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Basiswissen

Thema 2

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Christoph Hein (* 1944): Landnahme (2004)
Johann Wolfgang Goethe (* 1749 - † 1832): Brief an Riemer (1807)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus dem Gespräch zwischen Reinhard Beuchler und Sigurd Kitzerow aus Christoph Heins Roman Landnahme.
  • Überprüfe, inwieweit die Aussagen Goethes im Brief an Riemer auch auf den Romanauszug zutreffen.
Material
Landnahme
Christoph Hein
[...]
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„Ich werde in einem Jahr sechzig, dann bin ich ein alter Mann. Und ich begreife, was ich
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früher nicht verstanden habe, worüber ich gelacht habe, nämlich dass wir alle einen Platz
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auf dieser Erde haben. Wir haben einen Platz zugewiesen bekommen, und der gehört zu
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uns und wir zu ihm. Und wenn man diesen Platz aufgibt, dann gehört man nirgendwo hin, so
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ist nun mal diese Welt. Und dieser Platz hat etwas mit der Geburt zu tun. Wo du geboren
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wurdest, da ist deine Heimat, und nur dort bist du daheim. Und wenn du diesen Platz
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verlässt, dann gibst du deine Heimat auf. Dann kannst du vielleicht in deinem Leben viel
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erreichen, vielleicht mehr, als wenn du nicht weggegangen wärst. Aber deine Heimat hast du
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verloren. Das merkt man erst, wenn man so alt geworden ist wie ich. Früher habe ich
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darüber gelacht. Ich habe nicht verstanden, warum sich unsere Eltern gegen die Umsiedler
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stellten. Jetzt weiß ich es, und ich weiß, sie hatten Recht.“
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„Wo sollten sie hin, diese Leute?“
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„Das ist etwas anderes, Sigurd. Wohin sie hätten gehen sollen, weiß ich nicht. Doch ich
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meine, sie hatten und haben nicht das Recht, anderen Leuten ihre Heimat zu nehmen, nur
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weil man ihnen ihre Heimat nahm. Guldenberg ist seit dem Krieg nicht mehr das
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Guldenberg, in dem ich geboren wurde, ist nicht mehr unsere Stadt. Hier hat es nie so viel
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gebrannt, wie seit der Zeit, als diese Flüchtlinge ankamen. Nicht einmal im Krieg hatten wir
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so viele Brände. Damals gehörten wir noch alle zusammen. Das ist vorbei, das hat sich
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geändert. Es sind zu viele Fremde. Zu viele, die hier nicht geboren wurden und nicht hierher
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gehören.“
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„Vielleicht hast du Recht, Reinhard. Aber wir leben nun einmal in einer anderen Zeit und
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müssen damit zurechtkommen. Und Haber ist kein schlechter Kerl. Er ist nicht allzu
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umgänglich, ein sturer Rappelkopf, der sich immer und überall durchsetzen will, doch man
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kann sich auf ihn verlassen. Da ist er nicht schlechter als ein Einheimischer. Er hat sich
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eingefügt, er ist ein Guldenberger.“
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Beuchler schüttelte den Kopf. „Du kannst mich nicht verstehen, oder du willst es nicht. Wie
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auch immer, Brände jedenfalls, das kannten wir vorher nicht.“
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„War es Brandstiftung?“
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„Ja. Das ist schon sicher, sagt die Kripo.“
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„Dann warte ab, was die Polizei herausfinden wird.“
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„Was wird sie finden? Genau das, was sie immer herausgefunden hat. Nichts.“
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„Woher willst du wissen, dass es einer von den Umsiedlern war. Bei Habers hatte es ebenso
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gebrannt, bei dem alten Haber damals und bei dem jungen voriges Jahr.“
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„So heißt es. Aber keiner kann genau sagen, wer es damals war. Vielleicht waren sie es
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selber, wer weiß. Der alte Haber konnte eine Tischlerei gar nicht führen. Mit einem Arm,
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Sigurd! Ihm wird die Versicherungssumme besser gefallen haben. Und der junge Haber, ach
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Gott, wer weiß, warum da etwas gebrannt hat. Oder vielmehr nicht gebrannt hat. Ist es nicht
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merkwürdig, wenn eine brennende Benzinflasche keinen Schaden anrichtet? In einer
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Tischlerei? Wo überall Holz und Späne herumliegen? Seltsame Zufälle, meinst du nicht
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auch? Das würde ich untersuchen, wenn ich bei der Kripo wäre. Wieso brannte es bei ihm
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nicht? Irgendetwas stimmt da nicht. Nein, Junge, es ist alles anders, als du denkst. Diesen
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Leuten bedeutet ein Brand nichts. Es ist nicht ihre Stadt, die sie gefährden. Ihnen ist es egal,
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was dabei kaputtgehen kann. Ihnen fehlt das Herz für die Stadt, schließlich sind sie zufällig
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hier gelandet und können jederzeit weiterziehen. Wie die Zigeuner. Die Stadt, die Kirche, die
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Burg, unser Kurpark, die alten Straßen, all das, an dem unser Herz hängt, für sie bedeutet
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das alles nichts. Glaub mir, es sind Fremde, und es bleiben Fremde. Auf die kannst du nicht
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bauen. Sei kein Kindskopf, Sigurd, verlass dich nicht auf diese Leute.“ [...]

Aus: Hein, Christoph: Landnahme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 339 - 341.
Figuren Funktion
Bernhard Haber Sohn der Flüchtlingsfamilie Haber
Thomas Nicolas Banknachbar Bernhards in der Grundschule, Sohn des Apothekers
Marion Demutz Klassenkameradin und Bernhards erste Freundin
Peter Koller Jugendfreund, Klassenkamerad, Schleuser
Katharina Hollenbach Bernhards Schwägerin
Sigurd Kitzerow Geschäftspartner und Freund Bernhards
Reinhard Beuchler Tischler
Brief an Riemer
Johann Wolfgang Goethe
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„Man wird sich dessen, was man hat oder nicht hat, ist oder nicht ist, erst am Gegenteile von
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diesem bewußt oder inne.
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Darum werden so viele Menschen durch die Erscheinung eines neuen, fremden Menschen
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in der Gesellschaft beunruhigt. Er entdeckt ihnen, was sie nicht haben, und dann hassen sie
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ihn, oder er entdeckt ihnen durch sein Gegenteil, was sie haben, und so verachten sie ihn
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wieder. [...]“

Aus: Goethes Gespräche, Biedermannsche Ausgabe, Bd. 2. Hg. von Wolfgang Herwig. München: Deutscher
Taschenbuchverlag 1998, S. 200.

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