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Aufgabe 6 - Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes (Schwerpunkt: Erörterung)

Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes
Schwerpunkt: Erörterung

Thema:
Roberto Simanowski: Kommunikationsutopien
Aufgabenstellung:
  • Stell den Argumentationsgang und die Intention des Textes dar. (30 %)
  • Erörtere Simanowskis Position zu den Folgen audiovisueller Kommunikation für Sprache und menschliches Selbstverständnis. (70 %)
Material
Kommunikationsutopien
Roberto Simanowski
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[…]
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Verstummtes Kommunizieren
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Das beschreibungslose Bezeugen des Erlebten verkündete Zuckerberg bereits auf
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Facebooks Entwicklerkonferenz 2011 unter dem Schlagwort „frictionless sharing“.
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Konkret heißt dies, dass zum Beispiel der Song, den man auf Spotify hört, und der
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Film, den man auf Netflix sieht, automatisch den Facebook-Freunden angezeigt wird,
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wenn man die Funktion dafür aktiviert hat. Man muss die Nachricht nicht begründen und
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auch nicht mehr formulieren. Man beschreibt seine Aktivitäten nicht mehr nach träglich
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und bedeutungsvoll wie einst im Brief und Tagebuch als früheren Formen der
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Selbstdarstellung: „Habe heute ein Buch gelesen, das mich aus folgendem Grund sehr
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beschäftigt…“. Inzwischen teilen sich die Aktivitäten selbst mit. Die neue Losung heißt
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nicht etwa „I share therefore I am“, sondern „Es postet, also bin ich“ und hat, weil
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dem Vorgang das bewusste Zutun fehlt, nicht mehr viel mit Descartes
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Selbsterkenntnisformel zu tun.

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Das Verstummen beginnt allerdings schon, wenn man noch selbst den Auslöser drückt,
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wie bei all den Fotos, mit denen wir spontan und reflexartig unsere Erlebnisse ans
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Netzwerk melden. Seit Snapchat die Fotos nach dem Ansehen löscht, sagt man
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noch weniger, was man tut oder wie man sich fühlt, und schickt umso mehr Schnapp-
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schüsse: Ich im Gym, ich nach dem Training, ich im Restaurant, ich vor dem
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Fernseher … Eifrige Snapchatter wissen am Abend zwar kaum noch, was alles sie
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auf diese Weise während des Tages kommuniziert haben, aber das ist auch egal.
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Genau darum geht es.

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Man kann die Visualisierung der Kommunikation als technische Antwort des 21. Jahr-
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hunderts auf die Krise der Repräsentation im 20. Jahrhundert verstehen: Die Unzu-
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verlässigkeit der Sprache wird mit nichtverbalen Mitteln kuriert. Ein Bild sagt nicht nur
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mehr als tausend Worte, man muss vor allem kein einziges mehr finden. Die Dinge
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teilen sich selbst mit, wenn sie fotografiert oder automatisch registriert werden. Des wegen
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nannte Siegfried Kracauer die Fotografie 1927 „das Vabanque-Spiel der Geschichte“: Zum
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einen befreit die Selbstanzeige der Dinge von menschlicher Verzerrung, zum anderen
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macht die mechanische Reproduktion der Realität deren bewusste
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Erfassung überflüssig. In dieser Rolle der Fotografie als „Streikmittel gegen die Er-
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kenntnis“ sah Kracauer das historische Risiko.

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Automatische Autografie

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90 Jahre später erhöht sich der Einsatz durch die Selbstanzeige nicht nur der Dinge,
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sondern auch des Menschen an dessen Bewusstsein vorbei: Auf Facebook und in
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anderen sozialen Netzwerken ‚beschreiben‘ wir unser Leben, indem wir es leben, und
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produzieren so eine Autobiografie, die nie durch unser Hirn ging. Zugleich registrieren
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die Algorithmen aber sehr genau, was geschieht. Zuckerbergs Angestellte tüfteln der
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zeit, inspiriert durch Microsofts captionbot, an AI-Technologien, die alle Gegenstände
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auf einem Bild erkennen und als Information verarbeiten können. Damit sind nicht nur
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Zeit und Ort des Fotos klar, sondern auch, was im Restaurant auf dem Teller lag und
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welcher Film im Fernseher lief. Die zugehörigen Daten zu Nährwert und kulturellem
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Kapital holt sich der Algorithmus leicht aus dem Internet – und weiß so durch das,
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was wir übermitteln, schließlich mehr über uns als wir selbst.

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In dieser Wissensschere liegt das Problem. Während wir den Algorithmen immer mehr
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Daten liefern, verarbeiten wir selbst immer weniger davon. Je mehr das Sagen, Be-
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nennen, Beschreiben durch das automatische Registrieren und audiovisuelle Kopieren
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verdrängt wird, umso weniger müssen wir uns reflektierend mit der Welt und unserer Rolle
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in ihr auseinandersetzen. Sprache ist das Medium, mit dem man Distanz zur Welt einnimmt,
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um sie klarer zu sehen und zu verstehen. Jeder Versuch, über Sprache hinauszugehen,
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riskiert zugleich den Verlust an Erkenntnis.

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Aus diesem Grund ist der BBC-Slogan „We don’t just report a story, we live it“ recht
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problematisch – und mehr noch, dass Zuckerberg sich genau so die Zukunft des Jour-
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nalismus vorstellt: „mehr immersiver Inhalt wie VR“ mehr „rich content“ statt „just
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text and photos“. „Wir betreten das goldene Zeitalter der Videos“, sagt Zuckerberg
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im Frühjahr 2016 und ist sicher, dass in fünf Jahren das meiste, was Menschen täglich
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auf Facebook mitteilen, Videos aus ihrem Alltagsleben sein werden. […] Wir lassen
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die Objekte sprechen, damit die Leere, die unser Verstummen hinterlässt, gefüllt ist;
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je detaillierter umso besser.

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Die Kommunikationsutopie des Mark Zuckerberg zielt auf die Anwendung dieses
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Modells auf den Menschen selbst: die Selbstanzeige des Subjekts vorbei am eigenen
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Bewusstsein. Wie Zuckerberg zum konstatierten Video-Trend betont, es handelt sich nicht
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um inhaltlich und ästhetisch bearbeitete Filme, sondern um das begehrte „Rohmaterial“ des
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sozialen Lebens. Das paradoxe Resultat ist eine automatische Autobiographie, die wir
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‚schreiben‘, indem wir leben; eine posthumane, algorithmische Autobiografie. [...]

Aus: Roberto Simanowski: Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien. Berlin: Matthes und Seitz 2017, S. 158–163.

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