Thema 1
Gedichtinterpretation
Thema: Friederike Brun (* 1765 − † 1835): Ich denke dein (1792) Aufgabenstellung: Interpretiere das Gedicht.- Stelle die Situation des lyrischen Ichs dar.
- Zeige an ausgewählten Beispielen, wie sprachliche und formale Gestaltungsmittel die Aussage des Gedichts stützen.
1
Ich denke dein, wenn sich im Blütenregen
2
Der Frühling malt;
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Und wenn des Sommers mild gereifter Segen
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In Ähren strahlt.
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Ich denke dein, wenn sich das Weltmeer tönend
6
Gen Himmel hebt,
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Und vor der Wogen Wut das Ufer stöhnend
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Zurückebebt.
9
Dein denk’ ich, wenn der junge Tag sich golden
10
Der See enthebt,
11
An neugebornen zarten Blütendolden
12
Der Frühtau schwebt.
13
Ich denke dein, wenn sich der Abend rötend
14
Im Hain verliert,
15
Und Philomelens Klage leise flötend
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Die Seele rührt.
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Dein denk’ ich, wenn im bunten Blätterkranze
18
Der Herbst uns grüsst;
19
Dein, wenn, in seines Schneegewandes Glanze,
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Das Jahr sich schliesst.
21
Am Hainquell, ach! im leichten Erlenschatten
22
Winkt mir dein Bild!
23
Schnell ist der Wald, schnell sind die Blumenmatten
24
Mit Glanz erfüllt.
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Beim trüben Lampenschein, in bittern Leiden,
26
Gedacht’ ich dein!
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Die bange Seele flehte nah’ am Scheiden:
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„Gedenke mein!“
29
Ich denke dein, bis wehende Zypressen
30
Mein Grab umziehn;
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Und selbst in Lethe’s Strom soll unvergessen
32
Dein Name blühn!
Anmerkungen zur Autorin:
Friederike Brun (1765 – 1835) ist eine dänische Schriftstellerin deutscher Herkunft. Aus: Brun, Frederike: Gesprochene Deutsche Lyrik. Ich denke dein (letzter Zugriff am 24.10.2023).
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Lies dir den Text zunächst aufmerksam durch und markiere Satzteile oder Wörter, die dir auffallen. Auch hilft es, wenn du dir stichwortartig Notizen zum Thema des Textes machst.Einleitung
- Das vorliegende Gedicht mit dem Titel Ich denke dein stammt von der Autorin Frederike Brun aus dem Jahr 1792.
- Es lässt sich sowohl in seinem Entstehungszeitraum als auch in seinem Inhalt und seiner Sprache klar der Epoche der Romantik zuordnen.
- Das Werk thematisiert die intensive Bindung zwischen einem lyrischen Ich und einer geliebten Person mithilfe von Naturdarstellungen und die damit verbundene Unvergänglichkeit der Liebe und des Gedenkens.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Jede Strophe verwendet ein anderes Bild, um die Liebe und Sehnsucht auszudrücken. Die geliebte Person und das Gefühl zu ihr werden mit den vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter sowie verschiedenen Naturszenarien und -erlebnissen in Verbindung gebracht, was die tiefe Verbindung, die das lyrische Ich zu seiner geliebten Person sowie auch zur Natur hat, verdeutlicht.
- In der ersten Strophe kreisen die Gedanken des lyrischen Ichs um die geliebte Person, inspiriert von der Schönheit des Frühlings, wenn die Blüten die Landschaft schmücken oder der Sommerregen auf die reifen „Ähren“ (V. 4) fällt (Vgl. V. 1-4).
- Auch wenn Himmel und Meer zu verschmelzen scheinen (Vgl. V. 5, V. 6) und das Ufer dem Wellenschlag trotzt (Vgl. V, 7, V. 8), wenn der Tag im Licht des goldenen Morgens erwacht (Vgl. 9) und der Tau auf den Knospen schwebt (Vgl. V. 11, 12), ist die geliebte Person präsent. Das Bild des „Weltmeer[s]“ (V. 5) vermittelt eine Atmosphäre von Gewalt und Erhabenheit, während „das Ufer stöhnend zurückebebt“ (V. 7, 8), was auf eine gewisse Erschütterung oder Verletzlichkeit hinweist. Diese Bilder illustrieren die Intensität der Bindung zwischen dem lyrischen Ich und der geliebten Person. Die Darstellung des „junge[n] Tag[es]“, der sich „golden der See enthebt“ (V. 9, V. 10), sowie des „Frühtau[es]“ (V. 12), der über den „neugebornen zarten Blütendolden“ (V. 11) schwebt, repräsentieren Erneuerung, Schönheit und Frische, die in Verbindung mit der Person stehen, an die sich das lyrische Ich erinnert. Man könnte meinen, dass die geliebte Person dem lyrischen Ich Kraft für einen Neubeginn und Hoffnung schenkt.
- Außerdem denkt der lyrische Sprecher in den rötlichen abendlichen Schleiern (Vgl. V. 13, V. 14), beim Gesang der Nachtigall (Vgl. V. 15), der „die Seele [be]rührt“ (V. 16), wenn der Herbst die Menschen mit seinem bunten Blätterkleid grüßt (Vgl. V. 17, V. 18) und das Jahr „in seines Schneegewandes Glanze“ (V. 19) schließlich endet, an seine Person. Das „rötend[e]“ Abendlicht erzeugt eine Atmosphäre von Wärme und Geborgenheit. Der berührende Gesang der Nachtigall könnte im übertragenen Sinne für die tiefe emotionale Verbindung zwischen dem lyrischen Ich und seinem geliebten Menschen stehen. Die Assoziation der geliebten Person mit dem Ende des Jahres zeigt außerdem auf, dass die geliebte Person auch in Momenten der Veränderung und des Abschlusses im Bewusstsein des lyrischen Ich präsent bleibt.
- Das lyrische Ich erkennt seine geliebte Person außerdem am Ufer einer Quelle im Hain (Vgl. V. 21, V. 22) wieder. Die Erwähnung des „leichten Erlenschatten[s]“ (V. 21) weist auf die sanfte, schützende Umgebung hin, die ein Gefühl von Ruhe und Frieden vermittelt. Die Zeile „Schnell ist der Wald, schnell sind die Blumenmatten / Mit Glanz erfüllt“ (V. 23, V. 24) beschreibt die Lebendigkeit und Schönheit der Natur, die das Bild der geliebten Person umgibt.
- In den letzten beiden Strophen wird betont, dass das lyrische Ich auch in Zeiten des Leidens und der Einsamkeit und selbst im Angesicht des Todes an die geliebte Person denken wird. Das lyrische Ich fleht die geliebte Person an, selbst in den dunkelsten Stunden nahe zu sein und sie nicht zu vergessen (Vgl. V. 27, V. 28). Die Zypresse ist ein Symbol für Trauer und Ewigkeit und vermittelt den Eindruck, dass die Erinnerung an die geliebte Person über den Tod hinaus bestehen wird. Generell erzeugen die letzten beiden Strophen auch durch den kurzzeitigen Zeitwechsel in den Versen 26 und 27 eine melancholische und wehmütige Stimmung. Schließlich wird in der letzten Zeile der Wunsch ausgedrückt, dass selbst im Strom des Vergessens (Vgl. V. 31) der Name der geliebten Person „blüh[e]n“ (V. 32) soll. Und dass die Erinnerung selbst dann bestehen bleibt, wenn das lyrische Ich und seine Erinnerungen allmählich verblassen.
- Wie die Natur im Winter ihre Blüten verliert und sich in eine Phase der Stille und des Rückzugs begibt, so endet auch das Leben eines Menschen mit dem Tod. Diese Parallele zwischen der Natur und dem menschlichen Leben betont die Zyklen des Lebens und unterstreicht die Vergänglichkeit aller Dinge.
- Die Natur wird im gesamten Gedicht als Kulisse für die inneren subjektiven Gedanken und Gefühle des lyrische Ichs in Bezug auf die geliebte Person verwendet, was typisch für die Romantik ist. Zu den gängigen Themen der Romantik zählen die Liebe, Sehnsucht, Natur und Endlichkeit des Lebens.
- Das Gedicht ist in acht Strophen mit jeweils vier Versen unterteilt. Es existiert einem jambischen Versmaß, wobei der Rhythmus nicht streng eingehalten wird. Das Reimschema des Kreuzreims ist ebenfalls stellenweise unregelmäßig.
- Die Verwendung verschiedener Zeitformen bzw. der Wechsel zum Präteritum („Gedacht’“ (dachte), V. 26; „flehte“, V. 27) spiegelt die verschiedenen Aspekte der Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und der geliebten Person wider: die zeitlose Verbundenheit im Hier und Jetzt sowie die Hoffnung auf Unvergessenheit über den Tod hinaus.
- Die im Gedicht durchgehend verwendeten Enjambements (z. B. zwischen V. 1 und 2, V. 5 und 6, V. 9 und 10, V. 13 und 14) verleihen dem Gedicht eine fließende und melodische Qualität und korrespondieren auf inhaltlicher Ebene mit der Kontinuität und Beständigkeit der Sehnsucht und Liebe.
- Symbole wie der goldene Tag (Vgl. V. 9) oder die „wehende[n] Zypressen“ (V. 29) werden verwendet, um bestimmte Gefühle oder Ideen zu vermitteln, wie z. B. Hoffnung oder Ewigkeit.
- Mehrfach wird die Natur im Gedicht personifiziert, indem sie Handlungen oder Eigenschaften von Menschen erhält (z. B. „Der Frühling malt“, V. 2; das „stöhnend[e]“ (V. 7) Ufer; die „bange Seele“ (Z. 27), der Sommer als Spender eines „mild gereifte[n] Segens“, V. 4), wodurch die tiefe Verbindung zwischen der Natur und dem lyrischen Ich betont wird.
- Außerdem wird bspw. der Frühling metaphorisch als Maler dargestellt (Vgl. V. 2), der „sich im Blütenregen“ (V. 1) ausdrückt, wodurch das Erblühen sowie die Schönheit und Lebendigkeit der Natur verstärkt wird. Insgesamt fungiert die Beschreibung des Jahreskreislaufs metaphorisch als menschlicher Lebenslauf.
- Die wiederholte Phrase „Ich denke dein“ (V. 1, V. 5, V. 13, V. 29) bzw. „Dein denk’ ich“ (V. 9, V. 17) betont die innige Verbundenheit, die das lyrische Ich zu seiner geliebten Person verspürt sowie die Beständigkeit und Unvergesslichkeit der Liebe, Sehnsucht und Erinnerung an die Person. Ebenfalls wird dem Gedicht dadurch Rhythmus und die Struktur verliehen und eine Verbindung zum gleichnamigen Titel geschlossen. Dadurch wird das Hauptthema des Gedichts, das Erinnern, deutlich.
- Die verwendeten Ausrufe und Ausrufezeichen (z. B. „ach!“, V. 21; „Winkt mir dein Bild!“, V. 22; „Gedacht’ ich dein!“, V. 26) verdeutlichen die Intensität der Gefühle des lyrischen Ich und damit die emotionale Tiefe und Dringlichkeit des Gedichts.
Schluss
- Insgesamt offenbart das Gedicht eine tiefgreifende Sehnsucht und Liebe des lyrischen Ich zur geliebten Person, die durch die Verwendung von Naturbildern auf poetische Weise vermittelt wird.
- Die geliebte Person spendet Trost und Kraft in allen Momenten des Lebens. Ebenfalls wird die Unvergänglichkeit dieser Liebe verdeutlicht. Das Gedicht zeigt damit nicht nur die poetische Kraft der Natur, sondern auch die zeitlose Kraft der Liebe und Erinnerung.
- Darüber hinaus werden typisch romantische Motive wie die Verbundenheit mit der Natur, die Betonung der Individualität des lyrischen Ich und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit der Liebe sichtbar. Ein ähnliches Gedicht stammt von Joseph von Eichendorff. Es lautet An die Entfernte und beschreibt ebenfalls die für die Romantik typische Sehnsucht und das innige Erinnern an eine abwesende Person mithilfe von Naturmetaphern.