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Aufgabe 1 - Literarische Texterörterung

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Michael Jaeger (* 1961): Margarete, vorübergehend (2008)
Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust. Der Tragödie erster Teil
Aufgabenstellung:
  • Stelle Michael Jaegers Interpretationsansatz dar. (30 %)
  • Erörtere den Interpretationsansatz von Michael Jaeger in Bezug auf die „Gretchentragödie“ in Johann Wolfgang Goethes Drama Faust. Der Tragödie Erster Teil. Beziehe dabei im Unterricht erworbenes Wissen zum Dramentext ein. (70 %)
Material
Margarete, vorübergehend
Michael Jaeger
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Die vom Hexentrank ausgelöste materialistische Bewußtseinsrevolution wirkt so-
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fort: Kaum hat Faust die Hexenküche verlassen, steht er unter der unumschränk-
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ten Herrschaft seiner Triebphantasie und erkennt in der nächstbesten Passantin –
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„Margarete vorüber gehend“ – das, was er in ihr erkennen will, sein Wunschbild
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also und nicht etwa das, was die andere ihm gegenübertretende Person in ihrer
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eigenen Lebensrealität in Wahrheit an und für sich selbst ist. Er greift nach ihr als dem
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Objekt seiner Begierde und verlangt umgehende Trieberfüllung. Faust zu Mephisto:
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„Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!“ (V. 2618) Weil nun einmal Margarete in einer
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Faust fremd gewordenen, religiösen Kultur lebt, in der der Sexus nicht frei
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verfügbar ist, droht die Aussicht auf Triebstau oder gar Triebverzicht, eine für den
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Getriebenen schreckliche Perspektive, die nun wiederum Mephisto zum Zwecke
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der Triebsteigerung raffiniert zu instrumentalisieren versteht. „Keine Gewalt“, so
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teilt er bedauernd mit, habe er über das „unschuldig Ding / Das eben für nichts
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zur Beichte ging“ (V. 2625 f.), und als solches dem ungeduldigen,
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schlechterdings profanen Zugriff Fausts entzogen zu sein scheint.
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Dessen Verlangen, so Mephistos Kalkül, wird freilich ob solcher Tabuisierung von
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Margaretes Körper erst recht an gefacht und pocht nun, ohne Rücksicht auf den
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drohenden Verlust der Wette, auf die Erfüllung des Kontraktes. Faust zu
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Mephisto: „Und das sag’ ich Ihm kurz und gut: / Wenn nicht das süße junge Blut /
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Heut’ nacht in meinen Armen ruht, / So sind wir um Mitternacht geschieden.“
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(V. 2635 ff.)
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Wenn man in der Fausttragödie jenen brachialen Einbruch des modernen Materi-
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alismus des Kapitals in die alte – womöglich antiquierte – Welt beobachten will,
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der die menschlichen Beziehungen reduziert auf die Verhältnisse des Waren-
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tauschs, dann könnte man auch die bewußtseinsverwandelnde Unruhe ins Auge
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fassen, die in Margaretes Zimmer von dem mephistophelischen Schmuckkasten
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ausgeht und die später, gesteigert durch den „Zauberfluß“ von Fausts Rede,
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durch seinen „Händedruck“ und „Kuß“ (V. 3398 ff.), Margaretes Sinn „zerstückt“
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und ihren Kopf – horribile dictu, so wird man wohl im Blick auf ihr schauerliches
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Ende sagen müssen – „verrückt“ (V. 3382 ff.). […]
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Gleichsam als Giftinjektion der Begierde von Mephisto konspirativ eingeführt in die
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schlichte Stube, provoziert die Schatzkiste als Zirkulationsmotor par excellence,
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wie dezent auch immer in Margaretes Fall, den „eitlen“ Gedanken, ihren Körper
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als Ware einzutauschen gegen die Aussicht auf Reichtum und sozialen Aufstieg,
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ein unter diesen Verhältnissen von vornherein vollkommen hoffnungsloses Unter-
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fangen, das in der Pauperisierung endet. Gewissermaßen in Gebetsform memoriert
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Margarete das Gesetz der Verdinglichung, dem sie sich bei ihrem Ausbruchs-
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versuch zu beugen hat: „Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles. Ach
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wir Armen!“ (V. 2802 ff.) […]

Aus: Michael Jaeger: Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes.
Berlin 2008, S. 34–36.
Primärliteratur: Johann Wolfgang v. Goethe: Faust I, SchulLV 2022, Karlsruhe.

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