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Thema 2

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Ilse Aichinger (* 1921 - † 2016): Seegeister (1953)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Prosatext Seegeister von Ilse Aichinger. Gehe dabei insbesondere auf die erzählerische Gestaltung des Textes ein. (ca. 80%)
  • Erläutere auf der Grundlage deiner Ergebnisse, in welcher Weise parabolisches Erzählen Zugänge zum Verständnis der Welt eröffnen kann. (ca. 20%)
Material
Seegeister
Ilse Aichinger
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Den Sommer über beachtet man sie wenig oder hält sie für seinesgleichen, und wer den See
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mit dem Sommer verläßt, wird sie nie erkennen. Erst gegen den Herbst zu beginnen sie, sich
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deutlicher abzuheben. Wer später kommt oder länger bleibt, wer zuletzt selbst nicht mehr weiß,
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ob er noch zu den Gästen oder schon zu den Geistern gehört, wird sie unterscheiden. Denn
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es gibt gerade im frühen Herbst Tage, an denen die Grenzen im Hinüberwechseln noch einmal
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sehr scharf werden.
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Da ist der Mann, der den Motor seines Bootes, kurz bevor er landen wollte, nicht mehr
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abstellen konnte. Er dachte zunächst, das sei weiter kein Unglück und zum Glück sei der See
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groß, machte kehrt und fuhr vom Ostufer gegen das Westufer zurück, wo die Berge steil
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aufsteigen und die großen Hotels stehen. Es war ein schöner Abend, und seine Kinder winkten
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ihm vom Landungssteg, aber er konnte den Motor noch immer nicht abstellen, tat auch, als
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wollte er nicht landen, und fuhr wieder gegen das flache Ufer zurück. Hier – zwischen
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entfernten Segelbooten, Ufern und Schwänen, die sich weit vorgewagt hatten – brach ihm
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angesichts der Röte, die die untergehende Sonne auf das östliche Ufer warf, zum erstenmal
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der Schweiß aus den Poren, denn er konnte seinen Motor noch immer nicht abstellen. Er rief
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seinen Freunden, die auf der Terrasse des Gasthofes beim Kaffee saßen, fröhlich zu, er wolle
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noch ein wenig weiterfahren, und sie riefen fröhlich zurück, das solle er nur. Als er zum
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drittenmal kam, rief er, er wolle nur seine Kinder holen, und seinen Kindern rief er zu, er wolle
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nur seine Freunde holen. Bald darauf waren Freunde und Kinder von beiden Ufern
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verschwunden, und als er zum viertenmal kam, rief er nichts mehr.
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Er hatte entdeckt, daß sein Benzintank leck war, das Benzin war längst ausgelaufen, aber das
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Seewasser trieb seinen Motor weiter. Er dachte jetzt nicht mehr, das sei weiter kein Unglück
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und zum Glück sei der See groß. Der letzte Dampfer kam vorbei, und die Leute riefen ihm
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übermütig zu, aber er antwortete nicht, er dachte jetzt: „Wenn nur kein Boot mehr käme!“ Und
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dann kam auch keins mehr. Die Jachten lagen mit eingezogenen Segeln in den Buchten, und
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der See spiegelte die Lichter des Hotels.
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Dichter Nebel begann aufzusteigen, der Mann fuhr kreuz und quer und dann die Ufer entlang,
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irgendwo schwamm noch ein Mädchen und warf sich den Wellen nach, die sein Boot warf,
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und ging auch an Land.
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Aber er konnte, während er fuhr, den lecken Tank nicht abdichten und fuhr immer weiter. Jetzt
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erleichterte ihn nur mehr der Gedanke, daß sein Tank doch eines Tages den See ausgeschöpft
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haben müsse, und er dachte, es sei eine merkwürdige Art des Sinkens, den See aufzusaugen
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und zuletzt mit seinem Boot auf dem Trockenen zu sitzen. Kurz darauf begann es zu regnen,
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und er dachte auch das nicht mehr. Als er wieder an dem Haus vorbeikam, vor dem das
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Mädchen gebadet hatte, sah er, daß hinter einem Fenster noch Licht war, aber uferaufwärts,
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in den Fenstern, hinter denen seine Kinder schliefen, war es schon dunkel, und als er kurz
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danach wieder zurückfuhr, hatte auch das Mädchen sein Licht gelöscht. Der Regen ließ nach,
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aber das tröstete ihn nun nicht mehr.
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Am nächsten Morgen wunderten sich seine Freunde, die beim Frühstück auf der Terrasse
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saßen, daß er schon so früh auf dem Wasser sei. Er rief ihnen fröhlich zu, der Sommer ginge
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zu Ende, man müsse ihn nützen, und seinen Kindern, die schon am frühen Morgen auf dem
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Landungssteg standen, sagte er dasselbe. Und als sie am nächsten Morgen eine
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Rettungsexpedition nach ihm ausschicken wollten, winkte er ab, denn er konnte doch jetzt,
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nachdem er sich zwei Tage lang auf die Fröhlichkeit hinausgeredet hatte, eine
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Rettungsexpedition nicht mehr zulassen; vor allem nicht angesichts des Mädchens, das täglich
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gegen Abend die Wellen erwartete, die sein Boot warf. Am vierten Tag begann er zu fürchten,
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daß man sich über ihn lustig machen könnte, tröstete sich aber bei dem Gedanken, daß auch
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dies vorüberginge. Und es ging vorüber.
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Seine Freunde verließen, als es kühler wurde, den See, und auch die Kinder kehrten zur Stadt
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zurück, die Schule begann. Das Motorengeräusch von der Uferstraße ließ nach, jetzt lärmte
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nur noch sein Boot auf dem See. Der Nebel zwischen Wald und Gebirge wurde täglich dichter,
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und der Rauch aus den Kaminen blieb in den Wipfeln hängen. Als letztes verließ das Mädchen
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den See. Vom Wasser her sah er sie ihre Koffer auf den Wagen laden. Sie warf ihm eine
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Kußhand zu und dachte: „Wäre er ein Verwunschener, ich wäre länger geblieben, aber er ist
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mir zu genußsüchtig!“
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Bald darauf fuhr er an dieser Stelle mit seinem Boot aus Verzweiflung auf den Schotter. Das
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Boot wurde längsseits aufgerissen und tankt von nun an Luft. In den Herbstnächten hören es
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die Einheimischen über ihre Köpfe dahinbrausen.

Aus: Aichinger, Ilse: Der Gefesselte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1953, S. 87-90.

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