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Vergleichende Gedichtsanalyse
Thema: Joseph von Eichendorff: Der verspätete Wanderer Günter Kunert: Straßen Aufgabenstellung:- Analysiere Joseph von Eichendorffs Gedicht Der verspätete Wanderer unter besonderer Berücksichtigung der Bildlichkeit.
- Analysiere Günter Kunerts Gedicht Straßen und vergleiche es mit Eichendorffs Gedicht. Berücksichtige dabei insbesondere das Motiv des Unterwegsseins und die unterschiedliche Entstehungszeit der beiden Gedichte.
(36 Punkte)
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Wo aber werd ich sein im künftgen Lenze?
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So frug ich sonst wohl, wenn beim Hüteschwingen
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Ins Tal wir ließen unser Lied erklingen,
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Denn jeder Wipfel bot mir frische Kränze .
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Ich wußte nur, daß rings der Frühling glänze,
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Daß nach dem Meer die Ströme leuchtend gingen,
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Vom fernen Wunderland die Vögel singen,
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Da hatt das Morgenrot noch keine Grenze.
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Jetzt aber wirds schon Abend, alle Lieben
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Sind wandermüde längst zurückgeblieben,
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Die Nachtluft rauscht durch meine welken Kränze,
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Und heimwärts rufen mich die Abendglocken,
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Und in der Einsamkeit frag ich erschrocken:
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Wo werde ich wohl sein im künftgen Lenze?
Anmerkungen zum Autor:
Eichendorff lebte von 1788 – 1857. Die Erstveröffentlichung des Gedichts war 1859. Aus: Ders.: Werke in einem Band. Hrsg. von Wolfdietrich Rasch. 3. Auflage. München/Wien:
Hanser 1984 (Lizenzausgabe für die WBG Darmstadt), S. 444. Material 2 Straßen Günter Kunert
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Straßen: begehbar, gesperrte, verschlammte, zu viele,
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ansteigend, abfallend, grade und krumme zum Ziele,
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gepflastert und steinig, nicht endend, so scheint es;
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bis man da anlangt, ist man schon Aas und beweintes,
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hat einen Platz an der Straße erhalten, doch unter
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dem Boden. Drüber und weiter und unaufhaltsam und munter
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gehen und laufen, marschieren, die leben, die blicken
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nicht rechts, links und rückwärts, spüren die Tücken
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der Straßen erst später, selber schon müde vom Laufen
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harren des Zieles noch, und ohne Verschnaufen
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tappen sie weiter, stürzen wo nieder und fragen vergebens
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den leeren Himmel: Ob denn das Leben der Sinn allen Lebens.
Anmerkungen zum Autor:
Kunert lebte von 1929 bis 2019, bis 1979 in der DDR, danach in der Bundesrepublik.
Das Gedicht aus der erstmals im Jahr 1970 erschienenen Sammlung Warnung vor Spiegeln
entstand zwischen 1965 und 1969 in der DDR. Aus: Ders.: Warnung vor Spiegeln. Gedichte. München: Lyrik- edition 2000, S. 52.
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Einleitung
- Beim vorliegenden Werk handelt es sich um das Gedicht Der verspätete Wanderer von Joseph von Eichendorff, welches er im Jahr 1859 veröffentlichte.
- Das zu interpretierende Gedicht stammt aus: Ders.: Werke in einem Band. Hrsg. von Wolfdietrich Rasch. 3. Auflage. München/Wien: Hanser 1984.
- Thema: Die Auffassung vom Leben als Reise mit unbekanntem Ziel; Vergegenwärtigung des Lebenswandels von jugendlicher Zuversicht zu altersmüder Verunsicherung und Ungewissheit der Zukunft im Alter
- Erzählinstanz: Im Gedicht existiert ein explizites lyrisches Ich, welches einen Rückblick auf die Jugendzeit und Bewusstmachung der Lebenssituation im Alter vornimmt. Das Lebensgefühl des jugendlichen Ichs steht beispielhaft für die Gruppe („wir“, V. 3); Vereinsamung des lyrischen Ichs im fortgeschrittenen Alter
Interpretation Der verspätete Wanderer
Inhalt- Erste Strophe (V. 1-4): Das lyrische Ich erinnert sich an frühere Zeiten, als es noch jünger war und sein Leben losgelöst voller Freude und Leichtigkeit mit Feiern und Wanderungen verbrachte und das Leben genoss.
- Zweite Strophe (V. 5-8): Beschreibung der Schönheit der Natur (Landschaft, Jahreszeiten, Tiere) und das empfundene Glück gegenüber der mannigfaltigen Möglichkeiten, welches einem das Leben als junger Mensch und Wanderer bietet.
- Dritte Strophe (V. 9-11): Das Eingeständnis abnehmender Kräfte und Energie im Leben, welches sich beim Wandern bemerkbar macht, sich jedoch auch auf die übrigen Bereiche im Leben übertragen lässt.
- Vierte Strophe (V. 12-14): Aufgrund der nachlassenden körperlichen Kondition tritt das lyrische Ich den Heimweg an, wobei es sich dabei nicht gut fühlt, was nicht zuletzt auf einen Mangel an Perspektive im Leben zurückzuführen ist.
- Der verspätete Wanderer folgt der Form des Sonnetts. Das Gedicht reflektiert die Jugendzeit in den Quartetten der ersten beiden Verse, dann wird das Alter in den beiden finalen Terzetten thematisiert. Das Sonett bewirkt eine Zuspitzung der Frage nach dem Zieln des Wanderns, Kontrastierung der Sichtweise und Lebenshaltung in der Jugendzeit und im Alter.
- Als Reimschema liegt abba, abba, cca, dda vor, wobei eine Betonung der Einheit des Gedichts durch die a-Reime besteht.
- Die vier Strophen bestehen aus fünfhebigen jambischen Verse mit durchgehend weiblichen Kadenzen.
- Die erste und letzte Zeile des Gedichts dienen als Hinweis auf den Kontrast zwischen der Frage nach dem Wanderziel in der Jugend und im Alter.
- In der Jugend herrscht eine positive Aufbruchstimmung und Neugier, während im Alter eine sorgenvolle Frage nach dem Reise- bzw. Lebensziel entsteht. Das Adverb „Jetzt aber“ in Vers 9 markiert eine „Bruchstelle“ zwischen den Quartetten und Terzetten und verdeutlicht den Kontrast zwischen der Lebenssituation in der Jugend und im Alter.
- Die Onomatopoesie „Die Nachtluft rauscht“ in Vers 11 betont die sinnlich erfahrbaren Natureindrücke und den Kontrast zwischen der Dynamik der Natur und der spürbaren Schwäche des Wanderers.
- Auffällig ist auch der Tempusgebrauch: Das Präteritum wird in den Quartetten verwendet, während das Präsens in den Terzetten vorherrscht (mit Ausnahme des Perfekts in Vers 10), was auf die fortwährende Gültigkeit der Frage hinweist.
- In den Quartetten werden Bewegung, Klang und Frische miteinander verknüpft (z.B. „Hüteschwingen“ (v. 2), „Lied erklingen“ (V. 3), „frische Kränze“ (V. 4)), um die Lebensfreude und Energie des Wanderers auszudrücken. Zudem werden positiv konnotierte Verbformen aus dem Bereich des Lichts und Glanzes verwendet, um die Naturschönheit zu betonen und einen zuversichtlichen und optimistischen Blick in die Zukunft zu unterstreichen.
- Um die Naturschönheit zu betonen und einen zuversichtlichen und optimistischen Blick in die Zukunft hervorzuheben, werden positiv konnotierte Verbformen aus dem Bereich des Lichts und Glanzes verwendet.
- Präpositionale Wendungen wie „nach dem Meer“ (V. 6) und „Vom fernen Wunderland“ (V. 7) betonen die Ausrichtung auf die Ferne und das Erleben der Unendlichkeit, wobei „noch keine Grenze“ (V. 8) darauf hinweist, dass es keine Begrenzung gibt
- In den Terzetten wird eine negativ konnotierte Wortwahl verwendet, um auf die abnehmende Kraft des Wanderers hinzuweisen, wie man zum Beispiel an der Auswahl folgender Wörter erkennen kann: „wandermüde“ (V. 10), „zurückgeblieben“ (V. 10) und „welken“ (V. 11). Die Terzette besitzen einen reflektierenden Charakter.
- Die Quartette beschreiben eher erzählend die vergangene Zeit des jugendlichen erfolgreichen Wanderers, um auf die Kraft und Energie in dieser Lebensphase hinzuweisen. Die Situation des alternden Wanderers wird in einem zwei Strophen umfassenden Satz dargestellt, um das Verwoben-Sein von Abendstimmung, noch ausstehender Zielerreichung und Ermüdung zu verdeutlichen.
- Der Begriff des Wanderers in der Überschrift dient als Ausdruck für das Reisen und das Auf-dem-Weg-Sein, während das Wandern selbst als Metapher für die Lebensreise verwendet wird.
- Das Adjektiv „verspätet“ im Titel weist sowohl auf die noch nicht abgeschlossene Wanderung am Abend hin als auch auf die noch nicht beendete Lebensreise im Alter und das ungewisse Ziel der Reise.
- Der Begriff „Lenze“ (V. 1) besitzt eine Doppeldeutigkeit, da er sowohl auf die Jahreszeit Frühling als auch auf das Alter der Jugend verweist. Lenz wird hier als Bild für den Aufbruch und die Energie verwendet.
- Die Frage in Vers 1 und 14 stellt sowohl die Frage nach dem Ziel der Wanderung als auch metaphorisch die Frage nach der Perspektive in der Zukunft dar.
- Die Tageszeiten dienen als metaphorischer Hinweis auf die verschiedenen Lebensalter: Das „Morgenrot“ (V. 8) symbolisiert die Kraft der morgendlichen Sonne und gleichzeitig die unbegrenzte Kraft und Zuversicht der Jugend. Der „Abend“ (V. 9), die „Nachtluft“ (V. 11) und die „Abendglocken“ (V. 12) weisen sowohl auf die Tageszeit hin als auch auf den Lebensabend und den Wunsch nach einem Zuhause.
- Der junge Wanderer ist von der Ferne und den positiven Erwartungen bezüglich seiner Reiseerlebnisse und -ziele fasziniert, während der alternde Wanderer besorgt auf seine Heimat zurückblickt.
- Die „frischen Kränze“ (V. 4) symbolisieren Belohnungen für das Erreichen von Zielen sowie Vitalität und Lebensmut, während die „welken Kränze“ (V. 11) auf vergangene Belohnungen für erreichte Wanderziele hinweisen und gleichzeitig auf das Alter und den Verlust an Kraft verweisen.
- Die Abendglocken rufen den müden alten Wanderer nach Hause, was metaphorisch auch als Hinweis auf das Ende des Lebens interpretiert werden kann, möglicherweise sogar mit religiöser Konnotation oder als Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod.
- Der Titel des Gedichts weist darauf hin, dass die Wanderung des Ichs ungewöhnlich spät, vielleicht sogar zu spät ist, und deutet gleichzeitig auf das verspätete Erreichen der Heimat oder des Lebensziels hin. Insgesamt drückt die Metaphorik des Alterns und des Abends eine selbstreflektierende Pause aus, in der über die eigene Zukunft nachgedacht wird.
Deutung
- Das Gedicht drückt eine gewisse Skepsis gegenüber der jugendlichen Aufbruchsstimmung und dem Gefühl der Unbegrenztheit der erreichbaren Ziele aus.
- Es stellt die Frage nach dem eigentlichen Ziel des menschlichen Lebens und hinterfragt die Bedeutung von Reiseerlebnissen und -zielen.
- Die existenzielle Erschütterung durch die Erkenntnis des Alterns und den bevorstehenden Tod wird deutlich gemacht, was sich in dem Wort „erschrocken“ (V. 13) im Gedicht äußert. Dieses Bewusstsein des Alterns führt zu einem Prozess des Sich-Bewusstwerdens bezogen auf die eigene Lebensperspektive.
- Das Gedicht regt dazu an, über die eigenen Ziele und den Sinn des Lebens nachzudenken und hinterfragt die Vorstellung von unendlicher Jugendlichkeit und unbegrenzten Möglichkeiten. Es zeigt, dass das Alter und der Tod unausweichliche Aspekte des menschlichen Daseins sind, die es zu akzeptieren gilt.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Im Folgenden wird zur umfassenderen Analyse des vorangegangenen Gedichts Joseph von Eichendorffs noch ein Gedicht Günter Kunerts, Straßen, hinzugezogen, welches ebenso als thematischen Schwerpunkt das Reisen beinhaltet, wobei auch hier das Reisen als eine Art Reise durchs Leben verstanden werden kann.
Interpretation Straßen
Erzählperspektive- Das Gedicht enthält kein lyrisches Ich, sondern zeigt eine Reflexion des verborgenen Sprechers über das In-Bewegung-Sein und Ankommen.
- Das Sprechen erfolgt aus einer reflektierenden Perspektive eines beobachtenden Sprechers.
- Es wird in verallgemeinernder, distanzierter und unpersönlicher Weise über die Menschen im Allgemeinen gesprochen, indem Begriffe wie „man“ (V. 4) und „die leben“ (V. 7) verwendet werden.
- Erster Abschnitt (V. 1-4): Die ersten vier Verse des Gedichts beschreiben eine Vielfalt an endlos erscheinenden Straßen, die scheinbar keine Grenzen haben.
- Zweiter Abschnitt (V. 5-6): In den Versen 5 und 6 wird die Unmöglichkeit betont, diese Straßen zu bewältigen, während gleichzeitig die Unvermeidbarkeit des Sterbens hervorgehoben wird.
- Dritter Abschnitt (V. 6-11): Hier wird gezeigt, dass die Menschen fortwährend und auf unterschiedliche Weise diese Straßen begehen, ohne jedoch ein klares Ziel zu erkennen oder über ihre Richtung nachzudenken.
- Vierter Abschnitt (V. 11-12): Es wird vergeblich nach dem Sinn des Lebens gefragt, wobei möglicherweise die Möglichkeit besteht, dass der Sinn im Leben selbst gefunden werden kann.
- Der Titel „Straßen“ fungiert als zentrales Motiv und Bild für die metaphorische Darstellung der Lebensreise des Menschen. Die Verwendung der Pluralform „Straßen“ weist auf die Beliebigkeit des gewählten Weges hin.
- Die Syntax des Gedichts ist stark von Reihungen geprägt, um die Unendlichkeit der Wege und die Unterschiedlichkeit ihrer Beschaffenheit zu betonen. Antithesen in Verbindung mit „Und“-Fügungen werden verwendet, um die scheinbar unendlichen Möglichkeiten der Fortbewegung zu unterstreichen.
- Ein Einschnitt in Vers 6 durch das Satzende verdeutlicht die unterirdische Position und das Erreichen eines Endpunktes.
- Die Formulierung „so scheint es“ (V. 3) betont die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Laufenden.
- Enjambements werden eingesetzt, um das fortwährende Laufen zu verdeutlichen (V. 6 ff.). „Und“-Fügungen und Einschiebungen wie „selber schon müde vom Laufen“ (V. 9) verlangsamen die Laufgeschwindigkeit und spitzen die Unvermeidbarkeit des Strauchelns zu.
- Das Substantiv „Aas“ (V. 4) wird verwendet, um tierische Kadaver zu beschreiben und symbolisiert menschliche Leichen am Ende der Lebensreise.
- Das Gedicht schließt mit einer indirekten Frage, die den fehlenden Glauben an ein transzendentes, sinngebendes Ziel („den leeren Himmel“ (V. 12)) zum Ausdruck bringt.
- Das Gedicht Straßen kann als eine Darstellung der Lebenswege des modernen Menschen interpretiert werden, der niemals ankommt. Das Motiv der Straßen dient als Metapher für die unendlichen Wege, denen der Mensch nicht entkommen kann. Es wird betont, dass diese Wege keine klare Richtung oder eindeutiges Ziel haben.
- Die Suche nach Sinn und Bedeutung im Transzendenten wird als vergeblich dargestellt. Stattdessen wird die Frage aufgeworfen, ob die Möglichkeit der Sinngebung nur im Leben selbst liegt. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Mensch seinen eigenen Sinn und Zweck finden muss, anstatt ihn in etwas Höherem oder Transzendentem zu suchen.
- Die Lebensreise wird als sinnloser und fortwährender Kreislauf dargestellt, ohne ein klares Ziel oder einen endgültigen Ankunftspunkt. Dies kann als Ausdruck moderner Orientierungslosigkeit und Fremdbestimmung interpretiert werden, bei dem der Mensch ständig unterwegs ist, aber nie wirklich ankommt.
- Es besteht auch die Möglichkeit, dass das Gedicht ein kollektives Bewusstsein und eine Kritik an der Lebenssituation der Menschen in der DDR darstellt. Der steinige Weg vom real existierenden Sozialismus zum Kommunismus könnte metaphorisch durch die Straßen repräsentiert werden. Die Unentrinnbarkeit und Beliebigkeit dieser Wege könnten auf die Einschränkungen und Herausforderungen hinweisen, mit denen die Menschen konfrontiert waren.
Vergleich
Gemeinsamkeiten- Beide Gedichte beschäftigen sich mit der Verwendung des Motivs des Wanderns und Gehens, um die Lebensreise des Menschen darzustellen. Dabei wird die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen.
- Es wird darauf hingewiesen, dass der Wandernde anfangs voller Eifer voranschreitet, aber im Laufe der Zeit ermüdet. Dies steht im Kontrast zu der Skepsis gegenüber einem erwartungsvollen Ankommens am Ziel, wie es bereits bei Eichendorff zum Ausdruck kommt.
- Auch Kunert äußert Zweifel an der Möglichkeit, die Straßen erfolgreich zu bewältigen. Die formalen Gestaltungen der Gedichte in einer geschlossenen Form stehen im Kontrast zur inhaltlichen Aussage, dass die Frage nach dem Ziel des menschlichen Lebenswegs nicht beantwortet werden kann.
- Die Gedichte von Eichendorff und Kunert unterscheiden sich in mehreren Aspekten. Bei Kunert verzichtet man auf Versmaß und Strophen, was auf die Modernität des Gedichts hinweist. Im Gegensatz dazu verwendet Eichendorff ein erzählendes und reflektierendes Sprechen eines handelnden lyrischen Ichs, während Kunert reflektierend und distanziert spricht, ohne ein individuelles lyrisches Sprecher-Ich zu haben.
- Eichendorff stellt die Natur und Atmosphäre ausgeschmückt dar, während Kunert sachlich Straßen beschreibt. Eichendorff nutzt das Wander-Motiv und die Tages- bzw. Jahreszeit mit einer Doppeldeutigkeit, um reales Geschehen und die Übertragbarkeit auf die Lebensreise darzustellen. Bei Kunert hingegen wird überwiegend metaphorisch gesprochen.
- Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das moderne Individuum bei Kunert grundsätzlich ziellos ist, was durch die Richtung weisenden Straßen verdeutlicht wird. Bei Eichendorff gibt es jedoch Orientierungsmöglichkeiten für den einsamen Wanderer durch einladende Abendglocken.
- Der Begriff der Heimat und des Nachhausekommens wird bei Eichendorff als mögliche Antwort auf die Sinnfrage betrachtet, während bei Kunert eine vergebliche Sinnsuche im Sinne einer Transzendenz stattfindet. Bei Eichendorff hat der Begriff der Heimat auch religiöse Konnotationen, während bei Kunert die Möglichkeit der Sinngebung ausschließlich im Leben selbst liegt
Schluss
- Das Motiv des Unterwegsseins in den Gedichten von Eichendorff und Kunert zeigt deutliche Unterschiede, die eng mit der Entstehungszeit der Werke verbunden sind. Bei Eichendorff wird das Motiv des Unterwegsseins im romantischen Sinne des Wanderns und Reisens betrachtet. Es symbolisiert nicht nur physische Bewegung, sondern auch eine existenzielle Lebensreise. Das handelnde lyrische Ich reflektiert über seine Erfahrungen und Erlebnisse auf dieser Reise und sucht nach Orientierung und Sinn.
- Im Gegensatz dazu betrachtet Kunert das Motiv des Unterwegsseins in einem modernen Kontext. Es wird geprägt von Vergeblichkeit und fehlender Zielklarheit im menschlichen Leben. Der moderne Mensch ist ziellos und findet seinen Sinn ausschließlich in diesem Leben selbst. Das Unterwegssein wird zur Grundbefindlichkeit des modernen Menschen, der sich in einer Welt ohne klare Richtung oder Orientierung befindet.
- Während bei Eichendorff das Unterwegssein als eine persönliche Lebenserfahrung eines handelnden lyrischen Ichs dargestellt wird, steht bei Kunert die allgemeine Grundbefindlichkeit des modernen Menschen im Vordergrund. Das Ziel und der Sinn des Lebens bleiben unklar, was zu einer grundlegenden Unsicherheit führt.
- Insgesamt verdeutlichen die Gedichte von Eichendorff und Kunert, wie sich das Motiv des Unterwegsseins im Laufe der Zeit verändert hat. Während es bei Eichendorff noch mit romantischen Vorstellungen von Naturverbundenheit und Sinnsuche verbunden ist, spiegelt es bei Kunert die Orientierungslosigkeit und Ziellosigkeit des modernen Menschen wider. Es zeigt sich, dass das Motiv des Unterwegsseins ein vielschichtiges Thema ist, das eng mit der jeweiligen Zeit und dem individuellen Weltbild verbunden ist.