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Basiswissen

HT 1

Analyse eines Sachtextes

Thema:
Kübra Gümüşay: Sprache und Sein
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Textauszug aus Kübra Gümüşays Schrift Sprache und Sein.
    (38 Punkte)
  • Stelle die Theorie von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf zum Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit in Grundzügen dar. Vergleiche diese mit der Position von Kübra Gümüşay. Nimm abwägend Stellung zu der von der Autorin aufgeworfenen Frage, ob wir eine Sprache brauchen, „die gänzlich darauf verzichtet, Menschen nach ihrer Geschlechtsidentität zu kategorisieren“ (Z. 49 f.).
    (34 Punkte)
Material
Sprache und Sein (Auszug, 2020)
Kübra Gümüşay
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Stellen Sie sich vor, Folgendes geschieht: Ein Vater und ein Sohn sind mit dem Auto unter-
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wegs und haben einen Unfall, bei dem beide schwer verletzt werden. Der Vater stirbt wäh-
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rend der Fahrt zum Krankenhaus, der Sohn muss sofort operiert werden. Bei seinem Anblick
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jedoch erblasst einer der diensthabenden Chirurgen und sagt: „Ich kann ihn nicht operieren –
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das ist mein Sohn!“
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Wer ist diese Person? Die Wissenschaftlerin Annabell Preussler verwendet dieses Beispiel,
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um zu verdeutlichen, welche Bilder sich aufgrund unseres Sprachgebrauchs in unseren Köpfen
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festsetzen. Die Antwort lautet: Es ist die Mutter.
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Warum sorgt diese Geschichte im ersten Moment für Irritation? Weil wir uns – wenn von
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einem „Chirurgen“ die Rede ist – einen Mann vorstellen, keine Frau. Wir tun das, weil die
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deutsche Sprache nicht nur geschlechtsspezifische Pronomen kennt, sondern auch einen Genus,
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also ein grammatikalisches Geschlecht – anders als beispielsweise das Englische, in dem der
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teacher sich auf eine Lehrerin oder einen Lehrer beziehen kann. Trotz dieser Unterscheidungs-
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möglichkeit gibt es die Konvention des generischen Maskulinums, die dazu führt, dass die
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Berufsbezeichnung Lehrer Männer wie Frauen umfassen soll.
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Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg argumentiert, dass mit einer solchen Sammel-
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bezeichnung weder Männer noch Frauen gemeint seien, sondern eben alle, die lehren. Nur
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die Tätigkeit sei interessant. Damit wird jedoch der männliche Standpunkt als neutral universalisiert
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und die männliche Form als Standard vorgegeben. Wenn also weder Männer noch
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Frauen gemeint sind – warum dann nicht einfach die weibliche Form nehmen? Das schlägt
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Luise F. Pusch vor, Mitbegründerin der feministischen Sprachwissenschaft in Deutschland.
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Wenn also die Berufsbezeichnung Lehrerin lautete, ließe sich dann immer noch behaupten,
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es seien all jene gemeint, die lehren?
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Das Gedankenspiel verdeutlicht die Unzulänglichkeit des generischen Maskulinums. Es
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reicht nicht aus, dass Frauen – womöglich – mitgemeint sind, wenn sie nicht auch von allen
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mitgedacht werden, die den Begriff verwenden.
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Die Wissenschaftlerinnen Dagmar Stahlberg, Sabine Sczesny und Friederike Braun haben
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den Einfluss geschlechtergerechter Sprache auf unser Denken in folgendem Experiment auf-
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gezeigt: Sie legten 50 Frauen und 46 Männern, unterteilt in drei Gruppen, jeweils einen Frage-
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bogen vor. Die Fragebögen waren alle exakt gleich, sie unterschieden sich einzig in der Ge-
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schlechterbezeichnung. Während die einen nach ihren liebsten Romanhelden befragt wurden,
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wurde die zweite Gruppe nach ihren liebsten Romanfiguren und die dritte nach ihren liebsten
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RomanheldInnen befragt. Also mit männlicher, geschlechtsneutraler und schließlich männ-
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lich-weiblicher Begriffsform, dem Binnen-I.
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Weibliche RomanheldInnen wurden am häufigsten in der geschlechtsneutralen und der
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männlich-weiblichen Begriffsform genannt, deutlich weniger dagegen in der ersten Gruppe,
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also jener, bei der die männliche Form vermeintlich Figuren beiderlei Geschlechts „neutral“
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umfasst. Viele ähnliche Studien, die sich mit dem Gebrauch der männlichen Sprachform be-
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schäftigen, haben das gleiche Ergebnis erbracht: Frauen werden gedanklich weniger einbe-
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zogen.
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Wie lässt sich dieses Problem lösen? Darüber wird seit Jahrzehnten gestritten und debat-
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tiert. Sollen wir ein Binnen-I verwenden (und damit eine binäre Geschlechterdarstellung
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sprachlich zementieren)? Einen Unterstrich (und damit die weibliche Form als Anhängsel
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in weite Ferne vom männlichen Wortstamm rücken)? Einen Doppelpunkt? Ein Ausrufezei-
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chen? Ein Sternchen? Ein X? Und wie sprechen sich diese Schreibweisen jeweils aus? Was
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würde sich im Sprachgebrauch durchsetzen? Trotzdem bleibt die Frage: Bekämpfen diese
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Vorschläge nur Symptome? Brauchen wir vielleicht eine neue, sichtbar nicht neutrale Endung
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für die männlichen Formen? Damit Lehrer tatsächlich all jene meint, die lehren? Damit der
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Mann nicht mehr der Standard ist? Oder brauchen wir eine Sprache, die gänzlich darauf ver-
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zichtet, Menschen nach ihrer Geschlechtsidentität zu kategorisieren? Bei Sprachen wie Swahili,
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Usbekisch, Armenisch, Finnisch oder Türkisch ist das der Fall. [...]
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Klar ist: Wir müssen uns mit der Architektur der Sprache beschäftigen, die unsere Realität
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erfassen soll. Damit wir aussprechen können, was ist. Damit wir sein können, wer wir sind.
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Damit wir sehen können, wer die jeweils anderen sind.
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Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen
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meiner Welt.
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Ludwig Wittgenstein
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Bei einem Abendessen in einer diversen Runde habe ich über dieses Thema gesprochen –
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darüber, wie Sprache Menschen ausgrenzen kann. Viele am Tisch stimmten mir zu und berich-
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teten von eigenen Erfahrungen, bis sich eine Frau zu Wort meldete, die bis dahin geschwie-
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gen hatte. Sie sagte, sie sei überrascht, dass ich und auch andere im Raum sich so für Unge-
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rechtigkeiten in der Sprache interessierten. Sie selbst habe sich nie vom generischen Maskuli-
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num ausgeschlossen, nie durch Sprache begrenzt gefühlt. [...]
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Ein bisschen ratlos hörte ich ihr zu. Und dachte: Vielleicht kann sich ein Mensch, der noch
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nie gegen eine Mauer gelaufen, der noch nie hart auf den Boden der Machtlosigkeit, des Kon-
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trollverlusts, der Demütigung, der Einsamkeit oder der Sprachlosigkeit geschlagen ist – viel-
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leicht kann so ein Mensch sich die Mauern, die sich tatsächlich durch unsere Gesellschaft zie-
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hen, gar nicht vorstellen. Vielleicht läuft dieser Mensch neben einer solchen Mauer entlang,
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ohne sie auch nur zu spüren. Ohne zu ahnen, dass sie für viele andere [...] real ist.
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Eine inzwischen berühmte Analogie des US-amerikanischen Autors David Foster Wallace
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ist ein bildlicher Ausdruck dessen, was Sprache und ihre Macht für mich bedeuten: „Schwim-
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men zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegen-
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richtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‘ Die
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zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem ande-
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ren einen Blick zu und sagt: ‚Was zum Teufel ist Wasser?‘“
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Sprache in all ihren Facetten – ihr Lexikon, ihre Wortarten, ihre Zeitformen – ist für Men-
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schen wie Wasser für Fische. Der Stoff unseres Denkens und Lebens, der uns formt und prägt,
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ohne dass wir uns seiner in Gänze bewusst wären. Wenn ich dieses Bewusstsein herstelle,
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wenn ich die Grenzen meiner eigenen Wahrnehmung spüre, dann löst das Demut in mir aus.
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Demut vor der Welt, die ich nur aus meinem eingeschränkten Blickwinkel betrachte. Ich bin
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dankbar für das Bewusstsein um die Existenz dieser Grenzen – ich hoffe, sie bewahren mich
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davor, mit unwandelbaren Prämissen und Grundannahmen durch die Welt zu gehen. Das Be-
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wusstsein für unsere Grenzen relativiert die Dinge, die wir ignorant voraussetzen. Die Dinge,
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die wir als universal postulieren – definieren sie doch nichts mehr als die Grenzen unseres
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Horizonts.
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Die Begrenztheit meiner Wahrnehmung ist aber auch Antrieb – sie veranschaulicht mir,
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wie viel ich noch lernen, aufsaugen und verstehen kann. Wenn Sprache unsere Betrachtung
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der Welt so fundamental lenkt – und damit auch beeinträchtigt –, dann ist sie keine Banalität,
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kein Nebenschauplatz politischer Auseinandersetzungen. Wenn sie der Stoff unseres Denkens
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und Lebens ist, dann müsste es selbstverständlich sein, dass wir uns immer wieder fragen, ob
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wir einverstanden sind mit dieser Prägung.

Anmerkung zur Autorin:
Kübra Gümüşay (* 1988 in Hamburg) hat in Hamburg und London Politikwissenschaften studiert. Sie lebt in Hamburg
und arbeitet als Journalistin. Kübra Gümüşay schreibt zu den Themen Rassismus, Feminismus, Netzkultur und setzt sich
mit Fragen gesellschaftlicher Vielfalt auseinander. Weiterhin betätigt sie sich als politische Aktivistin.
Aus: Kübra Gümüşay: Sprache und Sein. 10. Auflage. Berlin/München: Hanser Berlin 2020, S. 19 – 23.

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