Städte gesehen,
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die Menschen, die kommen werden und die schon gehen.
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Weit waren die Felder von Sonne und Schnee,
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zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See.
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Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem
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Ohr und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor.
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Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus,
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mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus.
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Die Fahrt ist zu Ende,
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doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen,
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jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen,
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jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt,
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in jedem Schatten zerriß mein Gewand.
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Die Fahrt ist zu Ende
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Noch bin ich mit jeder Ferne verkettet,
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doch kein Vogel hat mich über die Grenzen gerettet,
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kein Wasser, das in die Mündung zieht,
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treibt mein Gesicht, das nach unten sieht,
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treibt meinen Schlaf, der nicht wandern will …
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Ich weiß die Welt näher und still.
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Hinter der Welt wird ein Baum stehen
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mit Blättern aus Wolken
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und einer Krone aus Blau.
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In seine Rinde aus rotem Sonnenband
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schneidet der Wind unser Herz
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und kühlt es mit Tau.
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Hinter der Welt wird ein Baum stehen,
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eine Frucht in den Wipfeln,
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mit einer Schale aus Gold.
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Laß uns hinübersehen,
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wenn sie im Herbst der Zeit
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in Gottes Hände rollt!
Aus: Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte.
München Zürich: R. Piper & Co. Verlag 1982, S. 32 f.
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- Ingeborg Bachmanns Gedicht Die Welt ist weit aus dem Jahr 1952 ist ein lyrisches Werk, das sich mit den Themen Reisen, Erfahrung und Erkenntnis auseinandersetzt.
- Das Reisemotiv spielt dabei eine zentrale Rolle und dient als Metapher für die Lebensreise der lyrischen Ichs. Die Dichterin nutzt die Weite der Welt und die Vielfalt der Erfahrungen, um tiefergehende Fragen nach Identität, Heimat und Zugehörigkeit zu stellen.
Hauptteil
Formale Analyse
- fünf Strophen mit abwechselnder Versanzahl
- bis auf die erste Strophe liegt die durchschnittliche Versanzahl der darauffolgenden Strophen bei 5-7 Versen
- unregelmäßiger Paarreim, der nach der dritten Strophe nicht mehr vorhanden ist
- Korrespondenz der Strophen zwei und drei sowie vier und fünf durch Wiederholung in Form von gleichen Satzanfängen („Die Fahrt ist zu Ende“ Z.11, 16; „Hinter der Welt... “Z. 23, 29)
- weitere Stilmittel: Anaphern in Z. 13, 14 und 20, 21; Vielzahl an Personifikationen: Z. 7, 8, 14, 15, 21, 34; Alliterationen im Titel, Z. 1 und Z. 5 f., parataktische Satzreihung in Z. 11 ff. und Z. 16 ff.
- Der Erzählverlauf in Die Welt ist weit kann als linear verlaufend eingestuft werden, da die Erzählerin sich an den zeitlichen Konventionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft orientiert und keine zeitlichen Rückblenden oder Sprünge stattfinden.
Inhaltliche Analyse
- Der erzählerische Werdegang in Die Welt ist weit darf als eine Art letzte Reise verstanden werden, auf die uns lyrische Ich als Leserschaft mitnimmt. Das lyrische Ich blickt am Ende des Werks dem Jenseits als eine Art Befreiung zu.
- Es kann von einer temporalen Trias ausgegangen werden, die sich im Rückblick auf die Vergangenheit (Strophe 1), der Auseinandersetzung mit der Gegenwart (Strophe 2 & 3) sowie die Vorausschau auf die Zukunft (Strophe 4 & 5) zeigt.
- In der ersten Strophe, die sich über 10 Verse erstreckt, schwelgt das lyrische Ich in der Vergangenheit. Anfänglich werden positive Naturbeschreibung der Reiselandschaft sowie gesammelte Erfahrungen & die Darstellung der Vielfalt und Vielzahl der bisher besuchten Reiseziele wiedergegeben.
- In der Beschreibung von Menschenmassen (vgl. Z. 4) und Gebäuden (vgl. Z. 3) liegt eine Zweidimensionalität, die sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Draufsicht auf das Geschehen ermöglicht.
- Veränderung des Gemütszustandes des lyrischen Ichs in Trägheit, Lustlosigkeit, Unzufriedenheit und negatives Mindset über die Länge des Gedichts hinweg
- Menschenmengen und Gesänge vermitteln nicht länger Leben und Frohsinn, sondern Einsamkeit und Ruhe.
Reisemotiv
- Besonders eindrücklich lässt sich das Motiv des Reisens und damit auch der Bewegung anhand des stetigen Flusses im Gedicht erkennen, exemplarische Formulierungen sind „Menschen, die kommen werden und die schon gehen“ (Z. 4) oder „zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See“ (Z. 6)
- Auch die fürs Reisen typische Erfahrung mit allen Sinnen kann als Reisemotiv verstanden werden. So erfasst die Erzählerin die Momente unter anderem mit ihrem Geschmackssinn (vgl. Z. 9), Sehsinn (vgl. Z. 14) und Hörsinn (vgl. Z. 6).
- Auch die Vergänglichkeit des Seins kann als Motiv des Reisens gedeutet werden, denn jedem Zauber wohnt ein Ende inne, worüber sich auch das lyrische Ich im Klaren ist. Letzteres ist daran zu merken, dass sich die Erzählerin über das Ende der Reise (vgl. Z. 11) beschwert, ohne dass sie das Gefühl hat, etwas in ihrem Leben abgeschlossen zu haben (vgl. Z. 12).
Schluss
- Ingeborg Bachmanns Gedicht ist eine tiefgründige Reflexion über die Reise des Lebens und die Suche nach Identität und Zugehörigkeit.
- Das Reisemotiv dient als Metapher für diese Suche und die damit verbundenen Erfahrungen von Freude, Schmerz und Verlust. Trotz aller Schwierigkeiten bleibt das lyrische Ich hoffnungsvoll und blickt auf einen Ort jenseits der Welt, wo es Frieden und Erneuerung finden kann.
- Dieses Gedicht lädt uns dazu ein, über unsere eigene Lebensreise nachzudenken und die Bedeutung unserer Erfahrungen zu erkennen.