Thema 3
Erörterung eines literarischen Textes
Thema: Kurt May (* 1829 - † 1959): Büchners „Woyzeck“ (1957, Auszug) Georg Büchner (* 1813 - † 1837): Woyzeck (1836/37) Aufgabenstellung:- Stelle den Interpretationsansatz von Kurt May dar. (ca. 30 %)
- Erörtere, ob bzw. inwiefern der Interpretationsansatz von Kurt May auf die Figur Woyzeck zutrifft. (ca. 70 %)
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Sein [Woyzecks] Schicksal ist mehr als ein Auflösungsvorgang unter dem wach-
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senden Druck seiner unseligen sozialen Lebensbedingungen, als würde er nur
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eben zerquetscht unter den Rädern einer riesigen Maschine oder wie ein Insekt
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eingefangen in einem großen Netz, darin er sich dann zu Tode zappelt. So etwas
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ist im naturalistischen Drama mehrmals auf der Szene gebildet worden. Eine
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entseelende Wirkung der gesellschaftlichen Organisation, d. h. Desorganisation
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müßte den Woyzeck zu einem tierisch dumpfen, seelisch verwahrlosten, unter-
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menschlichen Wesen verkümmert zeigen. Hätte er vielleicht noch im Anfang
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menschliches Gesicht und Gewicht, so müßte er diese im Fortgang verlieren in
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einem Prozeß zunehmender Verwahrlosung und Verwilderung. In einem klägli-
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chen Ende müßte sich eine entsetzliche Gleichheit der Menschennatur reprä-
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sentieren. Die Gestalt des einzelnen in seiner Dürftigkeit ginge am Ende unter in
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der Masse Mensch.
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Aber dieser Franz Woyzeck stellt sich als ein ganz anderer dar: als ein kleiner
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Mann mit einem starken Herzen; und nur darum ist er in der Dichtung lebendig
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geworden und in unserem Herzen lebendig geblieben und gewinnt bei jeder
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neuen Begegnung an Größe. Wohl verfällt er dem tragischen Nexus der Fatalität
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im Zusammenstoß von Innen und Außen, aber er begründet durch sein Schicksal
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im Ansatz die Möglichkeit zu einer Überwindung von innen her. Im Woyzeck wird
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Menschenwert vernichtet, aber so, daß der Menschenwert heller aufleuchtet im
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Prozeß der Vernichtung. Woyzeck hat die Würde eines großen Leidenden. Er
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repräsentiert ein stellvertretendes Leiden für die unzähligen seinesgleichen aller-
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orts und zu allen Zeiten zusammen mit dem Schicksal eines leidenden Menschen
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eines bestimmten Zeitalters unter geschichtlich bestimmten sozialen Lebensbe-
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dingungen. Das macht seine besondere und allgemein-menschlich dramatische
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Bedeutsamkeit aus und prädestiniert ihn zum tragischen Helden von einem be-
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sonderen, freilich ungewöhnlichen Typus. Gerade seine Armut verherrlicht den
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Reichtum seines großen und reinen Gefühls. In der Welt um ihn her herrscht die
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vollkommene Lieblosigkeit; ihm ist zubestimmt, die Macht und die Fülle eines lie-
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benden Herzens in der schlichtesten, der unscheinbarsten Hülle dagegen zu ver-
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körpern. Vor ihm, in der Folie zu ihm als dem echt menschlichen, im Kern we-
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sentlichen Menschen erscheinen die anderen, die Vertreter der herrschenden
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bürgerlichen Welt als bloße Marionetten oder Gespenster von Menschlichkeit.
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Der letzte nach dem Schein unter ihnen ist in Wahrheit der erste nach dem Wert.
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Die Gebrechlichkeit dieser Welt kommt in seinem Zusammenbrechen zum Vor-
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schein. Er ist das Maß, an dem jene gemessen und verworfen werden muß, dies-
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er arme Schlucker ohne Bildung und ohne Moral.
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In der Verzweiflung ist er zum Mörder gemacht worden. Der weitaus größere Teil
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seiner Schuld aber fällt zurück auf jene Welt, und was ihm davon verbleibt, wird von
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ihm mit seinem Leben gesühnt. Die letzte, skizzenhafte Szene sollte das
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Gericht über ihn verkünden, aber in dieser wäre der Tote unsichtbar als Richter
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über seine Welt gegenwärtig gewesen. Woyzeck mit seinem Leben und Sterben
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bis hinein in die Augenblicke seiner letzten Verirrung und Verwirrung bezeugt,
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daß es in dieser verrotteten, lieblos gewordenen Welt noch Menschen gibt, daß
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es die Kraft der Liebe noch gibt, die den Menschen bis zum äußersten bringt, bis
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zur Vernichtung des Liebsten und seiner selbst. Damit aber ist der Aspekt des
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gräßlichen Fatalismus als allherrschend in der Geschichte aufgehoben, und
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zwar in der tragischen Geschichte eines gequälten, großen Herzens. [...]
Anmerkungen zum Autor:
Kurt May (* 1892 - † 1959) war Germanist und Literaturwissenschaftler. Aus: May, Kurt: Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. 2. Auflage. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1963, S. 270 f.
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Teilaufgabe 1
Einleitung
- Georg Büchners Drama Woyzeck aus dem Jahr 1836 beleuchtet die gesellschaftlichen und individuellen Abgründe der Zeit des Vormärz. Es zeigt eindrücklich, wie diese Verhältnisse zu psychischer Belastung und Zerrüttung führen können.
- Im Zentrum der Handlung steht die Titelfigur Franz Woyzeck, ein Soldat, der mit seiner Frau Marie und dem gemeinsamen Kind unter prekären Bedingungen lebt. Woyzeck ist Teil einer Gesellschaft, die ihn auf vielfältige Weise unterdrückt und ausbeutet.
- Im Folgenden soll der Interpretationsansatz von Kurt May in Bezug auf die Titelfigur Woyzeck dargestellt werden.
Hauptteil
- Kurt May stellt die Figur des Woyzeck in Georg Büchners Drama nicht einfach als Opfer seiner sozialen Umstände dar, sondern als eine vielschichtige Persönlichkeit mit innerer Stärke und menschlicher Größe. Er lehnt die naturalistische Sichtweise ab, die Woyzeck lediglich als entmenschlichtes Opfer der Gesellschaftsordnung darstellt (Vgl. Z. 1-13). Er vergleicht diese Sichtweise mit der Darstellung im naturalistischen Drama, in dem eine entseelende Wirkung der gesellschaftlichen Organisation den Menschen in einen verwahrlosten Zustand versetzt (Vgl. Z. 5-8).
- Stattdessen beschreibt May Woyzeck als einen „tragischen Helden“ (Z. 26), der trotz seiner äußeren Bedrängnisse menschliche Würde und Liebe bewahrt (Vgl. Z. 14-21). May betont Woyzecks innere Stärke und sein starkes Herz, was ihn lebendig macht und ihn in den Herzen der Zuschauer wachsen lässt. Woyzecks Schicksal ist demnach mehr als die bloße Folge seiner unseligen sozialen Lebensbedingungen.
- May argumentiert, dass Woyzeck durch sein Leiden und seinen Niedergang die Möglichkeit einer inneren Überwindung der äußeren Umstände aufzeigt. Woyzecks Schicksal repräsentiert dabei nicht nur das individuelle Leid, sondern steht stellvertretend für die Leiden aller Menschen unter prekären sozialen Bedingungen, sowohl in der spezifischen historischen Situation als auch im allgemeinen menschlichen Kontext (Vgl. Z. 21-27).
- Woyzecks Liebe und Fürsorge in einer sonst lieblosen Welt stellt einen Kontrast zur entmenschlichten bürgerlichen Gesellschaft dar. Diese Gesellschaft wird von May als marionettenhaft (Vgl. Z. 33) und oberflächlich beschrieben, während Woyzeck durch seine Echtheit und menschliche Wärme hervorsticht. Seine Armut und sein einfaches Leben verherrlichen laut May den Reichtum seines großen und reinen Gefühls (Vgl. Z. 27-37).
- Woyzecks Leben und Sterben, selbst in seinen letzten Momenten der Verirrung bezeugen, dass es in einer lieblosen Welt noch Menschen mit Gefühl und die Kraft der Liebe gibt. Auch Woyzecks Mord an Marie wird von May in einem größeren Zusammenhang gesehen. Er sieht die Schuld für die Tat nicht nur bei Woyzeck selbst, sondern verweist auf die Verantwortung der sozialen Ordnung (Z. 38-40).
- Der Protagonist wird somit in einem möglichen Gerichtsszenario als unsichtbarer Richter über diese unmenschliche Welt und als Beispiel radikaler Liebe gesehen (Vgl. Z. 40-46). May schlussfolgert, dass durch Woyzecks Geschichte der „gräßliche Fatalismus [...] der tragischen Geschichte“ (Z. 47) aufgehoben wird, da Woyzeck als von der Liebe angetriebenes, jedoch frei handelndes Individuum dargestellt wird.
Fazit
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass May den Protagonisten Woyzeck nicht als passives Opfer, sondern als einen innerlich starken, leidenden Helden beschreibt.
- Laut dem Autor bewahrt Woyzeck trotz äußerer Bedrängnis und sozialer Ungerechtigkeit seine menschlichen Werte und verkörpert die Möglichkeit einer inneren Überwindung, was ihn zu einem positiven Gegenpol zur bürgerlichen Gesellschaft macht.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck ist ein Werk, das die gesellschaftlichen und psychischen Nöte eines einfachen Soldaten in einer zutiefst ungerechten Welt schildert.
- Kurt May bietet eine Interpretation dieser komplexen Figur, dessen innere Größe und Menschenwürde auch inmitten seiner sozialen und persönlichen Zerfallsprozesse bestehen bleibt.
- Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich der Interpretationsansatz von Kurt May auf die Figur Woyzeck in Büchners Drama anwenden lässt.
Hauptteil
Zustimmende Argumente- Individuelle Würde: Mays Interpretation betont, dass Woyzeck trotz seiner fatalen Lebensumstände und des gesellschaftlichen Drucks eine innere Größe und Würde bewahrt. Der Naturalismus neigt dazu, Figuren als vollständig durch ihre Umwelt determiniert darzustellen, was die Möglichkeit individueller Würde und innerer Größe minimiert. Woyzeck jedoch zeigt eine tiefe Menschlichkeit, die über seine äußeren Bedingungen hinausgeht.
- Woyzecks Liebe und Hingabe: Woyzecks Handeln ist von aufopferungsvoller Fürsorge geprägt. Er arbeitet unermüdlich, um seine Familie zu versorgen (z. B. „Das ist wieder Geld, Marie, die Löhnung und was von mei'm Hauptmann“, 4. Szene). Dies zeigt seine Liebe und Hingabe trotz widriger Umstände.
- Selbst nach dem Mord an Marie zeigt Woyzeck weiterhin liebevolle Fürsorge für seinen Sohn (Vgl. Szene 27). Dies deutet darauf hin, dass seine Fähigkeit zu lieben trotz seiner Verzweiflung und den extremen äußeren Umständen intakt bleibt.
- Existenzielle Dimension: Woyzecks Kampf und sein letztliches Scheitern können auch als existenzielle Auseinandersetzung mit den grundlegenden Bedingungen des Menschseins gesehen werden. Seine Figur reflektiert die Tragik des menschlichen Daseins in einer feindlichen Welt, was seine Bedeutung als tragischen Helden verstärkt.
- Woyzecks tiefe Verzweiflung und der Schmerz über Maries Untreue zeigen, dass seine Tat nicht nur aus sozialem Druck, sondern auch aus persönlichem Leid resultiert. Auch das belegt Mays These, dass Woyzecks Leiden eine stellvertretende Bedeutung für die menschliche Tragödie besitzt.
- Woyzecks Selbstopferung: Woyzeck gibt seinen Körper für medizinische Experimente her (Vgl. Szene 8 und 10), was seine Bereitschaft zur Selbstaufopferung unterstreicht. Diese Tat kann als Ausdruck seiner inneren Stärke und seines Durchhaltevermögens interpretiert werden. Die herablassende Behandlung Woyzecks durch den Hauptmann und den Doktor betont den Kontrast zwischen seiner inneren Menschlichkeit und der Lieblosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Vom Hauptmann wird Woyzeck verspottet und vom Doktor für medizinische Experimente benutzt. Diese Szenen illustrieren die „Marionetten“ (Z. 33) der bürgerlichen Welt, wie May sie beschreibt.
- Woyzecks Handlungsversuch: Der geplante Mord an Marie (Vgl. Messerkauf, Szene 16) könnte als Versuch gesehen werden, Handlungsmacht zurückzuerlangen und sich gegen den Fatalismus seiner Lage zu wehren. Dies spricht für Mays Deutung, dass Woyzeck sich dem Determinismus entgegenstellt.
- Sozialer Determinismus: Eine naturalistische Interpretation könnte hervorheben, dass Büchners Hauptanliegen die Kritik an den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen seiner Zeit war. Mays Interpretation, die sich stark auf Woyzecks innere Werte konzentriert, könnte diese soziale Kritik verwässern oder in den Hintergrund rücken.
- Woyzecks psychischer Zerfall und seine zunehmende Verwirrung können auch als Indizien dafür gewertet werden, dass er letztlich doch Opfer seiner sozialen Umstände und äußeren Einflüssen wird. Seine Handlungen könnten als direkte Konsequenz der Armut, gesellschaftlichen Unterdrückung und fehlenden sozialen Unterstützung gesehen werden, was ihn zu einem typischen Beispiel eines durch die Gesellschaft deformierten Individuums macht.
- Eingeschränkte Handlungsfreiheit: Trotz seiner Liebe und Fürsorge agiert Woyzeck oft getrieben und ohne klare Handlungsfreiheit. Sein Verhalten ist stark durch die äußeren Bedingungen und seine psychische Verfassung beeinflusst, was die Idee der vollständigen Überwindung dieser Umstände infrage stellt.
- Folgen von Woyzecks Liebe: Obwohl Woyzeck Liebe zeigt, führt diese letztlich zur Zerstörung. Seine Tat kann auch als Ausdruck einer verzweifelten, zerstörerischen Liebe interpretiert werden, die ihn und Marie ins Verderben führt. Dies würde die Tragik und den Fatalismus seines Schicksals unterstreichen, anstatt sie zu überwinden.
- Fehlende positive Entwicklung: Woyzecks Charakter zeigt keine signifikante positive Entwicklung oder Überwindung seiner Umstände. Sein Schicksal endet tragisch, ohne dass eine wirkliche Lösung oder ein positiver Ausgang erkennbar ist. Dies könnte gegen Mays These sprechen, dass Woyzecks menschlicher Wert im Prozess der Vernichtung hell aufleuchtet.
- Einseitige Darstellung: Mays Interpretation könnte als einseitig angesehen werden, da sie sich stark auf die innere Größe und die moralische Erhabenheit von Woyzeck konzentriert, während sie die destruktiven Aspekte seines Charakters und die Auswirkungen seiner Taten weniger beachtet. Eine umfassendere Betrachtung könnte sowohl die inneren Qualitäten als auch die tragischen Fehler von Woyzeck berücksichtigen.
Schluss
- Der Interpretationsansatz von Kurt May, in dem er Woyzeck als liebendes Individuum und atypischen tragischen Helden sieht, der mehr als nur ein Opfer seiner sozialen Umstände ist, findet in Büchners Drama durchaus stichhaltige Belege.
- Allerdings gibt es auch Aspekte, die eine deterministischere Sichtweise nahelegen, wie Woyzecks psychischer Zerfall und die zerstörerische Konsequenz seiner Liebe. Insgesamt zeigt sich Woyzeck als komplexe Figur, deren menschliche Größe und Tragik in einem spannungsvollen Verhältnis zu ihren sozialen Umständen steht.