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Basiswissen

Thema 3

Erörterung eines Sachtextes

Thema:
Ewa Trutkowski (* 1973): Wer nicht gendert, landet im Abseits (2020)
Aufgabenstellung:
  • Fasse den Argumentationsgang des vorliegenden Textes zusammen und erläutere dessen Intention. (ca. 40 %)
  • Erörtere die Position der Autorin und beziehe die Auswirkungen des Genderns auf die Kommunikation in privaten und beruflichen Zusammenhängen ein. (ca. 60 %)
Material
Wer nicht gendert, landet im Abseits
Ewa Trutkowski
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Gendern, also die Nutzung sogenannter gendergerechter Sprache, kann als Konsequenz der
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Vermengung des Merkmals Genus mit dem Merkmal Sexus angesehen werden. Die Linguistin
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Elisabeth Leiss hat diese Vermischung bereits 1998 als „Sexualisierung bzw. Sexierung der
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Grammatik“ gebrandmarkt. Aber die unter anderem auf Jacob Grimm zurückgehende
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Grundidee, wonach das natürliche Geschlecht (= Sexus) dem grammatischen Geschlecht
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(= Genus) vorausgeht, ist aus dem gesellschaftspolitischen Diskurs kaum mehr wegzudenken,
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und spätestens seit einige Institutionen und Verwaltungen den Gebrauch gendergerechter
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Sprache vorschreiben, ist diese Diskussion in der Praxis auch jener Sprachverwender
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angekommen, die damit nie etwas zu tun haben wollten.
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Objektiv betrachtet, möchten die Verfechter einer genderneutralen Sprache nichts anderes,
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als alle nichtmännlichen Mitmenschen „zu Wort kommen" zu lassen. Der teilweise vehemente
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Einsatz für eine veränderte Sprachnorm speist sich vor allem daraus, sprachliche Ungleichheit
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mit sozialer Ungleichheit zu verknüpfen und letztere durch Umkehrung der ersteren eliminieren
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zu wollen. Das ganze Projekt ist also durchweg gut gemeint. Nur leider ist gut gemeint nicht
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gleich gut, denn die Befürworter des Genderns sitzen einigen Irrtümern und
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Fehleinschätzungen auf.
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Die meisten davon sind in der eingangs erwähnten Vermengung von Genus und Sexus
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begründet, deshalb zur Klarstellung: Einen Genus haben nahezu alle Nomen und etliche
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Pronomen des Deutschen – dabei ist es unerheblich, ob das Bezeichnete belebt oder unbelebt
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ist. Man denke nur an den maskulinen Löffel, die feminine Gabel oder das neutrale Messer.
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Das Genus eines Nomens kann zwar regional schwanken (wie bei „die/der Butter“), aber
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generell sind Nomen genusfest.
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Sexus hingegen ist, wie man an „Mensch“, „Person“ oder „Mitglied“ sieht, kein obligatorisches
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Merkmal und über Wortbildungselemente wie „-erich“ (in „Enterich“) oder „-in“ (in
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„Teilnehmerin“) frei hinzufügbar. Es gibt Sexus auch nur in den Varianten männlich oder
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weiblich, und da er das biologische Geschlecht anzeigt, ist Sexus eine exklusive Eigenschaft
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belebter Entitäten – das schreibt schon Luise Pusch in einem Artikel aus dem Jahr 1980, in
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dem sie sich über eine potenzielle, aber eben nicht existente „Staubsaugerin“ lustig macht.
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Die „Staubsaugerin“ zeigt uns, genau wie die „Motorin“, dass sich das weiblichen Sexus
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anzeigende Suffix „-in“ nur mit belebten Nomen verbinden kann. Wenn es jedoch nach den
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Sprachpflegern der Stadtverwaltungen in Hannover und Lübeck geht, ist eine Institution wie
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die Kirche nicht mehr als „Arbeitgeber", sondern als „Arbeitgeberin" zu bezeichnen und eine
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Stadt nicht mehr „Herausgeber“, sondern als „Herausgeberin“ eines Leitfadens für sogenannte
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gendersensible Sprache. Wortwörtlich heisst es darin: „Institutionen, die einen weiblichen
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Artikel haben, sollten grammatikalisch korrekt behandelt werden.“
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Diese Anweisung zur Hyperkorrektheit lässt befürchten, dass die Macher der teilweise
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gleichlautenden Leitfäden von Lübeck und Hannover weder Linguisten noch Linguistinnen
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waren. Institutionen sind einfach keine belebten Entitäten, und insofern ist es auch keine
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Überraschung, dass ihre Sexualisierung der Intuition von Sprachnutzern widerspricht – die
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präferierte generische Form hingegen vermeidet den hier unangebrachten Bezug auf das
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natürliche Geschlecht.
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Dass der Verweis des Lübecker Leitfadens auf grammatikalische Korrektheit im Grunde
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peinlich ist, stellt man spätestens dann fest, wenn man ihn weiterliest: „Bei Pronomen schleicht
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sich oft die männliche Form ein, doch auch hierfür gibt es kleine, unkomplizierte Lösungen.“
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Vorgeschlagen wird, „jeder/jede“ durch „alle“ oder „jemand“ und „keiner“ durch „niemand“ zu
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ersetzen: Dumm nur, dass sowohl „jemand“ als auch „niemand“ Pronomen mit maskulinem
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Genus sind, was ungrammatische Sätze wie „Hier ist niemand, die sich auskennt“ zeigen. [...]
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Zu glauben, durch eine veränderte Sprachnorm politische Versäumnisse heilen und soziale
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Realitäten umstülpen zu können, ist eine Illusion: Es werden nicht mehr Frauen in
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Lastwagencockpits steigen, wenn man fortan von „Lastwagenfahrenden“ oder
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„Lastwagenfahrerinnen und Lastwagenfahrern“ spricht, solange zukünftige Kapitäninnen der
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Landstrasse das Steuer nicht selbst in die Hand nehmen wollen.
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Im Übrigen wird oft vergessen, dass Gendern eine Sprachhandlung ist, die sich aus der
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Überzeugung ableitet, das Maskulinum habe keine generische Bedeutung. Wer gendert und
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eine maskuline Form benutzt, kann folglich nur die spezifisch männliche Lesart im Sinn haben.
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Diese triviale Konsequenz wird jedoch von den wenigsten zu Ende gedacht, denn sie bedeutet,
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dass sich generische Lesart des Maskulinums und Gendern gegenseitig ausschliessen. [...]
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Ungeachtet aller vorgebrachten Argumente liesse sich nun einwenden, es sei einfach ein
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Gebot der Höflichkeit, Menschen gendersensibel anzusprechen. Aber ist dieser sich oft
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moralisch kleidende Impetus wirklich ein alltagstaugliches Argument? In der Praxis ist die
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Faulheit ja doch stärker als die Moral, und umständliche Gender-Formulierungen widerstreben
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nun einmal sprachlichen Ökonomieprinzipien. Auch dass ausgerechnet die unmarkierte, oft
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kürzere maskuline Form und nicht die feminine Form die generische ist, zeugt von sprachlicher
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Ökonomie.
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Daher sei hier die folgende Prognose gewagt: Ob (dynamischer) Unterstrich, Genderstern,
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Binnen-I, Doppelpunkt, Beidnennung oder generisches Femininum – nichts davon wird sich in
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der Sprachgemeinschaft durchsetzen, denn nicht die Schaffung, sondern die Vermeidung
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unnötiger Komplexität ist eine der Haupttriebfedern für Sprachwandel. Man schaue sich zum
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Vergleich den Gebrauch des Konjunktivs und mancher Tempusformen an: Wer ausser
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emsigen Deutschlernern weiss überhaupt, dass Formen wie in „Maria sagte, dass du
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gegangen sein werdest" existieren? So schön es auch wäre, wenn es klappte, sie zu
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benutzen – in der sprachlichen Realität gelingt es einfach nicht.
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Schon allein aus diesem Grund sollten wir das generische Maskulinum nicht ablehnen, denn
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keine geschlechtergerechte Form ist so ökonomisch wie praktikabel. Das zeigt sich zuvorderst
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daran, dass die Vorgaben des Hannoverschen Leitfadens nicht einmal auf der Website der
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Stadt umgesetzt werden, wo nach wie vor von einem Bürger-Service oder Künstlern und
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Veranstaltern die Rede ist. Denkt hier wirklich jemand, dass nichtmännliche Personen dadurch
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ausgeschlossen werden? Wohl kaum. Aus diesem Grund sollten sich alle, die das generische
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Maskulinum gern abschaffen möchten, die Frage stellen, ob ein Verzicht auf die Sexus-Suffixe
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„-in“ und „-erich“ letztlich nicht klüger wäre. Es würde zwar eine Verarmung der deutschen
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Sprache bedeuten, wer aber das Sexistische bekämpfen möchte, sollte beim Sexus und nicht
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beim Genus anfangen.
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Was die Diskussion um das generische Maskulinum und gendergerechte Sprache am meisten
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vergiftet, ist jedoch nicht der Kampf um die besseren Argumente im akademischen Diskurs,
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sondern deren politische Anheimstellung. Es ist deprimierend, zu beobachten, wie
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wissenschaftliche Debatten durch moralisierende und politisierende Rekurse geistig
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enthauptet werden. So auch hier: Wer gendert, ist lieb und links. Wer es nicht tut – und auch
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nicht tun will –, böse und rechts.
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Natürlich, Gendern polarisiert, und es gibt hier keinen leisen Mittelweg, auch nicht über die
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Vermeidung generischer Maskulina durch eine semantisch widersinnige und in den meisten
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Fällen ziemlich lächerliche Flucht in die Partizipbildung (die „Mitarbeitenden“, „Verkaufenden“
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und „Studierenden“ lassen schön grüssen). Doch war Gendern bisher ein Signet
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selbstverantwortlicher politischer Verortung, bekommt der, der es nicht tut, mittlerweile auch
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einen Stempel aufgedrückt. Grund hierfür ist die mit einer überheblichen Gerechtigkeitsattitüde
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vorangetriebene Institutionalisierung der Gendersprache durch Parteien, Verwaltungen und
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Universitäten (keine, die keinen Leitfaden hat) – wer sich nicht beugt, gerät schnell unter
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Verdacht.
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Das mag die Rechte freuen, doch am meisten freut es diejenigen, welche schon immer der
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Meinung waren, Gendern mache sie zu moralisch besseren Menschen. Auch einige Linguisten
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möchten sich, wie es scheint, hier einreihen: Sie verlinken die Kritik an Gendersprache mit
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traditionellen Gesellschaftsvorstellungen und weisen denjenigen, die sich aus was für Gründen
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auch immer gegen die Verwendung sogenannter gendergerechter Sprache aussprechen,
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implizit ein Plätzchen in der politisch konservativen bis rechten Ecke zu. Mit intellektueller
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Differenziertheit oder gar Wissenschaft hat das nicht viel zu tun, aber es passt zu der
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Allgemeinen Tendenz, Wissen durch Haltung und Erkenntnis durch Betroffenheit zu ersetzen.

Aus: Trutkoswki, Ewa: Wer nicht gendert, landet im Abseits. In: Neue Zürcher Zeitung, 22. Juli 2020, S. 26.
Anmerkung zur Autorin: Ewa Trutkowski ist eine Schweizer Sprachwissenschaftlerin.

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