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Thema 2

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Christoph Ransmayr (* 1954): Sternenpflücker (2012)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Text Sternenpflücker von Christoph Ransmayr. Geh dabei insbesondere auf die erzählerische Gestaltung des Textes ein.
  • „Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt.“ Setze die Ergebnisse deiner Textinterpretation in Beziehung zu dieser Aussage von Christoph Ransmayr.
Der Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf der Interpretation.
Material
Sternenpflücker
Christoph Ransmayr
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Ich sah einen gestürzten Kellner auf dem Parkplatz eines Straßencafés in der kalifornischen
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Küstenstadt San Diego. Der Mann hatte ein mit Getränken beladenes Tablett eben noch
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scheinbar mühelos über seiner Schulter balanciert und war dann über ein Kabel gestolpert,
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das eine Autobatterie mit einem Teleskop verband. Nun lag er in den Scherben von Gläsern,
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Flaschen und Tassen, die er jenen Gästen hatte servieren wollen, die von der Theke ins Freie
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gelaufen waren oder schon seit Stunden zwischen geparkten Autos auf mitgebrachten
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Klappstühlen saßen und durch ihre Ferngläser, Teleskope und mit bloßem Auge zum
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Abendhimmel emporblickten, an dem die ersten Sterne glitzerten.
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Obwohl seine Hose an einem Knie zerrissen war und aufgedruckte Klatschmohnblüten an
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seinem Hemd an Blutflecken denken ließen, schien der Mann unverletzt. Stumm, ohne Klage,
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aber auch ohne jeden Fluch, richtete er sich auf, zog das große, kreisrunde Messingtablett,
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das bei seinem Sturz unter ein geparktes Kabriolett geklirrt war, wieder unter dem Wagen
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hervor und begann auf allen vieren, die von Kaffee, Wein, Fruchtsäften und bloßem Wasser
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tropfenden Scherben aufzusammeln und auf das Tablett zu häufen.
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Über den Abend- und Nachthimmel dieser Märztage zog einer der strahlendsten Kometen der
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vergangenen tausend Jahre, ein Himmelskörper von kaum sechzig Kilometern Durchmesser,
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der mit einem goldgelb leuchtenden Staubschweif und einem blauen Gasschweif eine fünfzig
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Millionen Kilometer lange Spur an den Nachthimmel schrieb. Der Besenstern hatte am
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Vorabend seinen erdnächsten Punkt in einer Entfernung von etwa zweihundert Millionen
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Kilometern passiert und raste nun wieder in jene Abgründe des Raumes zurück, aus denen er
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emporgestiegen war. Nach Monaten, in denen er neben dem großen Sirius als hellstes Licht
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am Nachthimmel erschienen war, würde er nun allmählich wieder kleiner und unscheinbarer
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werden, schließlich verschwinden und dann erst um das Jahr 4535 wiederkehren. Der Komet
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war nach seinen beiden Entdeckern Alan Hale und Thomas Bopp, die ihn während einer
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Vermessung des Kugelsternhaufens M70 im Areal des Schützen unabhängig voneinander
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beobachtet hatten, Hale-Bopp getauft worden – und schon kurze Zeit nach seinem Eintritt ins
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Blickfeld des bloßen Auges war gewiß, daß in der Geschichte der Menschheit kein
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Himmelslicht jemals so viele Blicke auf sich gezogen hatte.
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Ich hatte Hale-Bopp in den vergangenen Wochen, auf langen Wanderungen durch die Mojave-
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Wüste und in der Sierra Nevada, oft über den Silhouetten verschneiter Gebirgszüge oder den
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schwarzen Weiten der Wüste gesehen und im Radio meines Geländewagens immer wieder
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Berichte von Ängsten, Hoffnungen, Träumen und astronomischen Vermutungen gehört, die
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mit diesem wandernden Licht verbunden wurden. Religiöse Phantasten und Sektenanhänger,
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hieß es, sähen in diesem Kometen nicht bloß ein Himmels-, sondern ein göttliches Zeichen,
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das den nahen Untergang der Welt oder das Kommen eines allmächtigen Erlösers ankündigte.
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Der Besenstern mit seinem Doppelschweif – ein dritter, aus Natrium bestehender Schweif
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zeigte sich nur in den Teleskopen der größten Sternwarten – war innerhalb von beinahe
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sechshundert Tagen, in denen man seine zu- und wieder abnehmende Strahlkraft auch mit
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freiem Auge beobachten konnte, zu einer so vertrauten Erscheinung am Himmel geworden,
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daß sich an diesem Abend wohl kaum ein solches Publikum auf dem Parkplatz des
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Straßencafés eingefunden hätte, wäre da nicht noch ein zweites Schauspiel in unmittelbarer
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Nachbarschaft des Kometen zu verfolgen gewesen – eine von Sternfreunden und
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Astrofotografen sehnsüchtig erwartete Mondfinsternis.
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Die Lage des Straßencafés auf einem Hügel mit weitem Blick auf die Lichter der Stadt und des
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Himmels hatte mehr als hundert Gäste und Beobachter angezogen, die schon am späten
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Nachmittag begannen, ihre Fernrohre, Stative und Kameras zwischen Wagenburgen
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aufzubauen und bei Wein, Bier oder Fruchtsäften an den kreisrunden Tischen des Cafés die
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Wahrscheinlichkeit zu besprechen, ob die wechselnde Bewölkung dieses Tages das
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Schauspiel verhüllen würde und ein rechtzeitiger, gerade noch möglicher Aufbruch ins
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wolkenärmere Wüstenland nicht das Gebot der Stunde sei. Wie langsam über solchen
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Gesprächen die Zeit verging.
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Aber als es zu dämmern begann, dunkel wurde, Nacht wurde und alle Wolken wie an Schnüren
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gezogen verflogen und den Kometen, den Sternenhimmel und einen noch schattenlosen Mond
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freigaben, begann die Zeit schneller zu laufen. Und als dann der auf die Sekunde berechnete
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Zeitpunkt kam, an dem der Mond träge und unaufhaltsam in den Erdschatten glitt, dabei mehr
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und mehr von seinem Licht verlor und so den Kometen noch heller glänzen ließ, begann die
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Zeit zu fliegen. Die Rufe der auf dem Parkplatz versammelten Zeugen der Verfinsterung Der
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Mond! Der Mond! Es beginnt! klangen wie Alarmgeschrei und ließen die letzten Gäste aus
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dem Café hinausstürzen ins Freie.
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Und dann war da plötzlich nur noch das wolkenlose Firmament und ein dunkler Platz voll
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Menschen, die schweigend zu den Sternen aufsahen, zwischen denen der hellste Komet des
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Jahrtausends an einem verfinsterten Mond vorüberzog – und war da trotzdem und immer noch
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hinter einer erleuchteten Glasfront diese lange leere Theke, von der ein Kellner sein schwer
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beladenes Tablett in die Nacht hinaustrug, dann zwischen Autos und Teleskopen
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dahinhuschte und dabei seinen Blick immer wieder gegen den Himmel richtete, bis plötzlich
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dieses böse Klirren zu hören war und der Gestürzte in einer Scherbensaat lag.
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Aber während so weit, weit draußen im Raum das Himmelsschauspiel ungerührt seinen Lauf
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nahm, der Erdschatten, unser eisiger Schatten, über die Mondwüsten glitt und Hale-Bopp mit
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einer Geschwindigkeit von fast einhundertsechzigtausend Stundenkilometern unseren
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Planeten wieder hinter sich ließ, begann auf dem ölfleckigen nächtlichen Parkplatz ein
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Gegenschauspiel, das von einer anderen Helligkeit war.
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Denn obwohl es lange, sehr lange dauern würde bis zu einer nächsten vergleichbar schönen
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Finsternis und obwohl der fliehende Komet nach seinem allmählichen Verblassen und
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Verschwinden erst nach mehr als zweitausendfünfhundert Jahren wiederkehren, aber niemals,
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niemals wieder in der Geschichte dieses Universums in so enger Gemeinschaft mit einem
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verfinsterten Mond zu sehen sein würde, wandten sich ..., nein, nicht alle Zeugen und
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Zuschauer, aber doch viele, viel mehr als zu erwarten waren, von dieser Einzigartigkeit, einem
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unwiederholbaren kosmischen Ereignis, ab und dem gestürzten Kellner zu, kehrten dem
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Himmel den Rücken, beugten sich zu dem stummen, beschämten Mann hinab, boten ihm ihre
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ausgestreckten Arme und sanken, als er nicht aufstehen, sondern bloß auf allen vieren die
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Scherben einsammeln wollte, neben ihm auf die Knie und lasen gemeinsam mit ihm die selbst
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im verfinsterten Mondschein noch blinkenden Scherben vom schwarzen Asphalt, als pflückten
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sie Sterne.

Aus: Ransmayr, Christoph: Atlas eines ängstlichen Mannes. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2012, S. 36-40.

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