Aufgabe 4 - Gedichtvergleich
Vergleichende Interpretation zweier Gedichte
Thema: Ludwig Tieck (* 1773 - † 1853): Nacht (1796) Rose Ausländer (* 1901 - † 1988): Fremde (1967) Aufgabenstellung:- Interpretiere und vergleiche die beiden Gedichte.
1
Im Windsgeräusch, in stiller Nacht
2
Geht dort ein Wandersmann,
3
Er seufzt und weint und schleicht so sacht,
4
Und ruft die Sterne an:
5
Mein Busen pocht, mein Herz ist schwer,
6
In stiller Einsamkeit,
7
Mir unbekannt, wohin, woher,
8
Durchwandl’ ich Freud’ und Leid;
9
Ihr kleinen goldnen Sterne,
10
Ihr bleibt mir ewig ferne,
11
Ferne, ferne,
12
Und ach! ich vertraut’ euch so gerne.
13
Da klingt es plötzlich um ihn her,
14
Und heller wird die Nacht.
15
Schon fühlt er nicht sein Herz so schwer,
16
Er dünkt sich neu erwacht:
17
Oh Mensch, du bist uns fern und nah,
18
Doch einsam bist du nicht,
19
Vertrau’ uns nur, dein Auge sah
20
Oft unser stilles Licht:
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Wir kleinen goldnen Sterne
22
Sind dir nicht ewig ferne;
23
Gerne, gerne,
24
Gedenken ja deiner die Sterne.
Tieck, Ludwig: Gedichte. Hrsg. v. Ruprecht Wimmer, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1995, S. 25. Fremde Rose Ausländer
1
Unser Schiff
2
ohne Fahne
3
gehört keinem Land
4
kommt nicht an
5
Wasserbürger
6
wir reisen
7
in den Tag
8
in die Nacht
9
spähn Land
10
am Horizont
11
Wellenland
12
unsere Fata Morgana
13
Manchmal
14
träumen wir
15
ein Schiff fährt
16
in entgegengesetzte
17
Richtung
18
erwachen
19
allein
20
mit dem
21
Wind
Anmerkungen zur Autorin:
Rose Ausländer: geboren 1901 in Czernowitz; von 1941 bis 1944 im jüdischen Ghetto von Czernowitz; in den zwanziger Jahren und von 1946 bis 1964 in den USA; gestorben 1988 in Düsseldorf. Aus: Ausländer, Rose: Gedichte. Hrsg. v. Helmut Braun. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2001, S. 160 f.
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- Im Folgenden sollen die beiden Gedichte Nacht aus dem Jahr 1776, geschrieben von Ludwig Tieck, sowie Fremde, aus der Feder der Autorin Rose Ausländer stammend und im Jahr 1967 veröffentlicht, zunächst jeweils formal und inhaltlich interpretiert werden.
- In einem zweiten Schritt sollen die beiden Gedichte im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen werden.
Hauptteil
Nacht (Ludwig Tieck)
Formale Analyse- Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit jeweils vier Versen.
- Die aneinandergereihten Sätze in V. 3-4 verdeutlichen den monotonen und körperlich erschöpften Zustand des Wandersmanns.
- Als Reimschema sind unregelmäßig wechselnde Paar- sowie Kreuzreime vorzufinden.
- Die Interjektion „ach!“ (V. 12) verstärkt das Gefühl von Erleichterung in der ausweglos erscheinenden Situation des Wanderers.
- Die verwendeten Synästhesien (z. B. „Da klingt es plötzlich um ihn her, Und heller wird die Nacht. Schon fühlt er nicht sein Herz so schwer“, V. 13 ff.) stehen für die Wahrnehmungen des Wanderers, in denen die Sinnesbereiche regelrecht miteinander verschmelzen. Sie kontrastieren den Wendepunkt und emotionalen Umschwung im Gedicht.
- Der absurde und mystische Zusammenhang zwischen dem Wanderer und den Sternen am Himmel wird unter anderem durch Paradoxe (z. B. „du bist uns fern und nah“, V. 17) verdeutlicht.
- Die zahlreichen Personifikationen im Gedicht („Oh Mensch, du bist uns fern und nah Doch einsam bist du nicht, Vertrau’ uns nur, dein Auge sah Oft unser stilles Licht: Wir kleinen goldnen Sterne“, V. 17ff.) sorgen für die Vermenschlichung und Lebendigkeit der Sterne und verstärken somit das Gefühl einer zwischenmenschlichen Beziehung zwischen dem Lyrischen Ich und den Sternen, die hier zu ihm sprechen.
- Das Gedicht beginnt mit der gegenwärtigen Situation eines Wandersmanns, der „in stiller Nacht“ (V. 1), seufzend und weinend durch eine Landschaft schleicht (vgl. V. 3). Den Wandersmann plagen Orientierungslosigkeit, Resignation („Mir unbekannt, wohin, woher“, V. 7), Traurigkeit („seufzt und weint“, V. 3) und „Einsamkeit“ (V. 6).
- Dabei fällt auf, dass die Außenperspektive (aus der Er-Sicht) in die Perspektive des Wandermanns und somit des Lyrischen Ichs wechselt. („Mein Busen pocht, mein Herz ist schwer“, V. 5) Ab diesem Zeitpunkt hat der Leser unmittelbaren Zugang zur Gefühls- und Gedankenwelt des Lyrischen Ichs.
- Die Fremde und Unerreichbarkeit, die er gegenüber den Sternen am Himmel zunächst verspürt („Ihr bleibt mir ewig ferne“, V. 10), wandeln sich einen Vers später in Hoffnung und Vertrauen („Und ach! ich vertraut’ euch so gerne“, V. 12). Die Verbform „vertraut“ (V. 12) weist nicht ausschließlich auf eine gegenwärtige, sondern zusätzlich auf eine bereits vorhandene Vertrautheit zu den Sternen hin. An dieser Stelle wird die Ambivalenz der Distanz zu den Sternen kontrastiert. Die Sterne scheinen für den Wandersmann sowohl fern als auch nah zu sein.
- Die darauffolgende Veränderung seines Gemütszustandes wird durch ein plötzliches Klingeln initiiert (vgl. V. 13). Infolgedessen erhellt die Nacht und seine Traurigkeit lässt nach (vgl. V. 14f.). Das Klingeln steht im Gegensatz zu der zuvor dargestellten Stille.
- In seiner Wahrnehmung sprechen die Sterne zum Wanderer, schenken ihm neues Vertrauen und verdeutlichen dadurch eine (transzendente) Beziehung zum Menschen.
- Die Sterne stehen exemplarisch für die Natur, die einen besonderen Ort für den Menschen darstellt und sich durch Wärme, Vertrauen und Heimatgefühl auszeichnet. Das Gedicht macht deutlich, dass man auf die Signale der Natur (Klingeln, Licht etc.) hören soll und sich auf die Natur als ständiger Begleiter verlassen kann. Der Wanderer findet durch das erfahrene Vertrauen zur Natur (zu den Sternen) auch wieder Vertrauen zu sich selbst.
- Das Gedicht lässt sowohl zeitliche (1776) als auch inhaltliche Bezüge zur Epoche der Romantik zu. Thematisch wird beschrieben, wie ein Wanderer Heilsamkeit und Geborgenheit in der Natur findet. Diese Hinwendung zur Natur und die gleichzeitige Abkehr von der oft bedrohlichen und fluiden Welt ist typisch für die Romantik. Mit der Flucht in die Natur geht, wie in dem vorliegenden Gedicht von Tieck deutlich gezeigt wird, ein starker Bezug auf das Individuum und ein Rückzug in die eigene psychische Innenwelt einher. Im übertragenen Sinne lässt sich von einer Reise zu sich selbst sprechen. Die Nacht wird erhellt zum einen ganz wortwörtlich, aber auch im metaphorischen Sinne: Durch die Hinwendung zum eigenen Ich gelangt der zuvor hoffnungslose Wanderer zur Erkenntnis in Form von neuem Vertrauen zur Natur und zu sich selbst.
Fremde (Rose Ausländer)
Formale Analyse- Das Gedicht Fremde umfasst fünf Strophen. Vier davon bestehen aus vier, eine aus fünf Versen. Dabei fällt insbesondere das weitgehend frei gehaltene Vers- und Reimschema, die knappe Sprache (u. a. durch fehlende Konjunktionen und Adjektive) und fehlende Interpunktion auf. Diese formalen Besonderheiten korrespondieren mit der Orientierungslosigkeit auf der inhaltlichen Ebene des Gedichts.
- „Wasserbürger“ (V. 5) und „Wellenland“ (V. 11) stehen jeweils sowohl als Oxymoron als auch Neologismus in einzelnen Verszeilen, wodurch der Fokus stark auf die beiden Komposita fällt. Diese verdeutlichen die Heimatlosigkeit, den hoffnungslosen und unbestimmt langen Zustand auf dem weiten Meer, in dem die Menschengruppe verharren muss.
- Die durchgängig verwendeten starken Enjambements brechen die syntaktischen Einheiten des Gedichts völlig auf und verstärken seinen fortlaufenden und fließenden Charakter, welcher wiederum zur Wassermetaphorik und ewigen Gleichmäßigkeit im Gedicht passt.
- Der vermeintliche Höhepunkt und inhaltliche Umschwung des Gedichts wird durch die Hoffnung auf Rettung evoziert. Formal erkennbar ist dies an der im gesamten Gedicht einzigen fünf- statt vierzeiligen Strophe (Strophe 4).
- Die Anapher „in den Tag in die Nacht“ (V. 7f.) verdeutlicht die monotone und ziellose Schiffsreise auf dem Meer und damit auch die aussichtslose Misere der Passagiere.
- Die zahlreich verwendeten Antithesen (z. B. „Tag“ und „Nacht“, V. 7f.; „Land“, V. 3 und „Wasserbürger“, V. 5 bzw. „Wellenland“, V. 11) ziehen sich durch das gesamte Gedicht und verdeutlichen den Gegensatz von unübersichtlichem, endlosen Meer und geborgener, sicherer Heimat auf dem Land.
- Das Gedicht kontrastiert die Themen Heimatlosigkeit und Fremdheit, wie bereits der Titel vermuten lässt.
- Es tritt eine Menschengruppe auf, die als heimatloses „wir“ bezeichnet wird und sich auf einem ziellos fahrenden Schiff („gehört keinem Land kommt nicht an“, V. 3f.) auf dem weiten Ozean befindet. Die Beschreibung als sogenannte „Wasserbürger“ (V. 5) schließt einen festen und heimatlichen Wohnsitz sowie die Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr aus.
- Weder bei Tag noch bei Nacht sehen sie Land (vgl. V. 7). Stattdessen baut sich eine „Fata Morgana“ (V. 12) vor ihnen auf. Diese Illusion am Horizont gibt ihnen nicht das Gefühl von Heimat und Zuversicht, nach dem sie sich sehnen. In ihrer ständigen Verzweiflung und Einsamkeit träumen sie auch davon, dass ihnen ein Schiff entgegenkommt, welches sie rettet und zurückbringt. Doch mit dem darauffolgenden Erwachen wird ihnen klar, dass sie weiterhin alleine sind und einzig und allein der Wind ihr ständiger Begleiter ist (vgl. 19).
- Das Gedicht lässt offensichtliche politische Verbindungen zu, da es die Themen Einsamkeit und Heimatlosigkeit mit der Exilerfahrung und dem daraus resultierenden Verlust der eigenen Heimat verbindet. Doch auch das Ankommen in einer neuen, fremden Heimat stellt eine große Herausforderung für die Menschen als „Fremde“ dar, die sich gezwungenermaßen von ihrer Heimat entfremden mussten und nicht mehr zurückkehren können. Auch Rose Ausländers eigene Erfahrungen zu den Themen Flucht und Emigration prägen die Grundstimmung und den Inhalt des Gedichts.
- Aufgrund dieses inhaltlichen Schwerpunkts lässt sich ein starker Bezug zur Exilliteratur ausmachen. Typischerweise weist auch Fremde eine einfache und prägnante Sprache auf und konstatiert die Themen Heimatlosigkeit und Emigration.
Vergleich beider Gedichte
- Das Hauptmotiv beider Gedicht ist das Motiv des Reisens. Beide Reisen verfolgen kein festes Ziel, sind eher negativ besetzt und verweisen im tieferen Sinn auf existenzielle Gefühle und Fragen der Reisenden. Außerdem verbindet die Gedichte ihr jeweils offenes Ende und die damit bestehende Unklarheit über den Ausgang der Reise.
- Die Fata Morgana ist im Gegensatz zu den Sternen am Himmel im ersten Gedicht negativ konnotiert. Das Lyrische Ich erfährt durch die Sterne, die ihm neues Vertrauen schenken, Hoffnung und Zuversicht. Diese Hoffnung auf Geborgenheit und das Gefühl von Heimat erfährt die Menschengruppe auf dem Schiff in Fremde nicht und so können sie sich diesen Zustand ausschließlich erträumen. Der träumerische und hoffnungsvolle Blick zu den Sternen nach oben unterschiedet sich von einem pragmatisch, leeren Blick auf ein fehlendes Ufer.
- Die Gedichte vereinen das Gefühl und Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Orientierung und Geborgenheit. Sie thematisieren ein Lyrisches Ich bzw. Wir, das auf der Reise ist. Im Gegensatz zur Menschengruppe auf dem Schiff, ist das Lyrische Ich alleine in der Natur unterwegs. Die Gruppe von Reisenden verbindet die gemeinsame Sehnsucht nach einer Heimat. Trotz der Zugehörigkeit in der Form eines „Wir-Gefühls“, fühlt sich das Lyrische Wir „allein“ (V. 19). Dies lässt einen vermuten, dass das Zugehörigkeitsgefühl doch nicht so stark ist, wie man zunächst denkt. Dazu kommt, dass die Gruppe auf dem Schiff, anders als das Lyrische Ich bei Tieck, trotz der unendlichen Weite des Meeres auf dem Schiff gefangen ist.
- Die Einsamkeit spielt auch in Nacht eine wichtige Rolle. Die Sterne am Himmel geben dem Wanderer zwar das Gefühl von einer Art zwischenmenschlichen Beziehung und erfüllen sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, doch noch zu Beginn des Gedichts leidet das Lyrische Ich unter Einsamkeit.
- Der Wind als eine Art akustischer Begleiter taucht in beiden Werken auf.
Schluss
- Beiden Autoren gelingt es, die Befindlichkeiten und Herausforderungen des jeweiligen reisenden lyrischen Ichs bzw. Wir darzustellen.
- In Rose Ausländers Gedicht Fremde findet der Leser vermehrt politische Konnotationen, die einen starken Unterschied zu Tiecks Gedicht Nacht darstellen. Statt dem hoffnungslosen und tröstenden Charakter, der in Tiecks Gedicht mit menschlichen, existenziellen Sinn- und Lebensfragen konnotiert ist, wird der Leser in Fremde mit einem aussichtslosen Dilemma und einer schwindenden Hoffnung konfrontiert.
- Beiden Gedichten gemein ist die stark appellative Wirkung auf ihre Rezipienten. Sie helfen im Umkehrschluss dabei, eigene Denk- und Handlungsweisen zu reflektieren und im besten Fall solidarischer zu werden sowie den eigenen Blick über den Tellerrand hinaus zu verschärfen. Emigration und Zuwanderung lösen häufig stark emotional aufgeladene Debatten aus. Überall auf der Welt befinden sich Menschen auf der Flucht, verlassen freiwillig oder unfreiwillig aus persönlichen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen ihr Heimatland und sind mit Sehnsucht, Heimatlosigkeit und Zukunftsängsten konfrontiert.