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Aufgabe 1 - Literarische Texterörterung

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
David G. Richards (* 1935): Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung (1975)
Georg Büchner (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37)
Aufgabenstellung:
  • Stelle David G. Richards’ Interpretationsansatz dar. (ca. 30 %)
  • Erörtere Richards’ Interpretationsansatz im Hinblick auf die Frage, ob das Dramenfragment Woyzeck zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse aufruft. (ca. 70 %)
Material
Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung
David G. Richards
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Der Hauptmann ist ein geistloser Vertreter der von der Kirche gelehrten konven-
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tionellen Moral, und der Doktor ist durch sein monomanes Interesse an der me-
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dizinischen Wissenschaft vollkommen entmenschlicht. Als Verkörperungen von
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Ideen und Verhaltensweisen stellen sie die Art von leblosen, mechanischen Pup-
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pen dar, die Büchner charakteristisch für die idealistische Kunst hält; als „ideali-
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sierte Natur“ stehen sie den Fleisch-und-Blut-Naturen gegenüber, die Büchners
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Kunst verlangt.
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Insofern sie Woyzeck degradieren, mißbrauchen und verletzen, dienen sie auch
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als Träger sozialer Kritik. Interpretationen, die diesen Aspekt der sozialkritischen
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Problematik hervorheben, übertreiben nicht nur das, was von relativ geringer und
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oberflächlicher Bedeutung ist, sondern werden auch dem tieferen und weit revo-
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lutionäreren Gehalt des Stücks nicht gerecht. Die Analyse der aufeinanderfolgen-
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den Stufen in der Entwicklung des Dramas zeigt, daß Büchner es absichtlich
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vermied, einen melodramatischen Konflikt zwischen den guten Menschen und
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den bösen Vertretern einer schlechten Gesellschaft zu schaffen. In der letzten
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Handschrift wird Woyzeck von diesen Figuren keineswegs übermäßig bedroht
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oder verletzt: Der Hauptmann fügt ihm überhaupt keinen Schaden zu, und es
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bleibt unklar, welche Wirkung die Experimente des Doktors auf ihn haben. Anstatt
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uns mit Grauen und Haß zu erfüllen, kommen sie uns eher grotesk und lächerlich
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vor. Sie fungieren nicht als Bedrücker, sondern als die Mittel, durch welche die
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Beschränktheit, Unzulänglichkeit und Starrheit der christlichen Moral und die Ge-
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fühlslosigkeit der experimentellen Wissenschaft parodiert und verspottet wird.
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[...]
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Der Doktor zeigt sogar noch größere Kaltblütigkeit und Erbarmungslosigkeit dem
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Hauptmann gegenüber als im Verkehr mit Woyzeck. Was Woyzecks Situation
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von der des Hauptmanns unterscheidet, ist die Verantwortlichkeit, die er für den
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Unterhalt seiner kleinen Familie auf sich genommen hat, denn dadurch wird er
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gezwungen, alle sich ihm bietenden Verdienstmöglichkeiten anzunehmen, selbst
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so gefährliche wie die, sich als Versuchstier verwenden zu lassen.
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Die in dieser Situation immanente Kritik richtet sich nicht gegen ein Individuum
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oder eine bestimmte soziale Schicht, sondern gegen die Struktur einer Gesell-
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schaft, in der ein Mann wie Woyzeck eine kleine Familie nicht unterhalten kann,
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ohne sich Tag und Nacht mit erschöpfender und oft entwürdigender Arbeit abzu-
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arbeiten. Die Botschaft des „Hessischen Landboten“ kehrt hier in dramatischer
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Form wieder. Die Gesetze und Einrichtungen des Staates werden von den Rei-
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chen für die Reichen entworfen, um Ordnung aufrechtzuerhalten. Für die Armen
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bedeutet die bestehende Ordnung nur Hunger und Überarbeitung. Die Schluß-
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folgerung, die aus der Situation Woyzecks gezogen werden muß, entspricht der
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der politischen Flugschrift: Die Gesetze und Einrichtungen des Staates müssen
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geändert werden, so daß die Armen größeren Nutzen aus ihrer eigenen Arbeit
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gewinnen und ein menschenwürdiges Leben führen können.

Anmerkung zum Autor:
David G. Richards (* 1935) ist ein amerikanischer Literaturwissenschaftler.
Aus: Richards, David G.: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung. Bonn: Bouvier-Verlag, 1975, S. 53-57.

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