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Basiswissen

Thema 3

Erörterung eines Sachtextes

Thema:
Andreas Gardt (* 1954): Ich spreche, also bin ich. Sprache ist Identität (2016)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den gedanklichen Aufbau des Textes Ich spreche, also bin ich. Sprache ist Identität von Andreas Gardt. Beziehe ausgewählte Aspekte der sprachlich-stilistischen Gestaltung und deren Funktion in deine Ausführungen ein.
  • Erörtere die Aussagen des Autors zur Erkenntnisfunktion von Sprache und zum Sprachwandel. Beziehe eigene Erfahrungen und Wissen aus dem Unterricht in deine Ausführungen ein.
Der Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf der Erörterung.
Material
Ich spreche, also bin ich. Sprache ist Identität
Andreas Gardt
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Man ist immer jemand, wenn man spricht. Italienerin oder Deutscher, Sachse oder
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Hamburgerin. Man ist Mann oder Frau, jung oder alt, ist gebildet, naiv, freundlich oder
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vulgär. Schon wenige Worte reichen, um einen Eindruck davon entstehen zu lassen, wer
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und was wir sind. Nicht nur die Sprache trägt zu diesem Urteil bei, aber sie hat einen großen
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Anteil daran. Es ist fast unmöglich, dem zu entgehen, und auch Schweigen hilft nur, wenn es
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nicht als beredtes Schweigen gedeutet wird. Der identitätsschaffenden Wirkung unserer
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Sprache sind wir nicht passiv ausgesetzt, sondern können „acts of identity“ (Robert Le Page)
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vollziehen, können gezielt versuchen, die Wahrnehmung unserer Identität durch unser
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Sprechen zu beeinflussen. Das tun etwa Jugendliche, wenn sie sich der Sprache ihrer
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Altersgruppe anpassen, aber auch Erwachsene, die über die Jahre den Dialekt der Gegend
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annehmen, in die sie neu gezogen sind. [...]
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Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der einige Klassiker der Identitätsforschung verfasst
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hat, beschreibt individuelle Identität so: „Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu
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besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung
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der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahr-
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nehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.“ Zentral ist
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zweierlei: die Kontinuität in der Zeit und die Reaktion der anderen. Tatsächlich kann etwas,
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das permanentem Wandel ausgesetzt ist, kein bestimmtes So-Sein, keine Identität
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entwickeln. Und immer gehört zur Identität auch die Alterität, zum Eigenen das Andere. Erst
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im Blick der anderen und in unserem Bewusstsein von der Existenz dieses Blicks werden wir
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zu dem, der wir sind. Dabei unterscheidet sich der Blick derjenigen, die die Existenz einer
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bestimmten Identität behaupten, oft ganz erheblich vom Urteil der wissenschaftlich
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Analysierenden. Das gilt vor allem für kollektive Identitäten. [...] Nicht selten erscheint
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Identität dann als etwas Festes, in sich Ruhendes, nahezu Monolithisches, dem historischen
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Wandel und wechselvollen menschlichen Zugriff in ihrem Kern Enthobenes. Die aktuelle
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Forschung dagegen betrachtet Identität grundsätzlich als Resultat gesellschaftlicher
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Konstruktionen, als eine dynamische Größe, die im Diskurs ausgehandelt wird. Mit den
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Interessen der Diskursteilnehmer verändern sich auch die Identitäten, die ganz und gar der
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historischen Entwicklung anheimgestellt sind. Das bedeutet nicht, dass sie beliebig sind:
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Nicht aus jeder historischen Konstellation kann sich jede Identität entwickeln. [...]
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Die enge Beziehung zwischen Sprache, Sprechern und politischem/kulturellem Körper
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bedeutet auch, dass die Gefährdung der einen Größe auch als Gefährdung der anderen
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betrachtet wurde und wird. Vor allem die Verwendung von Fremdwörtern steht in Geschichte
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und Gegenwart immer wieder im Zentrum einer Kritik, die diese Wörter als Eindringlinge in
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die eigene Sprache betrachten, als Gefahr für den Bestand der Sprache und zugleich als
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Gefahr für die Identität der Sprach- und Kulturgemeinschaft. In früheren Jahrhunderten
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galten oft französische Wörter und Wendungen als Seelengift für Deutsche, in jüngster Zeit
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richtet sich die Kritik gegen englische. Der gegen Anglizismen gerichtete Fremdwort-
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purismus ist allerdings in seiner Aggressivität und nationalistischen Zuspitzung nicht
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annähernd mit dem Purismus früherer Zeiten vergleichbar. Dabei ist die Sorge, dass die
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zunehmende Präsenz des Englischen in allen Lebensbereichen die eigene kulturelle
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Identität bedroht, nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, sondern findet sich in
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vielen Sprachgemeinschaften und Staaten, häufig getragen von einer unspezifischen Furcht
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vor den Folgen der Globalisierung. Was die Forschung betrifft, so sieht sie für die deutsche
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Sprache keine Gefahren durch fremdsprachige Einflüsse. Auch gelten ihr Nationalsprachen
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nicht als Größen, die fixiert werden könnten oder sollten, um der Aufgabe gerecht zu
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werden, die Identität einer Sprachgemeinschaft zu sichern. Vielmehr werden sie als
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historische Phänomene verstanden, für die Wandel und Variation geradezu konstitutiv sind.
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Dabei leugnet die Sprachwissenschaft keineswegs die bedeutende Rolle der Sprache bei
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der Konstitution von Identität. Spätestens seit dem Rationalismus der Aufklärungszeit finden
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sich Auffassungen, die der Sprache einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Art und
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Weise zusprechen, wie wir unsere Welt erkennen und kognitiv ordnen. Am offensichtlichsten
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ist die sprachliche Gliederung der Welt im Wortschatz, sodass etwa August Wilhelm Schlegel
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zu Beginn des 19. Jahrhunderts feststellt: „Mit der Muttersprache zugleich saugen wir die
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Vorstellungen und Ansichten der Dinge (...).“ Der amerikanische Philosoph Richard Rorty
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spricht von einem bestimmten „Vokabular“, in dem sich die Sprecher einer Sprache
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intellektuell bewegen und das ihr Bild von der Welt wesentlich beeinflusst.
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Zugleich stehen unterschiedliche sprachliche Perspektiven auf die Wirklichkeit in Konkurrenz
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zueinander. Die Diskussion um Political Correctness in der Sprache belegt es: Mit einem
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bestimmten Wort wird eine bestimmte Identität verknüpft. Ob ein und dieselbe Person als
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Flüchtling, als Migrant oder als Eindringling bezeichnet wird, macht einen ganz erheblichen
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Unterschied. An der identitätsbildenden Kraft der Sprache und des Sprechens führt kein
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Weg vorbei, auch unterhalb der Ebene einer Sprachgemeinschaft als ganzer. In George
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Bernard Shaws Schauspiel Pygmalion ist es Eliza Doolittle, die diese Erfahrung macht, als
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versucht wird, sie durch eine „bessere“ Sprache zu einem Mitglied der „besseren“ britischen
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Gesellschaft zu machen. Die Menschen aus den beiden Teilen Deutschlands haben es
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erlebt, als sie in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung den typisch Westdeutschen
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oder den typisch Ostdeutschen an seiner Sprache erkannten (oder zu erkennen glaubten).
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Und sprechen wir einen Dialekt, dann versuchen wir vielleicht, ihn bei offiziellen Anlässen zu
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vermeiden. Oder aber umgekehrt: Wenn wir aus der Stadt, in der wir leben, unser
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Heimatdorf besuchen, wählen wir wieder den Dialekt, um nicht durch unsere Sprache den
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Eindruck zu erwecken, wir seien ein ganz Anderer geworden. „Sprich, damit ich Dich sehe“:
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Sokrates’ oft zitierte Äußerung handelt genau davon.

Aus: Sprache. Ein Lesebuch von A-Z. Perspektiven aus Literatur, Forschung und Gesellschaft. Hg. für das Deutsche
Hygiene-Museum Dresden und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung von Colleen M. Schmitz und Judith
Elisabeth Weiss. Göttingen: Wallstein Verlag 2016, S.105 - 107.

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