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Analyse eines Sachtextes

Thema:
Steven Pinker: Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den vorliegenden Auszug aus Steven Pinkers Studie Der Stoff, aus dem das Denken ist im Hinblick auf die Position des Autors und die Aussagen des Textes in ihrer gedanklichen Entfaltung. Berücksichtige dabei die Argumentationsweise und die Art der Leserlenkung.
  • (40 Punkte)
  • Stelle Grundannahmen unterschiedlicher Theorien über das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit dar. Setze Pinkers Ansatz zu diesen Konzepten in Beziehung. Nehme abwägend Stellung zu Pinkers Position.
  • (32 Punkte)
Material
Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät (Textauszug)
Steven Pinker
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Es folgt eine weitere interessante Version der Whorf’schen Hypothese:
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[...] Jede Sprache zwingt ihre Sprecher, ihre Aufmerksamkeit bestimmten Aspekten der Welt
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zuzuwenden, sobald sie Sätze bilden oder interpretieren. So müssen wir uns im Deutschen,
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sobald wir den Mund zum Äußern eines Satzes öffnen, Gedanken über das Tempus machen –
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über die Zeitrelation zwischen dem Ereignis, über das wir sprechen, und dem Moment, in dem
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wir sprechen. Andere Sprachen, etwa Türkisch, verlangen von ihren Sprechern anzugeben, ob
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sie dem Ereignis beigewohnt oder nur über Hörensagen davon erfahren haben. Ein weiteres
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Beispiel: Räumliche Begriffe wie in und auf unterscheiden im Deutschen, grob gesagt, Um-
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schließen von Stützen ; koreanische Raumverben ignorieren diese Differenzierung und beach-
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ten ihrerseits, ob ein Inhalt lose in einem Behälter sitzt (wie Obst in einer Schale und Blumen
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in einer Vase) oder fest (wie ein Legostein, der auf einem anderen steckt, eine Kassette in ihrer
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Hülle oder ein Ring an einem Finger). Und noch eins: Deutsche Verben (wie treiben) können
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die Bewegung an sich mit einer speziellen Art von Bewegung kombinieren, während sie die
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Angabe der Bewegungsrichtung einer Präpositionalphrase überlassen, wie in Das Kanu trieb
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in die Höhle. Spanische und griechische Verben kombinieren die Bewegung an sich häufig
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mit einer Bewegungsrichtung und hängen die Art der Bewegung in einem Nachsatz an, etwa
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wie Das Kanu gelangte-in die Höhle, treibend.
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Somit muss die Sprache das Denken insofern beeinflussen, als die Sprecher verschiedene
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Dinge beachten, wenn sie Wörter auswählen und sie zu einem Satz zusammenfügen; diesen
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Effekt nennt man „Denken zum Sprechen“ („thinking for speaking“) . Die Frage ist, ob sich
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die lebenslange Gewohnheit, auf bestimmte Unterscheidungen zu achten und andere zu igno-
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rieren, auch auf das Denken zum Denken ausweitet – das heißt, auf logische Überlegungen zu
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Gegenständen und Ereignissen, die über den bloßen Zweck, sie zu beschreiben, hinausgehen.
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Haben Deutschsprecher, im Vergleich zu den Sprechern anderer Sprachen, Probleme damit,
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den Unterschied zwischen selbst erlebten und erzählten Ereignissen zu erfassen oder den zwi-
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schen lose und fest sitzenden Behältern oder das Bewegen in eine Richtung? Die Antwort auf
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diese Frage erübrigt sich – natürlich beherrschen wir diese Differenzierungen in unserem Um-
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gang mit der sozialen und physikalischen Welt. Obwohl also das „Denken zum Sprechen“
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vermutlich das Thema ist, das im Rahmen des Neo-Whorfianismus am aktivsten erforscht
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wird, sind die Wissenschaftler bislang davor zurückgeschreckt, den Sprachlichen Determinis-
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mus diesen Tests zu unterziehen, und zielen auf weitaus schwächere Behauptungen ab. So
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fragen sie, ob Englischsprecher, denen man vage Aufgaben stellt, wie das Benennen des nicht
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passenden Beispiels in einer Reihe von Handlungen, größere Probleme als Koreanischspre-
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cher damit haben, diejenige Handlung herauszupicken, bei der der Unterschied von der Enge
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des Behälters abhängt. Einige Experimente bestätigen einen Einfluss der Sprache auf diese
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Beurteilungen, andere nicht.
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Es sollte uns nicht überraschen, dass die Auswirkungen des Denkens zum Sprechen auf das
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Denken selbst bestenfalls geringfügig sind. Konzepte wie das Ineinanderpassen von Dingen
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und ob man etwas mit eigenen Augen gesehen oder nur davon gehört hat, sind für das mensch-
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liche Leben von so großer Bedeutung, dass die historischen Zufälligkeiten, die eine bestimmte
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Sprache geformt haben, wohl kaum die kulturellen und kognitiven Ressourcen überwiegen,
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mit deren Hilfe wir mit diesen Konzepten umgehen. Und es liegt nicht einmal auf der Hand,
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dass das lebenslange sprachliche Codieren einer Unterscheidung diese Unterscheidung bei
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sonstigen Überlegungen präsenter macht. Genauso wahrscheinlich könnte das Gegenteil ge-
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schehen. Sobald sich nämlich ein Denkprozess automatisiert, wird er als kognitiver Reflex tief
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ins Sprachsystem eingebettet, und seine inneren Mechanismen sind dem Bewusstsein nicht
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mehr zugänglich – ebenso wenig, wie wir bewusst über die Bewegungen unserer Finger nach-
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denken, wenn wir uns die Schuhe binden.
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Ein paar Beispiele aus dem wirklichen Leben illustrieren, warum das Denken zum Sprechen
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vielleicht nur wenig Einfluss auf das Denken selbst hat. Nehmen wir die Semantik des Tem-
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pus. In der deutschen wie auch der englischen Grammatik spielt das Tempus eine wichtige
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Rolle, und nach der Whorf’schen Logik sollten Englischsprecher aufgrund ihrer lebenslangen
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Sprachpraxis ganz besonders sensibel für die zahlreichen Relationen zwischen einem Ereig-
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nis und dem Zeitpunkt des Sprechens sein. Detektive und Staatsanwälte können das jedoch
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nicht bestätigen: Die automatische Berechnung der Reihenfolge von Ereignissen ist im Sprach-
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system verankert und verleitet Verdächtige dazu, sich mit ihren Worten selbst zu verraten.
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Susan Smith, die ihre beiden Söhne 1994 ertränkt und dann behauptet hatte, sie seien entführt
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worden, belastete sich selbst, als sie zu Reportern sagte: „Meine Kinder verlangten nach mir.
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Sie brauchten mich. Und nun kann ich ihnen nicht helfen.“ Die reflexhafte Verwendung der
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Vergangenheitsform verriet ihr Wissen, dass die Kinder zu dem Zeitpunkt bereits tot waren.
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Die gleiche Grammatikkomponente brachte Scott Peterson womöglich die tödliche Giftspritze
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ein: Die Staatsanwälte schlossen auf seine Schuld, als er schon in der Vergangenheitsform
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über seine Frau und seinen ungeborenen Sohn sprach, bevor ihre Leichen gefunden wurden.
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Demzufolge half die Gewohnheit von Englischsprechern, das Tempus zu bestimmen, ihnen
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nicht dabei, spontan das Richtige zu sagen oder zu verschweigen – und das, obwohl sie außer-
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ordentlich motiviert hätten sein müssen, bewusst über die Reihenfolge der Ereignisse nach-
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zudenken, denn es ging für sie buchstäblich um Leben oder Tod.

Anmerkungen zum Autor:
Steven Pinker (* 1954) ist ein amerikanisch-kanadischer Sprachwissenschaftler und Psychologe. In seiner Studie Der Stoff,
aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät
setzt er sich mit dem Verhältnis von Sprache
und Denken auseinander. Im vorliegenden Auszug knüpft er an eine bestimmte Version der Hypothese von Whorf an
und entwickelt auf dieser Grundlage seine eigene Position.
Aus: Steven Pinker: Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät. Frankfurt am Main:
Fischer 2014, S. 172 ff. (Das amerikanische Original ist 2007 erschienen.)

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