HT 3
Vergleichende Analyse literarischer Texte
Thema: Ingeborg Bachmann: Die Welt ist weit Günter Kunert: Der Reisende blickt zurück Aufgabenstellung:- Analysiere Ingeborg Bachmanns Gedicht Die Welt ist weit unter besonderer Berücksichtigung des Reisemotivs.
(39 Punkte)
- Analysiere Günter Kunerts Gedicht Der Reisende blickt zurück. Vergleiche die beiden Gedichte von Bachmann und Kunert im Hinblick auf ihre jeweilige Aussage und Gestaltungsweise.
(33 Punkte)
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Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land,
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und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt,
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ich habe von allen Türmen Städte gesehen,
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die Menschen, die kommen werden und die schon gehen.
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Weit waren die Felder von Sonne und Schnee,
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zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See.
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Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr
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und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor.
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Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus,
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mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus.
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Die Fahrt ist zu Ende,
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doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen,
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jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen,
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jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt,
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in jedem Schatten zerriß mein Gewand.
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Die Fahrt ist zu Ende.
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Noch bin ich mit jeder Ferne verkettet,
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doch kein Vogel hat mich über die Grenzen gerettet,
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kein Wasser, das in die Mündung zieht,
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treibt mein Gesicht, das nach unten sieht,
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treibt meinen Schlaf, der nicht wandern will ...
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Ich weiß die Welt näher und still.
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Hinter der Welt wird ein Baum stehen
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mit Blättern aus Wolken
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und einer Krone aus Blau.
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In seine Rinde aus rotem Sonnenband
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schneidet der Wind unser Herz
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und kühlt es mit Tau.
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Hinter der Welt wird ein Baum stehen,
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eine Frucht in den Wipfeln,
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mit einer Schale aus Gold.
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Laß uns hinübersehen,
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wenn sie im Herbst der Zeit
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in Gottes Hände rollt!
Anmerkung zur Autorin:
Ingeborg Bachmann lebte von 1926 bis 1973. Seit 1952 betätigte sie sich als freie Schriftstellerin.
Bachmann verfasste zunächst Gedichte, wandte sich dann aber auch der Prosa zu. Aus: Ingeborg Bachmann: Die Welt ist weit. In: Dies.. Sämtliche Gedichte. 11. Auflage. München Piper Verlag 2017, S. 32 f. Material 2 Der Reisende blickt zurück (2019) Günter Kunert
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verwundert über die zurückgelegte
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Strecke, die ungezählten Meilen,
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die endlosen Straßen, die einsamen Pfade,
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die den Abdruck der Sohlen verleugnen.
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Alles Irrwege, Umwege des einen
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und einzigen Heimwegs. Am Ende
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fällt doch die Tür ins Schloss,
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verweht das letzte Kalenderblatt,
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kraftlos durch die Mühen
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der hastigen Zeiten
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wie ich.
Anmerkung zum Autor:
Günter Kunert lebte von 1929 bis 2019. Bis 1979 lebte er in der DDR, danach in der Bundesrepublik.
Das Gedicht stammt aus Kunerts letztem Lyrik-Band Zu Gast im Labyrinth, der kurz nach Kunerts Tod erschienen ist. Aus: Günter Kunert: Der Reisende blickt zurück. In: Ders.: Zu Gast im Labyrinth. Neue Gedichte. Hrsg. von Wolfram Benda.
München: Carl Hanser Verlag 2019, S. 70.
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Interpretation Die Welt ist weit
Formale Analyse- Fünf Strophen mit abwechselnder Versanzahl
- Bis auf die erste Strophe liegt die durchschnittliche Versanzahl der darauffolgenden Strophen bei 5-7 Versen.
- Unregelmäßiger Paarreim, der nach der dritten Strophe nicht mehr vorhanden ist
- Korrespondenz der Strophen zwei und drei sowie vier und fünf durch Wiederholung in Form von gleichen Satzanfängen („Die Fahrt ist zu Ende“ V.11, 16; „Hinter der Welt ... “ V. 23, 29), appellatives Ansprechen der Leser*innen durch Verwendung des Imperativs (V. 32 ff.)
- Weitere Stilmittel: Anaphern in V. 13, 14 und 20, 21; Vielzahl an Personifikationen: V. 7, 8, 14, 15, 21, 34; Alliterationen im Titel, V. 1, V. 5 f., parataktische Satzreihung in V. 11 ff., V. 16 ff. sowie Hyperbeln in V. 2, V. 3 und Metaphern in V. 7, V. 9, V. 10
- Der Erzählverlauf in Die Welt ist weit kann als linear verlaufend eingestuft werden, da die Erzählerin sich an den zeitlichen Konventionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft orientiert und keine zeitlichen Rückblenden oder Sprünge stattfinden.
- Der erzählerische Werdegang in Die Welt ist weit darf als eine Art letzte Reise verstanden werden, auf die uns lyrische Ich als Leserschaft mitnimmt. Das lyrische Ich blickt am Ende des Werks dem Jenseits als eine Art Befreiung zu.
- Es kann von einer temporalen Trias ausgegangen werden, die sich im Rückblick auf die Vergangenheit (Strophe 1), der Auseinandersetzung mit der Gegenwart (Strophe 2, 3) sowie die Vorausschau auf die Zukunft (Strophe 4, 5) zeigt.
- In der ersten Strophe, die sich über 10 Verse erstreckt, schwelgt das lyrische Ich in der Vergangenheit. Anfänglich werden positive Naturbeschreibung der Reiselandschaft sowie gesammelte Erfahrungen und die Darstellung der Vielfalt der bisher besuchten Reiseziele wiedergegeben.
- In der Beschreibung von Menschenmassen (Vgl. Z. 4) und Gebäuden (Vgl. Z. 3) liegt eine Zweidimensionalität, die sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Draufsicht auf das Geschehen ermöglicht.
- Veränderung des Gemütszustandes des lyrischen Ichs in Trägheit, Lustlosigkeit, Unzufriedenheit und negatives Mindset über die Länge des Gedichts hinweg
- Menschenmengen und Gesänge vermitteln nicht länger Leben und Frohsinn, sondern Einsamkeit und Ruhe.
- Besonders eindrücklich lässt sich das Motiv des Reisens und damit auch der Bewegung anhand des stetigen Flusses im Gedicht erkennen, exemplarische Formulierungen sind „Menschen, die kommen werden und die schon gehen“ (Z. 4) oder „zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See“ (Z. 6)
- Auch die fürs Reisen typische Erfahrung mit allen Sinnen kann als Reisemotiv verstanden werden. So erfasst die Erzählerin die Momente unter anderem mit ihrem Geschmackssinn (Vgl. Z. 9), Sehsinn (Vgl. Z. 14) und Hörsinn (Vgl. Z. 6).
- Auch die Vergänglichkeit des Seins kann als Motiv des Reisens gedeutet werden, denn jedem Zauber wohnt ein Ende inne, worüber sich auch das lyrische Ich im Klaren ist. Letzteres ist daran zu merken, dass sich die Erzählerin über das Ende der Reise (Vgl. Z. 11) beschwert, ohne dass sie das Gefühl hat, etwas in ihrem Leben abgeschlossen zu haben (Vgl. Z. 12).
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Im Folgenden wird zur umfassenderen Analyse des vorangegangenen Gedichts Ingeborg Bachmanns noch ein Werk Günter Kunerts hinzugezogen, welches ebenso als thematischen Schwerpunkt das Reisen beinhaltet, wobei auch hier das Reisen als eine Art Reise durchs Leben verstanden werden kann.
- Wie in Die Welt ist weit nimmt auch das lyrische Ich in Der Reisende blickt zurück einen Rückblick auf die bisher gelebte Biografie vor.
- Die Kontemplation der beiden Erzähler über das hinter ihnen liegende Leben in beiden Werken vereint sie thematisch miteinander. Im Zuge des Nachdenkens über das Leben kommt es auch zur Betrachtung des Konzepts der Vergänglichkeit (des Lebens).
Interpretation Der Reisende blickt zurück
Formale und stilistische Analyse- Kunerts Stück besteht aus elf Versen, die jedoch alle eine unterschiedliche Länge vorweisen. So besteht Vers 1 bspw. aus vier Wörtern, während der finale Vers 11 sich auf zwei Wörter beschränkt.
- Ein Reimschema ist in Der Reisende blickt zurück nicht auszumachen, ebenso wenig wie ein durchgängiges Metrum.
- Erzählt wird von einem lyrischen Ich aus der Ich-Perspektive, wobei der Ich-Erzähler keine emotionale Verbindung zu seinen Erzählungen erahnen lässt. Vielmehr wirkt die Erzählerfigur teilnahmslos und als ob sie über das Leben einer anderen Person sprechen würde (neutral, nicht emotional, wenig Adjektive).
- Die allgemein gehaltene Erzählperspektive trotz Ich-Erzähler verstärkt den anonymen Grundcharakter des Stücks.
- Titel: Bereits in der Titelgebung Der Reisende blickt zurück steckt das Thema des Werks, nämlich der Rückblick auf eine Biographie. Somit fungiert der Titel des Gedichts auch gleichzeitig als Motiv.
- Zusammenspiel aus syntaktischer und Bedeutungsebene: Durch die fragmentarische Struktur (bspw. der Verse 1, 2 und 3) wird auf der interpretatorischen Ebene noch einmal die Ziellosigkeit, Ausweglosigkeit und die Verlorenheit des lyrischen Ichs betont.
- Der Autor setzt lokale und temporäre Grenzen und Dimensionen, indem er Formulierungen wie „Strecke, [...] Meilen“ (V. 2), „Pfade“ (V. 3), „fällt [...] die Tür ins Schloss“ (V. 7) oder „verweht das letzte Kalenderblatt“ (V. 8) in den Text einbindet.
- Enjambements: Durch zeilenübergreifende Sätze (V. 1 f., V. 6 f.) verstärkt Kunert den unaufhaltbaren Wandel der Zeit und legt damit zusätzliches Augenmerk auf die Vergänglichkeit des Seins.
- Vergleiche: Das in Vers 8 angeführte „verweht[e] [...] Kalenderblatt“ kann als Vergleich zum lyrischen Ich, dessen Lebensreise sich nun am Ende befindet, verstanden werden. Auch die darauffolgenden Worte „wie ich“ (V. 11) im finalen Vers verweisen auf die Vergleichbarkeit mit der Erzählfigur. Ebenso zwischen dem „einzigen Heimweg[...]“ (V. 8) und der letzten Reise, der Reise Richtung unausweichlichem Tod, kann ein Vergleich gezogen werden.
- Wortwahl: Durch die Verwendung nachteilig konnotierter Formulierungen wie „endlos“, „einsam“ (V. 2) oder „verleugnen“ (V. 3), „kraftlos“ (V. 9) und „hastig“ (V. 10) verdeutlicht der Schriftsteller die abnehmende Lebensfreude, Kraft und Energie des lyrischen Ichs und Lebensreisenden. Besonders das Wort „hastig“ (V. 10) zeigt außerdem das Tempo der Zeit auf, mit welchem besonders im hohen Alter nicht mehr mitgehalten werden kann, was jedoch allgemein zu hoch ist und worunter die Lebensqualität jedes Einzelnen leiden kann.
- In Vers I scheint das lyrische Ich überrascht darüber, bereits so viele Jahre zurückgelegt zu haben. Auf der anderen Seite denunziert die Erzählinstanz die Bedeutung dieses Lebenswegs, indem er mit „Irrwege[n] [und] Umwege[n]“ (V. 5) verglichen wird.
- Ebenfalls in Vers 5 wird auf die Ziellosigkeit des vollzogenen Lebens hingewiesen, indem die Formulierung „Irrwege“ verwendet wird.
- In dem kurzen Gedicht Kunerts wird verdeutlicht, wie die Zeit verstreicht, ohne dass bedeutende Erlebnisse gesammelt wurden. Überdies haftet dem Erzählten ein Hauch von Hoffnungslosigkeit an, indem auf den bevorstehenden Tod als „einzige[r] Heimweg“ (V. 6) verwiesen wird.
- Kunerts reduzierte Sprache, die durch metaphorische Elemente die vom Schriftsteller angestrebte Botschaft verbildlicht, berührt einen als Leser*in nachhaltiger, als es die einfach gehaltene Sprache zunächst vermuten lässt.
- Durch das ungeschönt beschriebene Ankommen am Ende des Lebens geht eine gewisse Ruhe und Akzeptanz vom lyrischen Ich und Geschriebenen aus.
- Die beiden Gedichte vereinen eine Darstellung des Lebens als Reise und die darauffolgende Reflexion des eigenen Wegs am Ende der eigenen Biografie.
- Sowohl in Bachmanns als auch in Kunerts Weg geht vom lyrischen Ich eine Art innerer Seelenfrieden darüber, nun am Ende des Lebens angelangt zu sein, aus.
- Auch wird in beiden Werken die Präsenz des lyrischen Ichs direkt angesprochen. Beide Stücke folgen außerdem keinem stringent gereimten oder syntaktischen Schema und inkorporieren dafür hingegen auffallend viele metaphorische Elemente in den Text.
- Einen wesentlichen Unterschied weisen Bachmanns und Kunerts Werke auf, wenn es ums Beschreiben des Lebenswegs geht. Während Bachmann das Leben als erfüllende Reise beschreibt, formuliert Kunert es eher als beschwerlichen Weg.
- Auch der Aspekt der Hoffnung ist in den Gedichten unterschiedlich ausgeprägt: In Die Welt ist weit bleibt man als Leser*in mit einer gewissen Vorfreude, af das, was noch kommen mag, zurück. In Kunerts Werk hingegen geht es stärker darum, nun am Ende angelangt zu sein und damit erhält man eher ein beklemmendes Gefühl.
- Sprachlich unterscheiden sich die beiden Gedichte insofern voneinander, als dass Bachmann tendenziell eine blumigere, poetisierte und Kunert eine lakonische, reduzierte Sprache verwendet.