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Basiswissen

HT 1

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Arno Geiger: Unwiderlegbar ist die Gestalt
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Auszug aus der Rede Unwiderlegbar ist die Gestalt von Arno Geiger.
    (42 Punkte)
  • Erläutere, inwiefern sich Arno Geigers Anspruch an die Gestaltung literarischer Figuren in Veit Kolbes Denken und Handeln zeigt. Nimm Stellung zu der Frage, inwieweit die von Arno Geiger gewählte Figurengestaltung dazu einlädt, sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
    (30 Punkte)
Material
Unwiderlegbar ist die Gestalt
Rede zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises 2018 (Auszug)
Arno Geiger
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[...] „Willkommen, Grauer“, sagt in Unter der Drachenwand Veit Kolbe zu sich selbst, als
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er in Mondsee am Mondsee eintrifft. Grau ist die Farbe seiner Uniform. Aber grau ist auch
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die Person, nicht schwarz und nicht weiß, ein gemischter Charakter. Grau ist das Zwielicht,
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der Übergang. Meine Figuren befinden sich im Übergang. So ganz wird es bei ihnen nie Tag.
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Und so ganz wird es bei ihnen nie Nacht.
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Veit Kolbe lebt das fünfte, bald sechste Jahr im Krieg, er ist vierundzwanzig Jahre alt, sein
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ganzes bisheriges Erwachsenenleben hat er in Uniform verbracht. Das Prinzip der Freiwillig-
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keit galt nicht in der Wehrmacht, Veit Kolbe hätte lieber studiert. Trotzdem wird er sich zum
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Ende des Romans eingestehen, dass man nicht sechs Jahre im Krieg gelebt haben kann, ohne
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sich schuldig zu machen. Obwohl er kein Interesse am Krieg hatte, „der böse Traum“, wie
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Julien Green den Krieg in einem Brief an Joseph Breitbach nennt, kann Veit Kolbe sich dem
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Krieg nicht entziehen. Der Krieg wird zu einem Teil der Person und die Person zu einem Teil
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des Krieges. Das betraf viele, nur haben die wenigsten es sich eingestanden, ein Erfahrungs-
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wert.
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Veit Kolbe ist lernfähig, mit einem bitteren Unterton: „Ja, schade, dass das, was hinter mir
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liegt, nicht geändert werden kann. Was ich in den vergangenen sechs Jahren begriffen habe,
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ist, dass die Weisheit hinter mir her geht und selten voraus. Am Abend kommt sie und sitzt
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mit am Tisch als unnützer Esser.“
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Wer über Grautöne schreibt, setzt sich zwischen die Stühle. Wer sich zwischen die Stühle
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setzt, landet im Unbequemen. Wo's am unbequemsten ist, da hat die Kunst ihren Platz.
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Joseph Breitbach schreibt, die meisten Autorinnen und Autoren übersehen das Böse, das
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sie bloßstellen und anklagen, gerade dort, wo sie es zuerst entdecken könnten, in sich selbst.
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Wo wäre ich im Krieg gestanden? Das werden sich viele von uns schon einmal gefragt
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haben. Ich bin nicht eingebildet genug, um davon überzeugt zu sein, dass ich mit beiden Füßen
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auf der richtigen Seite gestanden wäre. Als ich vor Jahren bei einer Demonstration einen
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Schriftstellerkollegen von seinem Rednerpult rufen hörte, „Wer jetzt nicht auf unserer Seite
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steht, bei dem weiß man, wo er vor siebzig Jahren gestanden wäre!“, habe ich mir gedacht,
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er ist so von sich überzeugt, dass er vor siebzig Jahren womöglich auf der falschen Seite ge-
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standen wäre.
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Ich glaube, es beschützt einen, wenn man auf der Hut ist. Überzeugtheit behindert das
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Denken. Warum noch nachdenken, wenn ich schon überzeugt bin. Deshalb mag ich keine
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Hundertprozentigen, egal wo sie stehen. Alles Totale ist mir verdächtig. Und so sind meine
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Figuren keine Hundertprozentigen, sondern Graue, Ausdruck davon, dass auch ich mir nicht
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sicher bin.
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Bloß nicht sitzen bleiben, auch beim Schreiben, auch beim Gestalten von Charakteren. Wer
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zu lange sitzen bleibt, setzt sich fest, und wer sich festsetzt, wird versessen. Wer von seiner
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Versessenheit nicht loskommt, wird zum Besessenen. Die Beharrlichkeit der Wörter ist er-
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staunlich. Extremisten sind besessen, sie kennen nur Schwarz und Weiß, sie weigern sich, die
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Welt aus einer andern Perspektive zu betrachten als der eigenen. Deshalb meine Vorliebe für
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Vielstimmigkeit in Romanen. Deshalb meine Vorliebe für gemischte Charaktere. [...]
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Und eins noch, verehrte Damen und Herren: Wie mir jede Schwarzweißmalerei nicht be-
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hagt, habe ich Vorbehalte gegen das sogenannte Perfekte. Ich empfinde einen physischen
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Widerwillen, wenn ich das Wort perfekt in Zusammenhang mit Kunstwerken höre. Ich stelle
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mir vor, dass diejenigen, die sich zum Perfekten hingezogen fühlen, das Leben hassen oder
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Angst vor ihm haben. Denn alles, was perfekt ist, lebt nicht, ist Ergebnis statt Ereignis, ist
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Zustand statt Vorgang. Perfection has no children, heißt es im Englischen. Perfektion hat
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keine Kinder. Denn das Perfekte ist Endpunkt, ist abgeschlossen, und das Abgeschlossene
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steht dem Lebendigen entgegen. Alles Lebendige ist in Bewegung, pulsiert, ist mit Schwächen
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versehen. „Ich tauge etwas durch das, was mir fehlt“, schreibt Paul Valéry. Meine Figuren
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taugen etwas durch das, was ihnen fehlt. Dadurch, dass ihnen etwas fehlt, sind sie unwider-
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legbar.
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Das größte Lob für ein Kunstwerk: Lebendig!
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Wir leben in einer Gesellschaft, die sich im Umgang mit Mängeln schwertut und nach
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Vollkommenheit strebt. Aber in einer Gesellschaft, die nach Vollkommenheit strebt, sucht
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man ständig nach Schuldigen, weil die Vollkommenheit sich nicht einstellen will. Angebli-
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che Vollkommenheit – Perfektion – ist in meinen Augen Kitsch, eine künstlich geordnete
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Welt. Wir finden sie in Liebesromanen, in denen man sofort weiß, mit wem man es zu tun
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hat, und in Romanen über das Dritte Reich, in denen man sofort weiß, mit wem man es zu tun
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hat, Schafe und Böcke aufs Strengste geschieden, zum tausendsten Mal über allem die eine
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und einzige Frage: Was habe ich mit den Tätern zu tun? Natürlich nichts! Abbild einer künst-
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lichen Ordnung, die es vorzieht, den Menschen in seiner Vielschichtigkeit zu übersehen.
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Das Gefährliche an einer von Kitsch geprägten Weltsicht ist in meinen Augen, dass ein
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tieferes Verständnis für das Leben abhandenkommt. Und wo ein tieferes Verständnis für das
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Leben abhandenkommt, sind Menschen für das Unerwartete nicht mehr gerüstet und können
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Unzulänglichkeiten immer weniger akzeptieren. Populisten, die mit geordneten Weltbildern
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hausieren, machen sich das zunutze.
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Kunst bewahrt den Menschen nicht vor dem Chaos, sondern vor der Ordnung. Kunst be-
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wahrt das Individuum vor dem eindimensionalen Blick. Einzigartig ist der Mensch nicht auf
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einfache, sondern auf komplizierte Art. Wie schon gesagt, alles, was lebt, ist in Bewegung,
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ist veränderlich, kann nicht festgelegt werden. Meine Bücher versuchen, den Menschen in
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seiner Vielgestalt und Widersprüchlichkeit sichtbar zu machen. [...]

Aus: Arno Geiger: Unwiderlegbar ist die Gestalt. In: Ders.: Der Hahnenschrei. Drei Reden. München: Carl Hanser Verlag 2019, S. 44-49.
(Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.)

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