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HT 4

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Heinrich Böll: An der Brücke
Aufgabenstellung:
  • Analysiere die Kurzgeschichte „An der Brücke“ von Heinrich Böll und erschließe dabei die Gestaltung der Figur des Ich-Erzählers.
    (38 Punkte)
  • Stelle dar, welche Bedeutung die Beziehung zu Margot Neff für die Entwicklung von Veit Kolbe in dem Roman „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger hat. Vergleiche vor diesem Hintergrund die literarische Gestaltung der beiden vom Krieg betroffenen Männerfiguren. Berücksichtige dabei auch die erzählerische Anlage beider Texte.
    (34 Punkte)
Material
An der Brücke (1949)
Heinrich Böll
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Die haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann:
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ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtig-
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keit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern,
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und den ganzen Tag, den ganzen Tag, geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich
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Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken.
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Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die
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Zahl, um so mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn
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viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke…
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Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt nicht. Ich bin ein unzuver-
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lässiger Mensch, obwohl ich es verstehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken.
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Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschlagen, und dann wieder, wenn
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ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich
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wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt an, manchmal
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unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine
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Großzügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen. Sie sind ja so glücklich! Sie reißen mir
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förmlich das Ergebnis jedesmal aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen
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mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu divi-
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dieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht, was. Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute
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über die Brücke gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden. Sie
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lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre Spezialität – und doch, es tut mir leid, daß
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alles nicht stimmt…
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Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt – und sie kommt zweimal am Tage –,
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dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt ein-
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fach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und alle, die in dieser Zeit
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passieren, verschweige ich ihnen. Diese zwei Minuten gehören mir, mir ganz allein, und ich
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lasse sie mir nicht nehmen. Und auch wenn sie abends wieder zurückkommt aus ihrer Eis-
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diele – ich weiß inzwischen, daß sie in einer Eisdiele arbeitet –, wenn sie auf der anderen
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Seite des Gehsteiges meinen stummen Mund passiert, der zählen, zählen muß, dann setzt
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mein Herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen
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ist. Und alle, die das Glück haben, in diesen Minuten vor meinen blinden Augen zu defilieren,
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gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik ein: Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige
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Wesen, die im zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden…
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Es ist klar, daß ich sie liebe. Aber sie weiß nichts davon, und ich möchte auch nicht, daß
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sie es erfährt. Sie soll nicht ahnen, auf welche ungeheure Weise sie alle Berechnungen über
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den Haufen wirft, und ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren langen braunen Haaren
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und den zarten Füßen in ihre Eisdiele marschieren, und sie soll viel Trinkgeld bekommen.
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Ich liebe sie. Es ist ganz klar, daß ich sie liebe.
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Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel, der auf der anderen Seite sitzt und die
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Autos zählen muß, hat mich früh genug gewarnt, und ich habe höllisch aufgepaßt. Ich habe
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gezählt wie verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. Der Oberstatistiker selbst
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hat sich drüben auf die andere Seite gestellt und hat später das Ergebnis einer Stunde mit mei-
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nem Stundenergebnis verglichen. Ich hatte nur einen weniger als er. Meine kleine Geliebte
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war vorbeigekommen, und niemals im Leben werde ich dieses hübsche Kind ins zweite Futur
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transponieren lassen, diese meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und dividiert und
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in ein prozentuales Nichts verwandelt werden. Mein Herz hat mir geblutet, daß ich zählen
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mußte, ohne ihr nachsehen zu können, und dem Kumpel drüben, der die Autos zählen muß,
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bin ich sehr dankbar gewesen. Es ging ja glatt um meine Existenz.
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Der Oberstatistiker hat mir auf die Schulter geklopft und hat gesagt, daß ich gut bin, zuver-
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lässig und treu. „Eins in der Stunde verzählt“, hat er gesagt, „macht nicht viel. Wir zählen
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sowieso einen gewissen prozentualen Verschleiß hinzu. Ich werde beantragen, daß Sie zu
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den Pferdewagen versetzt werden.“
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Pferdewagen ist natürlich die Masche. Pferdewagen ist ein Lenz wie nie zuvor. Pferde-
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wagen gibt es höchstens fünfundzwanzig am Tage, und alle halbe Stunde einmal in seinem
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Gehirn die nächste Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz!
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Pferdewagen wäre herrlich. Zwischen vier und acht dürfen überhaupt keine Pferdewagen
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über die Brücke, und ich könnte spazierengehen oder in die Eisdiele, könnte sie mir lange an-
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schauen oder sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine, ungezählte Geliebte...

Anmerkung zum Autor:
Heinrich Böll wurde 1917 in Köln geboren. Kurz nach Antritt des Studiums der Germanistik und klassischen Philologie
wurde Böll 1939 in die Wehrmacht einberufen und war bis zum Ende des Krieges 1945 Soldat. Die Erfahrungen des
Krieges und die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland bilden die zentralen
Themen seines literarischen Werkes, für das er 1972 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.
Böll starb 1985 in Kreuzau-Langenbroich.
Aus: Heinrich Böll: An der Brücke. In: Ders.: Weke. Kölner Ausgabe. Band 4. Hrsg. von Hans Joachim Bernhard.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, S. 53–55.

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