Thema 2
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Rainer Maria Rilke (* 1875 - † 1926): Die Flucht (1896/1897) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Text Die Flucht von Rainer Maria Rilke. Berücksichtige dabei besonders die erzählerische Gestaltung sowie die Figurengestaltung des Protagonisten. Beziehe deine Kenntnisse zum Epochenumbruch um 1900 ein.
1
Die Kirche war ganz leer.
2
Durch das bunte Glasfenster über dem Hauptaltar brach der Abendstrahl, breit
3
und schlicht, wie alte Meister ihn auf der Verkündigung Mariens darstellen, in
4
das Hauptschiff und frischte die verblaßten Farben des Stufenteppichs auf.
5
Dann durchschnitt der Lettner mit seinen barocken Holzsäulen den Raum, und
6
enseits desselben wurde es immer dunkler, und die kleinen ewigen Lampen blin-
7
zelten immer verständnisvoller vor den nachgedunkelten Heiligen.
8
Hinter dem letzten, plumpen Sandsteinpfeiler war es ganz Nacht. Dort saßen sie,
9
und über den beiden hing ein altes Stationsbild. Das blasse Mädchen drückte
10
ihre lichtbraune Jacke in die dunkelste Ecke der schweren, schwarzen Eichen-
11
bank. Die Rose auf ihrem Hut kitzelte dem Holzengel in der geschnitzten Lehne
12
das Kinn, so daß er lächelte. Fritz, der Gymnasiast, hielt die beiden winzigen
13
Hände des Mädchens, welche in zerschlissenen Handschuhen staken, in den
14
seinen, so wie man ein kleines Vögelchen hält, sanft und doch sicher. Er war
15
glücklich und träumte: sie werden die Kirche zusperren und uns nicht bemerken,
16
und wir werden ganz allein sein. Gewiß gehen Geister hier in der Nacht. Sie
17
schmiegten sich fest aneinander, und Anna flüsterte ängstlich: „Ists nicht schon
18
spät?" Da fiel ihnen beiden ein Trauriges ein; ihr - der Platz am Fenster, an dem
19
sie tagaus tagein nähte; man sah eine häßliche, schwarze Feuermauer von dort
20
und niemals Sonne. Ihm sein Tisch, voll mit Lateinheften, auf dem aufgeschla-
21
gen lag ПAάτwv, σuμπóσιOν. Die beiden Menschen schauten vor sich hin, und
22
ihre Blicke gingen derselben Fliege nach, welche durch die Rillen und Runen
23
der Betbank pilgerte.
24
Sie sahen sich in die Augen.
25
Anna seufzte.
26
Fritz legte leise und hütend den Arm um sie und sagte:
27
„Wer doch so fort könnte."
28
Anna blickte ihn an und sah die Sehnsucht, die in seinen Augen leuchtete. Sie
29
senkte die Lider, wurde rot und hörte:
30
„Überhaupt sie sind mir verhaßt, gründlich verhaßt. Weißt du: wie sie mich anse-
31
hen, wenn ich von dir komme. Sie sind lauter Mißtrauen und Schadenfreude. Ich
32
bin kein Kind mehr. Heut oder morgen, wenn ich was verdienen kann, gehen wir
33
zusammen, weit fort. Allen zum Trotz."
34
„Hast du mich lieb?" Das blasse Kind lauschte.
35
„Unbeschreiblich lieb." Und Fritz küßte ihr die Frage von den Lippen.
36
„Wird das bald sein, daß du mich mit dir nimmst?" zögerte die Kleine. Der Gym-
37
nasiast schwieg. Er hob unwillkürlich den Blick, ging der Kante des plumpen
38
Sandsteinpfeilers nach und las über dem alten Stationsbild: „Vater vergieb
39
ihnen ..."
40
Da forschte er ärgerlich: „Ahnen sie was bei dir zu Haus?"
41
Er drängte die Anna: „Sag."
42
Sie nickte ganz leis.
43
„So“, wütete er, „ich sags ja, also doch. Diese Klatschbasen. Wenn ich nur
44
Er grub den Kopf in die Hände.
45
Anna lehnte sich an seine Schulter. Sie sagte einfach:
46
,,Sei nicht traurig.“
47
So verharrten sie.
48
Plötzlich sah der junge Mensch auf und sagte:
49
„Komm fort mit mir!"
50
Anna zwang ein Lächeln in ihre schönen Augen, welche voll Tränen waren. Sie
51
schüttelte den Kopf und sah sehr hilflos aus. Und der Student hielt wieder wie
52
früher ihre winzigen Hände, die in schlechten Handschuhen staken. Er sah in das
53
lange Hauptschiff hinein. Die Sonne war erloschen, und die bunten Glasfenster
54
waren häßliche, mattfarbene Kleckse. Es war still.
55
Dann begann hoch in der Halle ein Piepsen. Beide schauten auf. Sie bemerkten
56
eine verirrte kleine Schwalbe, welche mit müden, ratlosen Flügeln das Freie
57
suchte.
58
Auf dem Heimweg dachte der Gymnasiast an ein verabsäumtes lateinisches
59
Pensum. Er beschloß, noch zu arbeiten, trotz des Widerwillens, den er hatte, und
60
trotz aller Müdigkeit. Aber fast unwillkürlich machte er einen großen Umweg, ver-
61
irrte sich sogar ein wenig in der sonst gut bekannten Stadt, und es war Nacht, als
62
er in seine enge Stube trat. Auf den Lateinheften lag ein kleines Briefchen. Er las
63
bei der unsicher flackernden Kerze:
64
„Sie wissen alles. Ich schreibe Dir unter Tränen. Der Vater hat mich geschlagen.
65
Es ist schrecklich. Jetzt lassen sie mich nie mehr allein ausgehen. Du hast recht.
66
Komm fort. Nach Amerika oder wohin Du willst. Ich bin morgen früh um sechs
67
Uhr auf der Bahn. Da geht ein Zug. Vater fährt immer auf die Jagd damit. Wohin
68
- weiß ich nicht. Ich schließe. Es kommt jemand.
69
Also erwarte mich. Bestimmt. Morgen um sechs. Bis in den Tod
70
Deine
71
Anna.
72
Es war niemand. Wohin, glaubst Du, gehen wir? Hast Du Geld? Ich habe acht
73
Gulden. Diesen Brief schick ich Dir durch unser Dienstmädchen an das euere.
74
Mir ist jetzt gar nicht mehr bang. Ich glaube, Deine Tante Marie hat geklatscht.
75
Sie hat uns also Sonntag doch gesehen."
76
Der Gymnasiast ging in großen und energischen Schritten auf und nieder. Er
77
fühlte sich wie befreit. Sein Herz pochte heftig. Er empfand auf einmal: Mann
78
sein. Sie vertraut sich mir an. Ich darf sie beschützen. Er war sehr glücklich und
79
wußte: Sie wird mir ganz gehören. Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er mußte sich
80
setzen, und dann kam ihm in den Sinn: Wohin? Diese Frage wollte nicht schwei-
81
gen. Fritz übertönte sie dadurch, daß er aufsprang und Vorbereitungen machte.
82
Er legte ein wenig Wäsche und ein paar Kleider zurecht und preßte die ersparten
83
Guldenscheine in das schwarze Ledertäschchen. Er war voll Eifer, schob ganz
84
unnütz alle Laden auf, nahm Gegenstände und trug sie wieder an ihren alten
85
Platz, warf die Hefte vom Tische in irgend eine Ecke und zeigte seinen vier Wän-
86
den mit prahlerischer Deutlichkeit: Hier ist Auswanderung, Schluß.
87
Mitternacht war vorbei, als er am Bettrand niedersaß. Er dachte nicht ans Schla-
88
fen. Angekleidet legte er sich hin, nur weil ihn, wahrscheinlich vom vielen Bücken,
89
der Rücken schmerzte. Er dachte noch einigemal: Wohin? und sagte laut:
90
,,Wenn man sich wirklich lieb hat ..."
91
Die Uhr tickte. Tief unten fuhr ein Wagen vorbei, und die Scheiben zitterten da-
92
von. Die Uhr, die noch von den Zwölfschlägen müde war, atmete auf und sagte
93
mühsam „Eins". Mehr konnte sie nicht.
94
Und Fritz hörte es noch wie aus weiter Ferne und dachte: Wenn man sich ...
95
wirklich ....
96
Aber im allerersten Morgengrauen saß er fröstelnd in den Kissen und wußte be-
97
stimmt: Ich mag Anna nicht mehr. Sein Kopf war so schwer: Ich mag Anna nicht
98
mehr. War das ihr Ernst? Um ein paar Schläge auf und davon laufen. Wohin
99
denn? Er sann nach, asl hätte sie's ihm anvertraut: Wohin wollte sie denn?
100
Irgendwohin, irgendwohin. Er empörte sich: Und ich? Ich sollte natürlich alles im
101
Stiche lassen, meine Eltern und alles. Oh und die Zukunft, das Hernach. Wie
102
dumm das war von Anna, wie häßlich. Ich möchte sie schlagen, wenn sie das
103
imstande wäre.
104
Wenn sie das imstande wäre.
105
Als ihm die frühe Maisonne, so recht hell und heiter, in die Stube kam, hoffte er:
106
Sie kann es nicht ernst gemeint haben. Er beruhigte sich ein wenig und hatte viel
107
Lust, im Bett zu bleiben. Allein er sagte sich: Auf den Bahnhof will ich gehen, und
108
sehen, daß sie nicht kommt. Und er malte sich die Freude aus, wenn Anna nicht
109
kommt.
110
Fröstelnd in der frühen Frische und mit großer Müdigkeit in den Knieen ging er
111
auf den Bahnhof. Die Vorhalle war leer.
112
Halb ängstlich, halb hoffnungsvoll hielt er Umschau. Keine gelbe Jacke. Fritz at-
113
mete auf. Er durchlief alle Gänge und Säle. Reisende gingen verschlafen und
114
teilnahmslos auf und nieder, Gepäcksdiener lümmelten an hohen Säulen, und
115
Leute aus der untersten Klasse saßen verdrossen, an Bündel und Körbe gelehnt,
116
auf staubigen Fensterbänken. Keine gelbe Jacke. Der Portier rief irgendwo in
117
einem Wartesaal Ortsnamen. Er läutete mit einer schrillen Glocke. Dann
118
schnarrte er dieselben Ortsnamen ganz nah und dann noch einmal auf dem
119
Bahnsteig. Und immer läutete davor die häßliche Glocke. Fritz wandte sich und
120
schlenderte, die Hände in die Taschen bohrend, in die Vorhalle des Bahnhofes
121
zurück. Er war sehr zufrieden und dachte mit Siegermiene: Keine gelbe Jacke.
122
Ich wußte es ja.
123
Wie im Übermut trat er hinter eine Säule. Er wollte den Fahrplan studieren, um
124
zu erfahren, wohin denn dieser verhängnisvolle Sechsuhrzug eigentlich führe. Er
125
las mechanisch die Stationen und machte ein Gesicht wie einer, der eine drollige
126
Treppe besieht, auf der er fast gestürzt wäre. Da klappten schnelle Schritte auf
127
den Fliesen. Als Fritz aufschaute, erhaschte sein Blick eben noch an der Perron-
128
türe die kleine Gestalt in der gelben Jacke und dem Hute, auf welchem eine
129
Rose schwankte.
130
Fritz starrte ihr nach.
131
Dann überkam ihn eine Furcht vor diesem schwachen, blassen Mädchen, wel-
132
ches mit dem Leben spielen wollte. Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn
133
finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren, raffte er sich auf und lief,
134
so schnell er konnte, ohne sich umzusehen, der Stadt zu.
Aus: Rilke, Rainer Maria: Die Flucht. In: Engel, Manfred, Ulrich Fülleborn u. a. (Hrsg.): Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 3: Prosa und Dramen, hrsg. von August Stahl. Frankfurt/M. und Leipzig: Insel Verlag 1996, S. 109-113
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Einleitung
- Rainer Maria Rilkes Erzählung Die Flucht aus dem späten 19. Jahrhundert zeigt eine melancholische und intensive Darstellung der Sehnsucht nach Freiheit und dem damit verbundenen Wunsch vor den Zwängen der gesellschaftlichen Normen und familiären Erwartungen zu fliehen.
- Das Werk dient als Beispiel für die literarischen Umbrüche und Themen um die Jahrhundertwende 1900. Die Erzählung beleuchtet die inneren und äußeren Konflikte eines jungen Liebespaars, das an den gesellschaftlichen Zwängen seiner Zeit zu zerbrechen scheint.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Das Gedicht beginnt mit einer Beschreibung der Kirche, in der sich die Protagonisten Fritz und Anna heimlich treffen. Die Kirche ist leer und von Abendlicht, das durch bunte Glasfenster fällt, durchflutet (Vgl. Z. 1-7). Diese Beschreibung betont die Privatheit und das Verborgene der Beziehung zwischen Fritz und Anna.
- Fritz hält Annas Hände wie ein „Vögelchen“ (Z. 14), was Zärtlichkeit und Schutz symbolisiert. Sie träumen davon, zusammen zu sein, ohne von anderen bemerkt zu werden, was ihre Sehnsucht nach Freiheit unterstreicht (Vgl. Z. 12-16).
- Trotz ihrer Liebe sind sie von äußeren Konflikten und Bedrohungen geplagt. Anna ist besorgt über die Meinung anderer und die möglichen Konsequenzen ihrer Beziehung (Vgl. Z. 17 ff.). Fritz wiederum zeigt Missachtung für die Urteile und das Misstrauen der Gesellschaft (Vgl. Z. 30 ff.).
- Er hat die spontane Idee, mit seiner Freundin zu fliehen, als Antwort auf die Unterdrückung, der sie ausgesetzt sind. (Vgl. Z. 24-29). Die Idee der Flucht ist nicht nur physisch zu sehen, sondern fungiert auch als Symbol für die Befreiung von gesellschaftlichen Erwartungen. Damit in Zusammenhang stehen auch die Rose auf Annas Hut und die im Kirchenraum verirrte Schwalbe (Vgl. Z. 50-57), die die Zerbrechlichkeit und Suche nach Freiheit reflektieren. Die Schwalbe, die das Freie sucht, steht im Kontrast zur eingesperrten Atmosphäre der Kirche und der Stadt.
- Daraufhin verlagert sich das Geschehen in Fritz' Zimmer, welches er nach Einbruch der Nacht erreicht (Vgl. Z. Z. 62-95). Dort findet er einen Brief von Anna, in dem die Entscheidung zur Flucht deutlich gemacht wird. Anna spricht von familiären Problemen sowie dem Verlangen nach einer neuen Zukunft und plant die Flucht bereits konkret (Vgl. Z. 64-75).
- Zunächst löst der Brief bei Fritz ein Hochgefühl aus. Er fühlt sich nun als „Mann“ (Z. 77 ff.), der in der Beziehung Verantwortung übernehmen kann. Danach denkt er jedoch über die Ernsthaftigkeit von Annas Vorschlag nach. Nach „Mitternacht“ (Z. 87) schwanken seine Gedanken nur noch zwischen der Romantik, der Flucht und den praktischen Überlegungen sowie den potenziellen Konsequenzen und der Ziellosigkeit ihrer möglichen Flucht (Vgl. Z. 87-95).
- Bei Sonnenaufgang hat sich Fritz' Einstellung komplett geändert: Er ist jetzt wütend über Annas unrealistische Erwartungen und entwickelt eine innere Abneigung gegen ihren Fluchtplan. Beispielsweise spielt er die Bedeutung der häuslichen Gewalt, die Anna als Fluchtgrund nennt, herunter. Um seine neue Sichtweise zu bestätigen, beschließt Fritz zum Bahnhof zu gehen, in der Hoffnung, dass Anna nicht zur verabredeten Zeit erscheinen wird (Vgl. Z. 96-109).
- Diese Hoffnung wird jedoch zunichtegemacht (Vgl. Z. 110-134): Zunächst fühlt sich Fritz erleichtert, als er im Bahnhofsbereich sieht, dass Anna nicht da ist (Vgl. Z. 110-122). Er beginnt sorglos den jetzt hypothetischen Fluchtweg zu erkunden (Vgl. Z. 123-126), aber schließlich ist er schockiert, als er feststellt, dass Anna tatsächlich gekommen ist. Er flieht aus Angst, von ihr entdeckt zu werden und verlässt den Bahnhof hastig (Vgl. Z. 131-134). Der Text endet somit offen, ohne eine klare Entscheidung über die Flucht zu treffen.
- Die Zeit um 1900 war geprägt von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, darunter die Industrialisierung, Urbanisierung und politische Umwälzungen. Diese Veränderungen spiegelten sich in der Literatur wider, indem sie neue Themen wie die Suche nach Individualität, das Aufkommen neuer Lebensentwürfe und die Kritik an gesellschaftlichen Normen aufgriffen. Rilkes Text Die Flucht kann als ein Beispiel für diese literarische Strömung betrachtet werden. Die Figuren in Die Flucht streben ebenfalls nach Selbstverwirklichung und lehnen gesellschaftliche Zwänge ab.
- So steht beispielsweise die Kirche als Ort der Kontemplation und der Tradition im Kontrast zum Bahnhof als Symbol des Fortschritts und der Möglichkeit zur Flucht in eine neue Zukunft (Vgl. Z. 110-134). Diese symbolische Darstellung reflektiert die gesellschaftlichen Umbrüche um 1900, die durch technologischen Fortschritt, Urbanisierung und individuelle Freiheitsbestrebungen geprägt waren. Die Kirche steht für die Begrenzung und Sicherheit der alten Ordnung, während der Bahnhof für den Aufbruch in eine ungewisse, aber freie Zukunft steht.
- Anna und Fritz repräsentieren junge Menschen, die sich gegen die gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit auflehnen. Ihre Beziehung steht im Zentrum der Erzählung und wird durch Fritz' Entwicklung vom Träumer zum Zweifler und schließlich zum Ablehner der Fluchtpläne dargestellt (Vgl. Z. 62-95).
- Fritz träumt von einer Flucht, die ihn und Anna aus den beengenden Verhältnissen herausbringt. Er symbolisiert die jugendliche Unbekümmertheit und den Drang nach Freiheit, der durch seine Träume und Pläne deutlich wird.
- Trotz seiner anfänglichen Begeisterung und der romantischen Vorstellungen über die Flucht, zeigt sich Fritz später ambivalent und letztlich enttäuscht. Die Realität der Konsequenzen und die Angst vor Verantwortung bringen ihn zur Umkehr.
- Anna wird als verletzliche Figur dargestellt, gefangen in einer belastenden familiären Situation. Sie sehnt sich nach Freiheit, aber ihre Passivität und Abhängigkeit von Fritz zeigen ihre Unsicherheit und ihre Suche nach Schutz.
- Annas konkreter Fluchtplan und ihre Briefe an Fritz machen ihre Entschlossenheit und ihren Wunsch nach einem besseren Leben deutlich. Sie steht im Kontrast zu Fritz' ambivalenten Gefühlen und seinem Rückzug.
- Der Erzähler fokussiert sich stark auf die inneren Konflikte und Gefühle der Figuren. Dialoge und innere Monologe vermitteln die zerrissenen Emotionen und die Sehnsucht nach einer anderen Realität.
- Die Erzählperspektive wechselt von einer auktorialen Distanz zu einer personalen Nähe, insbesondere wenn Fritz' Gedanken und Gefühle durch inneren Monolog und erlebte Rede ausgedrückt werden (Vgl. ab Z. 76). Diese Veränderung spiegelt Fritz' innere Konflikte und seine Entwicklung wider, von anfänglicher Euphorie über die Fluchtpläne bis zur inneren Ablehnung und Widerstand gegen Annas Vorhaben.
- Außerdem fällt der Wechsel von zeitdeckenden (Vgl. Z. 24–49, Z. 64–75) und zeitraffenden Erzählphasen (Vgl. Z. 76–103, Z. 110–134) auf. Einerseits wird dadurch die Beziehungsebene und andererseits Fritz' innere Unruhe betont.
- Rilkes Sprache ist geprägt von einer bildhaften und detailreichen Darstellung der Szenerie. Die Beschreibung der Kirche und ihrer Atmosphäre mit den bunten Glasfenstern, den Holzsäulen und den verblassten Farben des Teppichs schafft eine intensive, fast sakrale Stimmung. Diese dient als Kontrast zur emotionalen Spannung zwischen den beiden Hauptfiguren Fritz und Anna. Die klare, präzise Sprache trägt zur Atmosphäre der Beklemmung und des inneren Konflikts bei, die beide Figuren erleben.
- Insgesamt finden sich zahlreiche Metaphern im Text. Die bereits erwähnte Kirche fungiert als Ort der Flucht und des Rückzugs sowie als Metapher für Sicherheit und stellt gleichzeitig die Enge der Situation der Protagonisten dar.
- Die gelbe Jacke und die Rose auf dem Hut von Anna könnten metaphorisch für Jugend und Verletzlichkeit stehen. Die „fremde Welt“ in der Aussage „Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren ...“ (Z. 132 f.) steht metaphorisch für die unbekannte Zukunft und die Herausforderungen, die eine Entscheidung für eine gemeinsame Flucht bedeuten würde.
- In der Personifikation „die kleinen ewigen Lampen blinzelten immer verständnisvoller“ (Z. 6 f.) werden den Lampen menschliche Eigenschaften zugeschrieben.
- Die Wiederholung „Ich mag Anna nicht mehr. Sein Kopf war so schwer: Ich mag Anna nicht mehr.“ (V. 97 f.) verstärkt die emotionale Zerrissenheit des Protagonisten.
- Die unvollständige Aussage durch die Ellipse „Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren ...“ (Z. 132-133) unterstreicht die Angst und Unsicherheit des Protagonisten.
- Rhetorische Fragen (z. B. „Ists nicht schon spät?“, Z. 17; „Ahnen sie was bei dir zu Haus?“, Z. 40; „Wohin wollte sie denn?“, Z. 100) werden im Text verwendet, um die inneren Konflikte, Ängste und Unsicherheiten der Charaktere hervorzuheben. Sie helfen dabei, die Atmosphäre der Verzweiflung und der Entscheidungsfindung in der Erzählung zu verstärken.
Schluss
- In Die Flucht zeigt Rilke durch die erzählerische Darstellung und Figurengestaltung die Spannungen zwischen Tradition und Fortschritt sowie Sicherheit und Freiheit auf. Die intensive Beschreibung der inneren Konflikte und die symbolische Gegenüberstellung der Orte spiegeln die zentralen Themen des Epochenumbruchs um 1900 in der deutschsprachigen Literatur wider.
- Rilkes Intention scheint darin zu liegen, die Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung in einer Zeit des Umbruchs und der gesellschaftlichen Restriktionen darzustellen.
- Am Ende bleibt es ungewiss, ob Fritz und Anna ihren Plan umsetzen werden oder nicht. Die Themen von Liebe, Freiheit, gesellschaftlicher Unterdrückung und inneren Konflikten bleiben im Raum stehen.