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Basiswissen

Thema 3

Erörterung eines Sachtextes

Thema:
Roberto Simanowski (* 1963): Kommunikationsutopien (2017)
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Argumentationsgang und die Intention des Textes dar.
  • Erörtere Simanowskis Position zu den Folgen audiovisueller Kommunikation für Sprache und menschliches Selbstverständnis.
Der Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf der Erörterung.
Material
Kommunikationsutopien
Roberto Simanowski
[...]
Verstummtes Kommunizieren
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Das beschreibungslose Bezeugen des Erlebten verkündete Zuckerberg bereits auf
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Facebooks Entwicklerkonferenz 2011 unter dem Schlagwort „frictionless sharing“. Konkret
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heißt dies, dass zum Beispiel der Song, den man auf Spotify hört, und der Film, den man auf
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Netflix sieht, automatisch den Facebook-Freunden angezeigt wird, wenn man die Funktion
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dafür aktiviert hat. Man muss die Nachricht nicht mehr begründen und auch nicht mehr
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formulieren. Man beschreibt seine Aktivitäten nicht mehr nachträglich und bedeutungsvoll wie
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einst im Brief und Tagebuch als frühere Formen der Selbstdarstellung: „Habe heute ein Buch
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gelesen, das mich aus folgendem Grund sehr beschäftigt ...“. Inzwischen teilen sich die
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Aktivitäten selbst mit. Die neue Losung heißt nicht etwa „I share therefore I am“, sondern „Es
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postet, also bin ich“ und hat, weil dem Vorgang das bewusste Zutun fehlt, nicht mehr viel mit
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Descartes’ Selbsterkenntnisformel zu tun.
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Das Verstummen beginnt allerdings schon, wenn man noch selbst den Auslöser drückt, wie
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bei all den Fotos, mit denen wir spontan und reflexartig unsere Erlebnisse ans Netzwerk
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melden. Seit Snapchat die Fotos nach dem Ansehen löscht, sagt man noch weniger, was man
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tut oder wie man sich fühlt, und schickt umso mehr Schnappschüsse: Ich im Gym, ich nach
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dem Training, ich im Restaurant, ich vor dem Fernseher ... Eifrige Snapchatter wissen am
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Abend zwar kaum noch, was alles sie auf diese Weise während des Tages kommuniziert
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haben, aber das ist auch egal. Genau darum geht es.
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Man kann die Visualisierung der Kommunikation als technische Antwort des
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21. Jahrhunderts auf die Krise der Repräsentation im 20. Jahrhundert verstehen: Die
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Unzuverlässigkeit der Sprache wird mit nichtverbalen Mitteln kuriert. Ein Bild sagt nicht nur
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mehr als tausend Worte, man muss vor allem kein einziges mehr finden. Die Dinge teilen sich
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selbst mit, wenn sie fotografiert oder automatisch registriert werden. Deswegen nannte
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Siegfried Kracauer die Fotografie 1927 „das Vabanque-Spiel der Geschichte“: Zum einen
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befreit die Selbstanzeige der Dinge von menschlicher Verzerrung, zum anderen macht die
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mechanische Reproduktion der Realität deren bewusste Erfassung überflüssig. In dieser Rolle
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der Fotografie als „Streikmittel gegen die Erkenntnis“ sah Kracauer das historische Risiko.
Automatische Autobiografie
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90 Jahre später erhöht sich der Einsatz durch die Selbstanzeige nicht nur der Dinge, sondern
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auch des Menschen an dessen Bewusstsein vorbei: Auf Facebook und in anderen sozialen
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Netzwerken ‚beschreiben‘ wir unser Leben, indem wir es leben, und produzieren so eine
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Autobiografie, die nie durch unser Hirn ging. Zugleich registrieren die Algorithmen aber sehr
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genau, was geschieht. Zuckerbergs Angestellte tüfteln derzeit, inspiriert durch Microsofts
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Captionbot, an AI-Technologien, die alle Gegenstände auf einem Bild erkennen und als
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Information verarbeiten können. Damit sind nicht nur Zeit und Ort des Fotos klar, sondern
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auch, was im Restaurant auf dem Teller lag und welcher Film im Fernseher lief. Die
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zugehörigen Daten zu Nährwert und kulturellem Kapital holt sich der Algorithmus leicht aus
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dem Internet – und weiß so durch das, was wir übermitteln, schließlich mehr über uns als wir
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selbst.
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In dieser Wissensschere liegt das Problem. Während wir den Algorithmen immer mehr
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Daten liefern, verarbeiten wir selbst immer weniger davon. Je mehr das Sagen, Benennen,
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Beschreiben durch das automatische Registrieren und audiovisuelle Kopieren verdrängt wird,
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umso weniger müssen wir uns reflektierend mit der Welt und unserer Rolle in ihr
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auseinandersetzen. Sprache ist das Medium, mit dem man Distanz zur Welt einnimmt, um sie
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klarer zu sehen und zu verstehen. Jeder Versuch, über Sprache hinauszugehen, riskiert
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zugleich den Verlust an Erkenntnis.
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Aus diesem Grund ist der BBC-Slogan „We don’t just report a story, we live it“ recht
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problematisch – und mehr noch, dass Zuckerberg sich genau so die Zukunft des Journalismus
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vorstellt: „mehr immersiver Inhalt wie VR“ mehr „rich content“ statt „just text and photos“.
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„Wir betreten das goldene Zeitalter der Videos“, sagt Zuckerberg im Frühjahr 2016 und ist
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sicher, dass in fünf Jahren das meiste, was Menschen täglich auf Facebook mitteilen, Videos
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aus ihrem Alltagsleben sein werden. [...] Wir lassen die Objekte sprechen, damit die Leere, die
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unser Verstummen hinterlässt, gefüllt ist; je detaillierter umso besser.
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Die Kommunikationsutopie des Mark Zuckerberg zielt auf die Anwendung dieses Modells
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auf den Menschen selbst: die Selbstanzeige des Subjekts vorbei am eigenen Bewusstsein.
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Wie Zuckerberg zum konstatierten Video-Trend betont, es handelt sich nicht um inhaltlich und
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ästhetisch bearbeitete Filme, sondern um das begehrte „Rohmaterial“ des sozialen Lebens.
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Das paradoxe Resultat ist eine automatische Autobiographie, die wir ‚schreiben‘, indem wir
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leben; eine posthumane, algorithmische Autobiografie. [...]

Anmerkung zum Autor:
Roberto Simanowski (* 1963) ist ein deutscher Medien- und Literaturwissenschaftler.
Aus: Simanowski, Roberto: Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien. Berlin: Matthes und Seitz 2017, S. 158-163.

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