Aufgabe 5 - Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes
Materialgestütztes Schreiben eines argumentierenden Textes (Kommentar)
Thema: Macht durch Sprache Aufgabenstellung:- Im Rahmen eines Projektes beschäftigt sich dein Deutsch-Kurs mit dem Thema „Macht durch Sprache“. Die Ergebnisse sollen in einem Themenheft dargestellt und der Schülerschaft der Oberstufe zugänglich gemacht werden.
- Verfasse für dieses Themenheft einen Kommentar, in dem du dich mit der Frage auseinandersetzt: „Politische Rhetorik – nur Mittel zur Manipulation?“
- Nutze dazu die folgenden Materialien (M 1–M 5) und beziehe unterrichtliches Wissen und eigene Erfahrungen ein.
- Formuliere eine geeignete Überschrift.
- Verweise auf die Materialien erfolgen unter Angabe des Namens der Autorin bzw. des Autors und ggf. des Titels.
- Dein Kommentar sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
Aus: Politik & Unterricht 2013, Heft 1, S. 11. Politik und Unterricht; letzter Zugriff am 13.02.2021. Material 2 Rhetorik: Die unsichtbare Unterkonstruktion jedes Textes (2020)
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Die Rhetorik ist in der Antike entstanden. Damals tüftelte man erstmals an einem In-
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strumentarium für das Erstellen und Ausführen erfolgreicher Reden. Das Modell war
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das Gericht. Wie begründet man eine Anklage? Und wie eine Verteidigung? Es fiel auf,
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wie wichtig der Umgang mit Argumenten war: sowohl im Sinne ihrer Erfindung und
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Anordnung als auch in der sprachlichen Ausgestaltung mit gewissen Glanzpunkten,
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zum Beispiel mit kühnen Metaphern. Dies wurde rasch auf die Politik übertragen. Man
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wusste: Wie vor Gericht setzt sich die Wahrheit oder das Richtige nicht von selbst
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durch. Die Probleme sind oft zu verwickelt, die Zuhörer leicht ablenkbar oder haben
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vorgefasste Meinungen. Da gilt es, Aufmerksamkeit für das Thema zu erzielen, Emo-
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tionen zu wecken, die die eigene These annehmbar machen. Die Griechen und nach
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ihnen die Römer haben dafür einen entsprechenden Unterricht organisiert und das
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Wichtigste in Lehrbüchern (Rhetoriken) zusammengetragen.
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Seit der Antike ist das Interesse an Rhetorik und rhetorischer Rede in Europa nie mehr
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erlahmt, auch wenn sich die Umstände änderten. [...]
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Die Erben der rhetorisch geprägten Schriftkultur sind die Kommentatoren und Essay-
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isten in den Medien. Man lernt hier immer noch, wie man Argumente sachlich und
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sprachlich am besten vertritt, um Aufmerksamkeit und Zustimmung zu erzielen. Viel ist
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dabei von den alten „Tricks“ vorhanden, die in den Rhetoriken seit der Antike vermittelt
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worden sind. Eines sollte man bei alldem jedoch im Auge behalten: Ein rhetorisch guter
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Text muss noch lange kein „richtiger“ Text sein. Die argumentative und stilistische
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Kunstfertigkeit ist sozusagen wahrheitsneutral. Man kann durchaus Rhetoriker für ihr
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rhetorisches Talent bewundern, auch wenn sie das Gegenteil der eigenen Meinung
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vertreten. Es gibt sogar gute Rhetorik in Verbindung mit Verbrechen – wie bei den
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Nationalsozialisten. [...]
Aus: ZEIT für die Schule: Die Rhetorik und die Medien; letzter Zugriff am 27.12.2020. Material 3 Einfach Überzeugen (2016) Andreas Sentker
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[...] Hier kommt alles zusammen, was eine historische Rede ausmacht: die Glaub-
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würdigkeit des Redners, die Tragkraft seiner Argumente und die Gefühle, die er beim
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Publikum hervorzurufen vermag. Die drei Säulen der Rhetorik – Ethos, Logos und Pa-
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thos – beschreibt schon der griechische Philosoph Aristoteles im allerersten Lehrbuch
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der Rhetorik. Für ihn ist die Rhetorik die Kunst der Überzeugung, nicht der Überredung.
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Und daher ist das Argument das entscheidende rhetorische Mittel.
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Aber Aristoteles weiß auch um die Macht der Gefühle und rät dem Redner, „nicht nur
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darauf zu sehen, dass die Rede beweisend und überzeugend sei“, sondern auch dafür
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zu sorgen, „sich selbst und den Beurteiler in eine bestimmte Verfassung zu versetzen.“
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Dreihundert Jahre später im politischen Machtzentrum Roms setzt der erfahrene Poli-
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tiker und Rhetoriker Marcus Tullius Cicero deutlich unverblümter auf das Pathos:
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„Nichts ist in der Beredsamkeit wichtiger, als dass der Zuhörer dem Redner geneigt
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sei und selbst so erschüttert werde, dass er sich mehr durch einen Drang des Gemütes
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und durch Leidenschaft als durch Urteil und Überlegung leiten lasse.“
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Die antike Rhetoriklehre, sie wirkt bis heute fort: Ihre Regeln sind aktuell, ihre Rezepte
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nach wie vor alltagstauglich. Die Natur des Menschen hat sich in den Jahrtausenden
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offenbar nicht geändert. Dass sich gerade die politische Redekultur der Vereinigten
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Staaten so offensichtlich aus dem Fundus der antiken Lehrmeister bedient, hat histo-
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rische Gründe. Die Rhetorik wurzelt in der Demokratie. Nur ein mündiges Publikum
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kann und muss vom Redner überzeugt werden. Und die Amerikaner haben eine deut-
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lich längere demokratische Tradition als etwa die Deutschen. Schon vor 200 Jahren
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durfte dort der freie Bürger das Wort ergreifen, während der deutsche Untertan
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schwieg und gehorchte. [...]
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In Europa hingegen war das Ansehen der Rhetorik durch die NS-Zeit endgültig be-
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schädigt, nachdem sie schon im 18. Jahrhundert an Bedeutung verloren hatte. Die
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Nazis hatten sie zur Propaganda missbraucht, mit den Mitteln der Rede war nicht das
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Gute, sondern das Böse durchgesetzt worden. Das erschütterte das Ansehen des
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Faches im Fundament. Schon im alten Griechenland hatte die Rhetorik ihrer Ambiva-
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lenz halber prominente Gegner gehabt. So kritisierte der Philosoph Platon die macht-
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bewusste Rhetorik als Schmeichelei und warnte vor der Gefahr durch Demagogie.
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Sein rhetorischer Gegenentwurf setzt auf die Erkenntnis der Wahrheit, seine Kritik ist
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vor allem eine an der unzureichenden Moral manchen Redners.
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Zur Rhetorik gehört von Beginn an die Angst vor ihrer Janusköpfigkeit. Der erfahrene
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und selbstbewusste Redner Otto von Bismarck weist jede Nähe zur Rhetorik von sich:
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„Ich bin Minister, Diplomat und Staatsmann und würde mich für gekränkt halten, wenn
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man mich einen Redner nennte.“ Ablehnung der Rhetorik auch beim Philosophen Im-
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manuel Kant: Er hält sie für eine „hinterlistige Kunst“. Johann Wolfgang von Goethe
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schimpft über „verdammte Rednerkünste, die alles bemänteln, über alles hinweg-
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gleiten wollen, ohne das Rechte und Wahre auszusprechen“. Seinen Faust lässt er aus-
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rufen: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.“ Dabei er-
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zieht die Rhetorik bis weit ins 18. Jahrhundert die europäischen Eliten zum guten Re-
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den – und gehört bei der Gründung erster Universitäten zum Kerngeschäft der Akade-.
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miker [...]
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In Deutschland hatte die nationalsozialistische Propaganda alle Rhetorik diskreditiert.
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Hitler und Goebbels haben mit ihren sprachlich primitiven, aber bis ins Detail inszenierten
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Brüllreden jeden Einsatz rhetorischer Mittel für die Zukunft unmöglich gemacht.
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Als Schulstoff bleiben allenfalls die rhetorischen Figuren übrig [...]. Im Übrigen ist die
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Rhetorik in Deutschland ein Synonym für Manipulation, Überredung, Entfesselung und
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Verführung der Massen.
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Walter Jens tritt 1967 in Tübingen an, die Rhetorik vom Fluch zu befreien. Ihm und
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seinen Nachfolgern gelingt es nach und nach tatsächlich, das Instrumentarium der
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Rhetorik zu reinigen und zu schärfen. „Seelenführung im Horizonte der Vernunft“ nennt
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Jens seine rhetorische Praxis. Und der heutige Lehrstuhlinhaber Dietmar Till weiß, wa-
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rum die antiken Rhetoriklehren bis heute nichts von ihrem Reiz eingebüßt haben: „Nie
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zuvor und vermutlich später nie wieder hat man so intensiv über die Kunst der Rede
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nachgedacht wie damals.“
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Dem Propagandaverdacht begegnet Till offen. Mit seinen Studenten erarbeitet er in
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der Vorlesung regelmäßig eine Tabelle: Was will Propaganda? Was die Rhetorik?
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Schnell füllen sich die Spalten: Propaganda strebt nach Totalität, möchte Meinung do-
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minieren. Sie stellt Mediensysteme in ihren Dienst. Sie geht emotional vor. Die Rheto-
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rik hingegen stellt das Argument in den Mittelpunkt. Aber die Studenten sehen auch:
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Zwischen den Tabellen liegt ein Graubereich. „Hier spielt sich der größte Teil unserer
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alltäglichen Kommunikation ab“, sagt Till, „irgendwo zwischen Überredung und Über-
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zeugung.“ [...]
Anmerkungen zum Autor:
Andreas Sentker (* 1964) ist Wissenschaftsjournalist, seit 1995 bei der Wochenzeitung DIE ZEIT.
Dort leitet er seit 1998 das Ressort Wissen. Aus: Sentker, Andreas: ZEIT ONLINE, Rhetorik. Einfach überzeugen. In: Die Zeit Nr. 20/2016 (04. 05. 2016);
letzter Zugriff am 07.09.2020. Material 4 Ars est artem celare - Die Lüge als rhetorische Kunst betrachten (2014) Gert Ueding
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[... D]ie Rhetorik hat es mit Meinungen zu tun, nicht mit Wissen, das ist schon in der
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Definition enthalten, [...] in der Aristoteles hervorhob, dass nämlich von rhetorischem
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Belang „nur solche Dinge [sind], welche sich allem Anschein nach auf zweierlei Weise
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verhalten können“. Ohne dass er es nach Philosophenweise ausdrücklich hervorhebt,
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vernehmen wir im Hintergrund Protagoras, der das nicht anders gesehen und kaum
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anders formuliert hatte, dass sich nämlich die Rhetorik mit Themen beschäftige, über
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die man mit gleichem Rechte nach beiden Seiten (also in einander entgegengesetztem
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Sinne) disputieren könne. [...]
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Dazu ist freilich eine Voraussetzung nötig, über die schon in der Antike viel diskutiert
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wurde. Meinung und Gegenmeinung (um den Pluralismus der Meinungen modellhaft
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zu vereinfachen) müssen sich nämlich in einem Verhältnis zueinander befinden, der
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das Konkurrieren überhaupt fruchtbar macht und einen Fortschritt in der Lösung eines,
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sagen wir juristischen oder politischen Problems bringt. Sie müssen sich, um es mit
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einer uns geläufigen Metapher zu sagen, auf Augenhöhe begegnen, und das ist
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oftmals nicht von vornherein gegeben. So befindet sich nicht nur der Redner im Nach-
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teil, der eine sehr viel schwächere Meinung vertritt als sein Gegner, weil er z. B. die
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herrschende Gesetzesauslegung gegen sich hat oder der im Publikum herrschenden
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Meinung entgegentreten muss. Auch die Problemlösung selber gerät in Gefahr, nicht
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zum optimalen Ergebnis zu finden. Protagoras, der darüber nachgedacht hatte, ver-
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langte daher vom Redner eine eigene Kunstfertigkeit, nämlich „die schwächere Sache
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zur stärkeren“ machen zu können. [...]
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Dass in der Rhetorik-Geschichte bis heute das monologische Verständnis von Rede
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als Gegenstand der Theorie und Unterweisung vorherrschen sollte, hat seine Gründe
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auch in der politischen Geschichte Europas. Öffentliche Rede verwirklichte sich in der
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Predigt, im Herrscherlob oder in der Kriegsrede, drei Gattungen, die keinen beraten-
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den, sondern apodiktischen, auch propagandistischen Charakter haben: in ihnen
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konnte jede Lüge unwidersprochen bleiben, sie produzierte nichts als sich selber. Das
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Gespräch blieb dem lehrhaften, akademischen Dialog vorbehalten, der zwar für die
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Tradierung des Konzepts und seiner Techniken sorgte, aber praktisch folgenlos blei-
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ben musste.
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Womit ich zum Abschluss noch auf ein historisch besonders radikales Exempel mono-
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logischer Rhetorik-Theorie und -Praxis hinweisen möchte [...]. Ich meine die national-
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sozialistische Rhetorik, lange vorbereitet durch Rhetoriker wie Carl Schmitt,
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Ewald Geissler oder Maximilian Weller, die die Rhetorik total auf das Orator-Prinzip grün-
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deten. „Das Endziel aber, dem der Redner über alle Widerstände hinweg zudrängt, ist:
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dass die Hörer so werden, wie er sie haben will. So denken, so fühlen, so wollen, so
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handeln.“ Derart werden „die Hörer der Stoff des Redners“, er selber zum „Kampf-
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redner“. Das alles sind Maximen Geisslers. [...] Erfolgreichster Schüler solcher Lehren
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war Adolf Hitler, in Mein Kampf kann man ihre Spuren zum Teil wörtlich nachlesen.
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Ich zitiere ein Beispiel: „Die Macht aber, die die großen historischen Lawinen religiöser
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und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gespro-
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chenen Worts.“ Vom Eingehen auf den Zuhörer, der Vertrautheit mit ihm, spricht auch
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Hitler, doch ist kein Dialog damit gemeint. Die andere Meinung kennen bedeutet allein,
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den Schlachtplan eines Gegners kennen, den es zu schlagen gilt, mit Hitlers Worten:
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„Ich habe [...] gelernt, [...] dem Feinde die Waffe seiner Entgegnung gleich selber aus
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der Hand zu schlagen.“ Die wenigen Belege mögen genügen, um die nationalsozialis-
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tische Rhetorik als den Exzess einer auf dem Orator-Prinzip fußenden Rede-Theorie
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zu decouvrieren. [...]
Anmerkungen zum Autor:
Gert Ueding (* 1942) ist ein deutscher Germanist und Literaturkritiker. Von 1988 bis zu seiner Pensionierung
2009 war er als Nachfolger von Walter Jens an der Universität Tübingen Inhaber des damals einzigen Lehrstuhls
für Rhetorik in Deutschland. Aus: Ueding, Gert „Ars est artem celare – Die Lüge als rhetorische Kunst betrachtet.“ In: Cahiers d’Études
Germaniques [En ligne], 67. (2014); letzter Zugriff am 12.11.2021. Material 5 Über demokratische Beredsamkeit oder: Politik muß für Wahrheiten Worte finden (1989) Walter Jens
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Blood, toil, tears and sweat, Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß: mehr habe er der Re-
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gierung, dem Parlament und dem Volk nicht zu bieten, erklärte Winston Churchill am
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Pfingstmontag, dem 13. Mai 1940, unmittelbar nach seiner Ernennung zum Premier-
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minister im Unterhaus und stellte damit, formelprägend, jene beiden Hauptcharakteristika
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eines demokratischen Politikers unter Beweis, deren Namen Wahrheitsliebe
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und Prägnanz, Ehrlichkeit und sentenziöse Bannkraft sind. Während der Diktator in
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Berlin seinem Volk in hochtrabender, klischeebestimmter Rede ein goldenes Zeitalter
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versprach und noch in den finstersten Stunden die aufgehende Sonne beschwor,
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sprach Churchill von Elend, Bitternis und Not ... und dies in einer Sentenz, deren
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Struktur verrät, wie lange der Redner an ihr gearbeitet hatte: vier einsilbige Wörter, die
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beiden Binnenbegriffe durch den Stabreim verbunden, toils and tears, die Außenglie-
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der in einer scheinbar simplen, in Wahrheit von Raffinement und Kalkül bestimmten
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Technik aufeinander bezogen. Blood and sweat, derart zusammengefügt, daß hinter
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den Nomina das Verbum to sweat blood hindurchschien: Blut und Wasser schwitzen,
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sich abrackern bis zur Erschöpfung. Pathos verbindet sich mit Prägnanz; die Formel
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bringt die Wahrheit durch das Stakkato jener blitzartig erhellenden Zuordnungen auf
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den Begriff, die Eleganz und Überzeugungskraft klassischer Parlamentsberedsamkeit
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definiert.
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Wahrheitsliebe, gepaart mit Spiritualität: So nimmt sich das Ideal jener demokratischen
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Beredsamkeit aus, wie sie, mit der ihm eigenen pathetischen Kargheit, Winston
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Churchill und, in ganz anderer Weise, Franklin Delano Roosevelt praktizierten –
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Roosevelt, der am Tag der Invasion, statt der Diktatoren eigenen martialischen Rheto-
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rik, ein Gebet sprach, in dessen Zentrum die Überlegung stand, mit welchen Opfern
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der bevorstehende Kampf gegen das Deutschland Hitlers verknüpft sei. Viele, so
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Roosevelt, würden nicht mehr nach Hause zurückkehren, am Ende des Krieges – Gott
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möge ihnen gnädig sein. Mochte der eine, Churchill, das Parlament zu (übrigens ge-
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nau und kühl vorausberechneten) Ovationen hinreißen und der andere, Roosevelt, im
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You-and-I-Plauderstil der Kaminansprachen den Mann auf der Straße zu überzeugen
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suchen: Beide, so fremd sie einander am Ende gegenüberstanden, hatten eins ge-
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meinsam – die Überzeugung, daß die drei Worte Demokratie, Wahrhaftigkeit und Re-
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dekunst zusammengehörten.
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Während Diktatoren die Wahrheit schminken und Beredsamkeit durch eine Agitation
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ersetzen, die, statt Argumente vorzutragen, auf die Macht, die Pistole, die Garrotte
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verweist, zeigt demokratische Beredsamkeit die Ambivalenz der Probleme, verdeut-
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licht das Dunkel, das neben dem Licht ist, und verweist auf die Kosten der Siege: Viele
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werden sterben, und in unzähligen Familien wird geweint werden, am Tag, da die
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Kirchenglocken zum Siegesfest läuten. [...]
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Die Wahrheit also – und zwar ungeschminkt – zu benennen, ist erste Pflicht der parla-
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mentarischen Redner. Die zweite Aufgabe aber heißt: Für die Wahrheit Worte zu fin-
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den, klare Benennungen, präzise, aber gleichwohl phantasiebestimmte Formeln, indi-
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viduelle Antworten, eigenständige Sentenzen, witzige Allegorien, geistreiche Aphoris-
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men, Maximen, Lyrismen, Sentenzen ... was immer: wenn nur endlich Schluß mit je-
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nem basic German ist, dem lumpigen Verschnitt, der dazu herhalten muß, die Provo-
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kationen von seiten der Außenwelt zu nivellieren.
Anmerkungen zum Autor:
Walter Jens (1923–2013) war Professor für klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik an der Universität
Tübingen und dort Inhaber des ersten Lehrstuhls für Rhetorik, der in Deutschland seit 1829 eingerichtet wurde. Aus: Jens, Walter: Über demokratische Beredsamkeit oder: Politik muß für Wahrheiten Worte finden.
In: Die aufgeklärte Republik. Eine kritische Bilanz. Hg. im Auftrag der Theodor-Heuss-Stiftung von
Hildegard Hamm-Brücher und Norbert Schreiber. München: Bertelsmann Verlag 1989, S. 123–127.