Aufgabe 1 - Werke im Kontext
Erörterung zweier literarischer Texte („Werke im Kontext“)
Thema: E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der goldne TopfHermann Hesse (* 1877 - † 1962): Der Steppenwolf
- Interpretiere die Textstelle; beziehe das für das Verständnis Wesentliche aus der vorangehenden Handlung ein.
- Erörtere in einer vergleichenden Betrachtung, ob und inwieweit Anselmus und Harry Haller von Sehnsucht bestimmt sind. Prüfe dabei die Gültigkeit folgender These Wilhelm Raabes:
„[D]es Menschen Herz kann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.“
Wilhelm Raabe (* 1831 - † 1910), deutscher Schriftsteller
Material
Der goldne Topf
E. T. A. Hoffmann
Wilhelm Raabe (* 1831 - † 1910), deutscher Schriftsteller
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Der Student Anselmus saß in sich gekehrt bei dem rudernden Schiffer, als er nun aber
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im Wasser den Widerschein der in der Luft herumsprühenden und knisternden Funken
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und Flammen erblickte; da war es ihm, als zögen die goldnen Schlänglein durch die
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Flut. Alles was er unter dem Holunderbaum Seltsames geschaut, trat wieder lebendig
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in Sinn und Gedanken, und aufs Neue ergriff ihn die unaussprechliche Sehnsucht, das
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glühende Verlangen, welches dort seine Brust in krampfhaft schmerzvollem Entzü-
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cken erschüttert. „Ach, seid ihr es denn wieder, ihr goldenen Schlänglein, singt nur,
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singt! In eurem Gesange erscheinen ja wieder die holden lieblichen dunkelblauen Au-
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gen – ach, seid ihr denn unter den Fluten!“ – So rief der Student Anselmus und machte
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dabei eine heftige Bewegung, als wolle er sich gleich aus der Gondel in die Flut stür-
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zen. „Ist der Herr des Teufels?“, rief der Schiffer, und erwischte ihn beim Rockschoß.
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Die Mädchen, welche bei ihm gesessen, schrien im Schreck auf und flüchteten auf die
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andere Seite der Gondel; der Registrator Heerbrand sagte dem Konrektor Paulmann
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etwas ins Ohr, worauf dieser mehreres antwortete, wovon der Student Anselmus aber
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nur die Worte verstand: „Dergleichen Anfälle – noch nicht bemerkt?“ – Gleich nachher
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stand auch der Konrektor Paulmann auf und setzte sich mit einer gewissen ernsten
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gravitätischen Amtsmiene zu dem Studenten Anselmus, seine Hand nehmend und
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sprechend: „Wie ist Ihnen, Herr Anselmus?“ Dem Studenten vergingen bei-
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nahe die Sinne, denn in seinem Innern erhob sich ein toller Zwiespalt, den er vergebens
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beschwichtigen wollte. Er sah nun wohl deutlich, dass das, was er für das Leuchten
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der goldenen Schlänglein gehalten, nur der Widerschein des Feuerwerks bei Antons
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Garten war; aber ein nie gekanntes Gefühl, er wusste selbst nicht, ob Wonne, ob
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Schmerz, zog krampfhaft seine Brust zusammen, und wenn der Schiffer nun so mit
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dem Ruder ins Wasser hineinschlug, dass es wie im Zorn sich emporkräuselnd plät-
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scherte und rauschte, da vernahm er in dem Getöse ein heimliches Lispeln und Flüs-
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tern: „Anselmus! Anselmus! Siehst du nicht, wie wir stets vor dir herziehen? – Schwes-
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terlein blickt dich wohl wieder an – glaube – glaube – glaube an uns.“ – Und es war
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ihm, als säh' er im Widerschein drei grünglühende Streife. Aber als er dann recht weh-
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mütig ins Wasser hineinblickte, ob nun nicht die holdseligen Augen aus der Flut he-
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rausschauen würden, da gewahrte er wohl, dass der Schein nur von den erleuchteten
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Fenstern der nahen Häuser herrührte. Schweigend saß er da und im Innern mit sich
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kämpfend; aber der Konrektor Paulmann sprach noch heftiger: „Wie ist Ihnen, Herr
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Anselmus?“ Ganz kleinmütig antwortete der Student: „Ach, lieber Herr Konrektor
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wenn Sie wüssten, was ich eben unter einem Holunderbaum bei der Linke'schen Gar-
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tenmauer ganz wachend mit offnen Augen für ganz besondere Dinge geträumt habe,
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ach, Sie würden mir es gar nicht verdenken, dass ich so gleichsam abwesend“ – „Ei,
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ei, Herr Anselmus, fiel der Konrektor Paulmann ein, ich habe Sie immer für einen
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soliden jungen Mann gehalten, aber träumen – mit hellen offenen Augen träumen, und
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dann mit einem Mal ins Wasser springen wollen; das – verzeihen Sie mir, können nur
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Wahnwitzige oder Narren!“
Aus: E. T. A. Hofmann, Der goldne Topf, SchulLV 2021, Karlsruhe, 2. Vigilie, Z. 67–110.
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Einleitung
- Im Zuge der nun folgenden Interpretation wird zunächst die vorliegende Textstelle aus Hoffmanns Werk Der goldne Topf untersucht und interpretiert.
- Anschließend wird in Form einer Erörterung miteinander verglichen, inwieweit die Protagonisten in Der goldne Topf und Steppenwolf mit dem Thema Sehnsucht konfrontiert sind.
- Die Sehnsucht nach persönlichem Glück bildet in beiden vorliegenden Werken einen großen Bestandteil der Handlung.
Hauptteil
Interpretation
- Während die Sehnsucht des Protagonisten Harry Hallers in Der Steppenwolf sich in dem Wunsch nach innerer Vervollkommnung, nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit äußert, erlebt Anselmus in Hoffmanns Werk inneres Glück, als er Serpentina zum ersten Mal begegnet.
- Die Begegnung Anselmus' und der Schlange Serpentina weckt im Protagonisten aus Der goldne Topf ein Sehnsuchtsempfinden, welches er bisher nie auf diese Weise erlebt hat. Das Aufeinandertreffen der beiden findet am Dresdener Flussufer der Elbe statt, wo ihm im Gebüsch Serpentina erscheint.
- Ab letzterem Vorfall erscheint es Anselmus, als ob ein unsichtbares Band ihn immer wieder zurück in die Welt der Schlangen ziehen würde - vielerorts erscheinen sie ihm plötzlich, und als er sich etwa dem Konrektor bezüglich seines außergewöhnlichen Vorfalls anvertraut, bringt dieser nicht das geringste Verständnis für das Sehnen des Protagonisten auf. Im Laufe der Handlung entlarven sich diejenigen, die Anselmus für sein überdurchschnittliches Fantasievermögen verurteilen, als kleingeistige Spießbürger, welche das Philistertum im Werk verkörpern.
- Anselmus findet sich im Laufe der Erzählung immer wieder im Zwiespalt der realen und fantastischen Welt, wobei insbesondere die nicht vorhandene Furcht gegenüber der Schlangen bemerkenswert ist. Die Augen der Tiere beschreibt er als „dunkelblau[...]“ (Z. 8 f.), was als ein Verweis auf die Metapher der blauen Blume gedeutet werden kann. Die blaue Blume bildet ein Symbol der Romantik und repräsentiert die unendliche Sehnsucht nach Liebe.
- Die innere Zerrissenheit des Protagonisten in Der goldne Topf zwischen den beiden Welten macht sich auch insofern bemerkbar, als er stets versucht, seine Fantasievorstellungen rational zu erklären. Daran scheitert er jedoch, da er sich der Sehnsucht nach bspw. Serpentina nicht entziehen kann.
- Die Sehnsucht nach Serpentina und ihresgleichen lässt Anselmus leichtsinnig werden: Auf dem Boot mit dem Konrektor Paulmann erweckt der Protagonist den Anschein, „als wolle er sich gleich aus der Gondel in die Flut stürzen“ (Z. 10 f.), einzig, weil er geglaubt hat, im Wasser „goldenen Schlänglein“ (Z. 7) zu erkennen.
- Die Grenzen realer und fantastischer Welt besitzen fließende Übergänge: Da wir als Leser tief in Anselmus' Gedanken und Empfindungen eintauchen, können auch wir nicht klar zwischen Wirklichkeit und Einbildung differenzieren. Dass zudem eine personale Erzählweise im Werk vorliegt, welche sich allerdings eine durchweg neutrale Position vorbehält, erschwert zusätzlich einen klaren Blick auf die Vorkommnisse.
- Die Schlangen als Symbol: Entgegen üblicher Bedeutungszuschreibung fungieren die „goldenen Schlänglein“ (Z. 7) in Der goldne Topf als Überbringer des Guten und nicht des Bösen.
Vergleich
Anselmus- Innerer Zwiespalt: Sowohl Serpentina, die in Anselmus ein „glühende[s] Verlangen“ (Z. 6) hervorruft als auch Veronika ist der Protagonist verfallen. Doch von romantischer Liebe kann man nicht sprechen, wenn man berücksichtigt, dass Anselmus aufgrund der scheinbar ausweglosen Lage innerlich aufgewühlt ist.
- Dass etwa Veronika seine Liebe zu manipulieren versucht, indem sie Magie hinzuzieht, widerspricht ebenfalls der Vorstellung glücklicher und wahrer Liebe.
- Hinzukommt außerdem, dass die Gemeinsamkeiten der beiden Damen dazu führen, dass der Protagonist im alkoholisierten Geisteszustand zunehmend nicht mehr zwischen Serpentina und Veronika zu unterscheiden vermag.
- Die Macht Serpentinas und Atlantis': Mit der Schlange assoziiert Anselmus eine neue, aufregende und ihm bisher unbekannte Welt, in welcher er sein Potenzial als Dichter und Künstler frei entfalten könnte - die Aussicht auf den Aspekt der Selbstentwicklung lässt die Anziehung zu Serpentina über die Verbindung zu Veronika dominieren.
- Trotz der starken Sehnsucht nach der sagenumwobenen und voller Fantasien und Versprechungen gefüllten Welt Serpentinas fällt es dem Protagonisten nicht leicht, sich final für Serpentina zu entscheiden. Grund dafür ist, dass sich ihm die Versuchungen der rationalen Welt immer wieder in den Weg stellen und er sich bspw. von Veronika von seinem eigentlichen Wunsch, in Atlantis als Dichter zu leben, ablenken lässt.
- Letzten Endes schafft es Anselmus, zu Serpentina und damit nach Atlantis zu gelangen, um dort seiner wahren Berufung als Dichter nachzugehen, doch bis er dort angelangt, werden ihm zahlreiche Steine in Gestalt von Ablenkungen und Verführungen in den Weg gelegt.
- Auch wenn wir bisher davon ausgegangen sind, dass es sich beim Protagonisten in Der goldne Topf um einen sehr fantasievollen und dennoch zurechnungsfähigen jungen Mann handelt, ist es ebenso denkbar, dass Anselmus aufgrund mentaler Krankheit meint, Schlangen würden zu ihm sprechen. In diesem Fall würde der Protagonist, wie es auch in der 10. Vigilie kurz erwähnt wird, nicht mehr Herr seiner Sinne sein und seine Einbildungen ein überaus bedenkliches Ausmaß annehmen.
- Beim deutlich älteren Harry, der zurückgezogen lebt, nimmt das Thema Sehnsucht eine mindestens ebenso existenzielle Bedeutung im Leben ein. Ihn quält der innere Konflikt seiner Persönlichkeit, die zum einen aus dem Streben nach Normalität und angepasstem Bürgertum besteht. Andererseits wiederum empfindet Haller auch ein unstillbares Verlangen nach Selbsterfüllung und sehnt sich danach, den gesellschaftlichen Normen zu entsagen.
- Raabes Zitat über die glückliche Sehnsucht nach Liebe grenzt sich klar von der Todessehnsucht Harry Hallers ab. Die Härte, mit welcher sich der Protagonist in Der Steppenwolf begegnet, lässt er auch an der Welt aus, die ihm zuwider ist. Anstatt sich aus seinem miserablen Zustand zu winden, scheint es so, als würde sich Haller in seinem vereinsamten und misanthrophen Zustand weiden.
- Das einzige Licht ins Dunkel vermag die Musik zu vollbringen, doch gleichzeitig ruft sie in Harry auch Gefühl der tiefen Traurigkeit hervor, da er sich durch ihre Melancholie an die scheinbare Ausweglosigkeit seines eigenen Schicksals erinnert fühlt.
- Was Harry Haller an Sinnhaftigkeit und Ich-Stärke fehlt, vermag seine Bekannte und gleichzeitig sein Alter Ego Hermine in ihm hervorzurufen beziehungsweise wach zu kitzeln. Die Freundin des Protagonisten führt ihn schrittweise wieder an die Freuden des Lebens heran, indem sie mit ihm tanzt, lacht und ihn ihren Freunden vorstellt.
- Auch in Hallers Leben treten Komponenten der Fantasiewelt auf: Als Hermine ihn etwa ins Magische Theater mitnimmt, (S. 181) erlebt Harry dort bewusstseinserweiternde Erfahrungen, die ihn zeitweilig innerlich entspannen lassen, doch welche ebenso schnell wieder zuneige gehen. Harry empfindet es als ständigen Kampf, zwischen seinen verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen und Bedürfnissen hin- und hergerissen zu sein und ein enormes Schamgefühl überschattet neue aufregende Erlebnisse und die Entdeckung neuer Charaktereigenschaften.
Fazit
- Unterschiedliche Formen der Sehnsucht: Die Schlange Serpentina ruft in Anselmus eine „unaussprechliche Sehnsucht“ (Z. 5) hervor, welche eher körperlicher und leidenschaftlicher Art ist. Dahingegen äußert sich die Sehnsucht des Protagonisten Harry Hallers vielmehr im Wunsch nach Selbstständigkeit und der Freiheit, sein Leben nach eigenem Ermessen leben und entsprechend auch beenden zu können.
- Je nach dem individuellen Ausgangszustand einer Person zeigt sich sehnsüchtiges Verhalten auf eine andere Art und Weise. Der Verliebte sehnt sich nach dem Partner, der Eingesperrte sehnt sich nach Freiheit und der Kranke nach Genesung etc.. Doch eines haben alle Sehnsüchte gemein: Es handelt sich um den Wunsch nach etwas, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) nicht eingetroffen ist.
- Inwieweit ist es also möglich, dass ein Gefühl, welches erst im Wunsch nach etwas nicht-Vorhandenem entsteht, nach Raabe des „Menschen Herz [...] am glücklichsten“ macht? Und kann daraus geschlossen werden, dass die Protagonisten der beiden Lektüren im Empfinden der Sehnsucht Glück empfinden?
- Gemein haben die beiden Protagonisten, dass bei beiden die Empfindungen von Freude und Schmerz sehr nah beieinander liegen. Im Falle von Anselmus äußert sich dies in der Überforderung, sich zwischen Serpentina und Veronika entscheiden zu müssen, im Falle Hallers liegt die Krux in den verzweifelten und immer wieder scheiternden Versuchen der Selbstkonfrontation begraben.